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Countdown in Las Vegas Ost

Rumänien bietet vor dem geplanten EU-Beitritt dem Großkapital beste Bedingungen – wenn nur die Korruption nicht wäre

Von Ingolf Bossenz*

Bukarest ist eine Metropole der Superlative. Der Parlamentspalast ist – nach dem Pentagon in Washington – das zweitgrößte Gebäude der Welt. Die auf ihn zuführende Prachtallee übertrifft die Pariser Champs-Élysées in der Breite um vier Meter und in der Länge um einen Kilometer. Zudem kann die rumänische Hauptstadt bei Zahl und Vielfalt ihrer Spielcasinos wohl mit Las Vegas konkurrieren.

Während Palast und Allee Auswüchse der Gigantomanie des bis Ende 1989 herrschenden »Conducators« (Lenker) Nicolae Ceausescu sind, zeugen die Spielhöllen von den wilden Zeiten des postrevolutionären Casino-Kapitalismus. Vor allem Touristen aus der Türkei und aus Israel lassen bei Roulette, Black Jack oder an den Slot Machines den Dollar rollen.

»Geldwäsche« – das ist für den aus Rumänien stammenden Vertreter einer deutschen Bank in Bukarest der Hauptzweck dieser Zocker-Zentren. Ein Verdacht, der durchaus kompatibel ist mit dem jüngsten Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission für Rumänien. Darin wird bemängelt, dass die für den angestrebten EU-Beitritt am 1. Januar 2007 (gemeinsam mit Bulgarien) notwendige Übernahme der EU-Gesetze zu wünschen übrig lässt. Vor allem der Kampf gegen die Geldwäsche müsse stärker beachtet werden. In den Medien des Landes spielt dieses Problem kaum eine Rolle. Den offensichtlichen Grund dafür konnte man im Brüsseler Fortschrittsbericht vom vorigen Jahr lesen: »Zahlreiche Medienunternehmen können sich wirtschaftlich nicht selbst tragen, so dass ihre Existenz in die Abhängigkeit von politischen oder kommerziellen Interessen geraten kann.« Der rumänisch-deutsche Banker sagt es knapper: »Die Medien sind käuflich.«

Dass dies nicht nur Zeitungen und Sender betrifft, macht den Regierenden in Bukarest, in deren politischem Kalkül das EU-Beitrittsdatum zum Über-Ziel »ohne einen Plan B« avanciert ist, schwer zu schaffen. »Rumänien hat ein großes Glaubwürdigkeitsproblem, und das heißt Korruption«, räumt Staatspräsident Traian Basescu gegenüber einer Gruppe deutscher Journalisten ein, die auf Einladung der EU-Kommission Rumänien besucht. Die entsprechenden Ministerien sind fieberhaft bemüht, den durch Transparency International ermittelten »Korruptionswahrnehmungsindex« von 85 (Deutschland: 16) zu drücken, bei dem Rumänien gleichauf mit der Mongolei und der Dominikanischen Republik liegt. So hat das Innenministerium ein Allgemeines Antikorruptionsdirektorat geschaffen, das unmittelbar dem Minister untersteht. Und im Justizressort versucht die neue parteilose Ministerin Monica Macovei, mittels einer Nationalen Antikorruptionsbehörde den Verfilzungen innerhalb der staatlichen Organe beizukommen.

Es bleibt der Eindruck, dass die allgegenwärtige Korruption dem politischen Establishment derzeit erheblich mehr Sorgen bereitet als die Folgen der verheerenden Flutkatastrophe dieses Jahres oder der im Gefolge von Vogelgrippe-Fällen von der EU verhängte Importstopp für rumänisches Geflügel. Denn die weit verbreitete Bakschisch-Praxis unterminiert nicht zuletzt den ökonomischen Sektor und dessen rechtliche Grundierung. Die Warnung aus Brüssel: Sollte die Korruption »auf dem bisherigen Niveau« verharren, könnten der EU-Binnenmarkt und die von der Union finanzierten Programme nicht korrekt funktionieren. Spricht man mit deutschen Investoren in Rumänien, so verweisen sie darauf, dass dort »der Wettbewerb noch nicht voll entwickelt« sei. Wer erfolgreich bestehen wolle, komme nicht umhin, die »kulturell bedingten Netzwerke« entsprechend zu berücksichtigen. Für Dirk Rütze, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer in Bukarest, sind das allerdings eher Kinderkrankheiten einer jungen Marktwirtschaft. Gegenüber der Zeit von 1990 bis 2000, in der sich Rumänien – so Rütze – in einem »ausgesprochen strubbeligen Zustand« der Investitions- und Rechtssicherheit für ausländisches Kapital befunden habe, gebe es sichtbare Fortschritte.

In der Tat bemüht sich besonders die seit Dezember 2004 amtierende rechtsliberale Regierung unter Premier Calin Popescu-Tariceanu, in enger Absprache mit der EU umfassende Privatisierungen der Wirtschaft, Steuersenkungen und Sozialabbau voranzutreiben.

