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Kagame regiert das Land wie eine Militäreinheit

Ruandas Präsident verträgt keine Opposition, sagt Gerd Hankel *

Gerd Hankel ist studierter Jurist und Sprachwissenschaftler. Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seit 2002 untersucht er den Völkermord in Ruanda, wobei er insbesondere die Arbeit der sogenannten Gacaca-Gerichte beobachtete und bewertete. Über die politische Lage rund um die Präsidentschaftswahlen am 9. August und 16 Jahre nach dem Völkermord sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.

ND: Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International werfen dem ruandischen Präsidenten Paul Kagame vor, jede Opposition mit dem Vorwurf der »Völkermordideologie« zu ersticken. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Hankel: Ja, der Vorwurf ist berechtigt. Politische Opposition, die diesen Namen wert ist, gibt es in Ruanda nicht – schon seit Jahren nicht. Seit die potenzielle Opposition größeren Anklang innerhalb der Bevölkerung findet, hat die Repression noch zugenommen und ist sehr, sehr hart.

Ist das Vorgehen Kagames nicht zumindest in Teilen verständlich? Victoire Ingabire, deren Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen verhindert wurde, werden Kontakte zu den FDLR-Hutu-Milizen nachgesagt, in deren Reihen sich viele Völkermörder von 1994 befinden. Bis heute versucht die FDLR aus der Demokratischen Republik Kongo heraus, die Regierung Kagame zu stürzen.

Die Lage ist komplex, das macht die Kritik an Kagames Vorgehen so schwierig. Natürlich kann er mit einiger Überzeugungskraft sagen, ein Land mit der Geschichte Ruandas, mit den weit über einer Million Toten infolge von Krieg, Bürgerkrieg, Völkermord, muss ganz besonders sensibel sein, wenn es darum geht, das Land neu aufzubauen. Sicher muss aufgepasst werden, wo Gefahr für die Stabilität droht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich verstehe jeden Ruander, der sagt: Ich möchte alles haben, bloß nicht wieder einen Massenmord, wie wir ihn erlebt haben. Auf der anderen Seite ist das ein Argument, das tendenziell alles zu rechtfertigen vermag. Das macht es so gefährlich.

Und der konkrete Fall Ingabire?

Ihr, die lange in den Niederlanden im Exil gelebt hat, kann man vorwerfen, dass sie überhaupt nicht mehr auf dem Laufenden darüber war, was in Ruanda passiert ist. Mit dieser Unkenntnis ist sie in ein offenes Messer gelaufen. Das hat es möglich gemacht, dass man diesen FDLR-Vorwurf gegen sie gemünzt hat. Auf der anderen Seite muss aber in Erwägung gezogen werden, dass Ruanda ein für die Region sehr stabiles Land mit einer extrem schlagkräftigen Armee ist.

Aus dieser Position heraus wäre es für die Regierung Kagame dringend angeraten, den ersten Schritt zu tun, um den Konflikt mit der FDLR beizulegen. Bisher werden die Hürden für eine Rückkehr der FDLR-Kämpfer extrem hoch gelegt, indem man sie alle pauschal als Völkermörder bezeichnet.

Kagame hat beachtliche Entwicklungserfolge vorzuweisen. Ruanda gilt wirtschaftlich als afrikanischer Musterstaat. Selbst wenn ausgewiesene Oppositionskandidaten wie Victoire Ingabire an den Wahlen teilgenommen hätten, wäre Kagame allen neutralen Beobachtern zufolge wiedergewählt worden, wenn auch nicht mit 95 Prozent wie 2003. Fehlt es ihm an Demokratieverständnis?

Absolut. Er ist überzeugt davon, dass er recht hat, besessen von der Idee, recht zu haben. Und er ist kein Politiker, das vergisst man allzu leicht. Kagame ist gelernter Militär. Er war über Jahre hinweg im benachbarten Uganda unter Yoweri Museweni Geheimdienstchef und hat dafür gesorgt, dass Museweni an die Macht kam und Milton Obote vertreiben konnte. Er denkt nicht langfristig in politischen Kategorien, sondern militärisch. Und so regiert er auch das Land, wie eine große militärische Einheit. Das geht nach Befehl und Gehorsam. Und dazu gehört, dass man irgendwie spurt, und das verträgt keine Opposition. Das erklärt die vergangenen Wahlergebnisse und die überaus große Nervosität, mit der auch nur leiseste Opposition beobachtet und verfolgt wird.

Nach dem überwältigenden Wahlsieg 2003 hofften Beobachter, dass eine Demokratisierung einsetzen würde. Die ist ausgeblieben. Als ein wesentlicher Grund für Bürgerkrieg und Völkermord in den 90ern wurden die Demokratiedefizite der damaligen Hutu-Regierung ausgemacht. Läuft die jetzige Regierung Gefahr, unter anderen Vorzeichen eine ähnliche Entwicklung heraufzubeschwören, auch wenn Ethnizität im Diskurs Kagames bewusst vermieden wird?