Eine der ersten Maßnahmen des Kabinetts war die Einführung einer einheitlichen Besteuerung aller Einkommen mit 16 Prozent (Spitzensteuersatz davor: 40 Prozent). Auch die bis dato 25-prozentige Besteuerung von Unternehmensgewinnen sank auf 16. Handelskammer-Vorstand Rütze nennt die Flat-Tax einen »Segen für dieses Land«. Wohl eher für die in Rumänien aktiven Großkonzerne wie – um bei deutschen zu bleiben – Siemens, Metro, Hypovereinsbank, Continental, RWE, E.ON oder Ruhrgas. Denn selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisiert jetzt, die Politik der Regierung in Bukarest sei ungeeignet, die volkswirtschaftlichen Probleme zu beherrschen. Ausdrücklich nennt der IWF in diesem Zusammenhang die 16-Prozent-Einheitssteuer auf Gewinne und Einkommen, die dazu geführt habe, dass die Staatseinnahmen um eine Milliarde Euro gefallen seien.

Neben dem Steuer-»Paradies« sind Billigarbeit und Sozialdumping wie bei der vorangegangenen Etappe der EU-Osterweiterung die wichtigsten Verlockungen für das Kapital. Mit rund 1,50 Euro pro Stunde betragen die Arbeitskosten in Rumänien knapp ein Drittel im Vergleich zu den im Mai 2004 beigetretenen Staaten. Auf 145 Euro beläuft sich offiziell das Durchschnittseinkommen – bei Verbraucherpreisen, die, wie beim Benzin, oft nicht weit von deutschen entfernt sind. Dem entsprechen die Sozialstandards. Da bei Krankheit die ersten zwei Tage »lohnfrei« bleiben, tendiert der Krankenstand gegen null. Dirk Rütze nennt dieses Druckmittel einen »Weg, der hohe Produktivität und Verlässlichkeit des Personals erzeugt«.

Angeheizte Inflation als Folge der Steuergeschenke für das internationale Großkapital, die von der EU geforderte beschleunigte Handelsliberalisierung, der Abbau so genannter Überkapazitäten in Bergbau und Stahlindustrie (allein in diesen Bereichen sollen rund 50 000 Arbeitsplätze vernichtet werden) – die meisten der 22 Millionen Einwohner des agrarisch geprägten Landes werden sich wohl kaum auf der Straße des Sieges wiederfinden. Was in diesem Falle auch durchaus wörtlich zu nehmen ist: Die Straße des Sieges – Calea Victoriei – in Bukarest wird nämlich beherrscht von den teuersten Geschäften der Hauptstadt.

Wer sich mit seinen bescheidenen Einkünften bei Versace, Escada, Armani oder Esteé Lauder fehl am Platze fühlt, hat immer noch die Möglichkeit, Trost bei der stets präsenten Kirche zu suchen. Trotz massiver Glaubensunterdrückung durch das Ceausescu-Regime gehören rund 90 Prozent der Bevölkerung des Landes der Rumänischen Orthodoxen Kirche an, die damit nach der russischen die zweitgrößte orthodoxe Kirche der Welt ist. Über tausend fertig gestellte oder in Errichtung befindliche Kirchenneubauten zeugen von der religiösen Renaissance. Auch Präsident Basescu, einst Mitglied der Rumänischen KP, ließ sich nach seiner Vereidigung von Patriarch Teoctist segnen.

Für politische Irritationen innerhalb der Europäischen Union könnte eher ein anderes »Glaubensbekenntnis« der rumänischen Staatsspitze sorgen. Gegenüber den deutschen Journalisten verweist Präsident Basescu darauf, dass er die EU als eine »Struktur mit starken transatlantischen Bindungen« sehe. Im Klartext: Ohne die USA geht nichts. Erst dieser Tage versicherte Bukarest, seine knapp 900 Soldaten vorerst nicht aus Irak abziehen zu wollen. Die USA gewähren Rumänien reichlich Militärhilfe und bauen ihre Basen an der Schwarzmeerküste aus.

Mehr als dieses militär-politische Engagement des südosteuropäischen NATO-Landes dürfte Europas Konzerne und ihre Brüsseler Interessenvertretung allerdings die unliebsame Konkurrenz auf wirtschaftlichem Gebiet stören. So hatte bereits die Auftragsvergabe der vorigen rumänischen Regierung für einen groß angelegten Autobahnbau an den US-amerikanischen Bechtel-Konzern für Unmut gesorgt. Brüssels Warnungen, dass solche Ignoranz gegenüber EU-Interessen den Beitrittstermin Rumäniens gefährden könnte, sind wohl eher das Peitschenknallen eines verärgerten Zuchtmeisters. Denn wenn das korruptionsgeplagte Karpatenland erst einmal fest in den Ketten des EU-Binnenmarktes hängt, verbessern sich natürlich auch die Konkurrenzbedingungen der europäischen Großunternehmen. Die Uhr, die im Zentrum von Bukarest die verbleibenden Tage bis zum Beitritt zählt, ist zu weit vorangeschritten, als dass Brüssel sie noch zurückdrehen könnte. Gestern zeigte sie die Zahl 410.

* Aus: Neues Deutschland, 18. November 2005


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