Es gibt in der Tat sehr viele Menschen in Ruanda – und nicht nur unter den Hutu –, die sagen, dass die Parallelen zwischen dem Kagame-Regime und dem früheren Regime von Juvénal Habyarimana frappierend sind, was die Demokratiedefizite anbelangt. Das Habyarimana-Regime war vor dem Völkermord im Amt und praktizierte einen Hutu-Extremismus. Kagame ist es seit 1994 nicht gelungen, Ruanda zu einer Nation mit kritischen Menschen zu machen, die hinterfragen, ob das alles so richtig ist, was von oben kommt. Es gibt kein Klima der Meinungsfreiheit, des offenen Diskurses. Ich wage zu bezweifeln, dass sich daran nach dem neuerlichen Wahlsieg Kagames etwas ändert.

Droht Ruanda Instabilität?

Das ist zu befürchten. Die eigentlichen Probleme des Landes, nämlich die unterschiedliche Entwicklung in ökonomischer Hinsicht zwischen Stadt und Land und die steigende Armut auf dem Land – und da leben über 90 Prozent der Ruander – und der Wohlstand in der Stadt, der sich in den Händen Weniger konzentriert, werden nicht gelöst. Sie könnten über kurz oder lang das Land destabilisieren. Das ist die große Gefahr. Es wird große Probleme geben, wenngleich keinen neuen Völkermord.

Inwieweit ist der Genozid von 1994 juristisch aufgearbeitet?

Auf internationaler Ebene gibt es das UN-Tribunal zur Aufarbeitung des Völkermordes in Ruanda im tansanischen Arusha. Dieses Gericht soll 2011 auslaufen und kümmert sich um die größten Fische. Auf nationaler Ebene haben die traditionellen Gacaca-Gerichte inzwischen ihre Arbeit nach etwa 1.4 Millionen Verfahren eingestellt. Ob damit ein Grundstock gelegt wurde, dass es irgendwann zu einer Versöhnung kommen wird, ist fraglich. In diesen Verfahren kam nur eine einzige Wahrheit zur Sprache, das ist die offizielle Wahrheit, so wie sie von der Regierung erzählt wird. Die Mehrheit der Ruander hat allerdings eine andere Wahrheit, was Genese des Krieges, des Bürgerkrieges und auch des Völkermords anbelangt, ohne diesen Völkermord in Abrede zu stellen. Viele Hutu beklagen, dass ihre Toten überhaupt nicht thematisiert werden. Und wenn jetzt eine Seite nur das eigene Leid beklagen kann, die andere Seite aber zum Schweigen gezwungen ist, dann ist das für eine Versöhnung nicht die beste Voraussetzung.

Zahlen und Fakten - Land der tausend Hügel

Ruanda ist ein kleiner Binnenstaat südlich des Äquators im Übergangsgebiet von Ost- nach Zentralafrika in der Region der Großen Seen mit inzwischen rund 10 Millionen Einwohnern, wovon fast eine Million in der Hauptstadt Kigali lebt. Aufgrund seiner Topografie wird Ruanda auch die Schweiz Afrikas oder das Land der tausend Hügel genannt. Ruanda ist der am dichtesten besiedelte Staat des afrikanischen Festlands. 85 Prozent der Bevölkerung sind Hutu, 14 Prozent Tutsi und 1 Prozent Twa-Pygmäen – allesamt gehören sie zur Ethnie der Banyarwanda.

Hutu sind ein mehrheitlich bäuerliches Bantuvolk, Tutsi ein nilotisches Volk und idealtypisch Viehzüchter oder Händler, Twa sind sozial marginalisierte Pygmäen und meist Jäger. Da viele Banyarwanda sowohl von Hutu als auch von Tutsi abstammen, entscheidet oft nur die soziale Stellung über die Einordnung als »Hutu« oder »Tutsi«. Die Konflikte zwischen Ackerbauern (»Hutu«) und Viehzüchtern (»Tutsi«) um Landbesitz und soziale Dominanz eskalierten 1994 zum Völermord, der innerhalb von 100 Tagen zwischen April und Juli über 800 000 Todesopfer forderte, darunter bis zu 80 Prozent der einheimischen Tutsi, aber auch viele tausende Hutu.

Teil der heutigen Staatsphilosophie ist es, die alten ethnischen Gegensätze zu verdrängen. »Wir alle sind Ruander«, lautet die Maxime.« ND



* Aus: Neues Deutschland, 9. August 2010


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