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Am Wendepunkt

Jahresrückblick 2011. Heute: Rußland. Massenproteste machen Brüchigkeit des politischen Systems deutlich

Von Werner Pirker *

Am 31. Dezember 1991 hörte die UdSSR völkerrechtlich auf zu existieren. Bereits am 25. Dezember war die auf dem Moskauer Kreml wehende rote Fahne der Sowjetunion zum letzten Mal eingeholt worden. Das Ende des sozialistischen Imperiums wurde am 6. Dezember von den drei »Slawenfürsten« Boris Jelzin (Russische Föderation), Leonid Krawtschuk (Ukraine) und Stanislaw Schuschkewitsch (Belarus) in einem Wald nahe der belorussischen Hauptstadt Minsk mit der Ausrufung einer dann nicht vollzogenen »Slawischen Union« faktisch besiegelt. Die anderen Sowjetrepubliken – mit Ausnahme der baltischen und Georgiens, die sich als bereits aus der UdSSR ausgetreten betrachteten – wollten sich nicht ungefragt ihrer sowjetischen Heimat enteignen lassen und erzwangen eine Konferenz in der damaligen kasachischen Hauptstadt Alma-Ata, auf der am 21. Dezember die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beschlossen wurde.

Aufgebrachte Bürger

Zwanzig Jahre nach dem Ende der UdSSR als Staat und als politisches System finden im kapitalistisch restaurierten Rußland Großdemonstrationen statt, die stark an die antikommunistische Mobilisierung in der Endphase der Sowjetmacht erinnern. Es ist annähernd das gleiche Protestmilieu wie in den Jahren 1989–1991, das sich gegenwärtig in russischen Großstädten sammelt: Angehörige der gebildeten, politisierten Schichten. Damals mobilisierte die Bewegung Demokratisches Rußland zum Sturz der »Partokratie«, das Gros der Demonstranten von heute sieht in Putins Langzeitherrschaft eine strukturelle Fortsetzung des KPdSU-Regimes. Doch es ist kein reines Deja-vu-Erlebnis. Im Protest gegen den Putinismus sind die Antagonisten von damals – Liberale und Kommunisten – vereint. Laut einer Umfrage treten 70 Prozent der Demonstranten für eher liberale Werte ein, 20 Prozent folgen linken Vorstellungen, und fünf Prozent vertreten extrem nationalistische, xenophobe Ansichten.

Es ist eine Bewegung aufgebrachter Bürger, keine des Volks. Die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen lassen den russischen »Wutbürger« weitgehend kalt. Dessen Streben nach politischer Emanzipation wiederum interessiert die Masse der Subalternen nicht. Soziale Forderungen waren bei den Dezemberkundgebungen so gut wie nicht zu vernehmen. Sie zu erheben würde bedeuten, die Massenbasis des Protestes einzuengen, argumentieren die liberalen Veranstalter der Kundgebungen. Der linke Publizist Boris Kagarlitzki hält dem entgegen, daß an den beiden Protesttagen im Dezember landesweit jeweils an die 250000 Menschen teilgenommen haben, während es 2005 zweieinhalb Millionen gewesen seien, die gegen den Sozialabbau auf die Straße gegangen waren.

Der russische Liberalismus ist auch als Sachwalter der Demokratie äußerst unglaubwürdig. In der liberalen Jelzin-Ära wurde der authentische russische Parlamentarismus in Gestalt des Obersten Sowjets, der das Widerstandszentrum gegen die wilde Privatisierung gebildet hatte, zerschlagen und durch die Staatsduma, ein Parlament ohne Machtbefugnisse, ersetzt. Die präsidiale Selbstherrschaft setzte die Bereicherungsanarchie frei, die alle Grundlagen einer zivilisierten Staatlichkeit zersetzte. Während der Präsidentschaft Wladimir Putins, der die autoritären Elemente der Jelzinschen Verfassung zur »Machtvertikale« perfektionierte, konnte der Staatszerfall immerhin aufgehalten werden.

Die Proteste gegen die Wahlmanipulationen erfolgen nicht aus Jux und Tollerei. Sie sind Ausdruck einer Unzufriedenheit, die sich über Jahre in der Gesellschaft angesammelt hat, was sich dann auch im Abstimmungsergebnis niederschlug. Die Parlamentswahlen, denen man eigentlich nur eine Testfunktion für die des Präsidenten zumaß, hatten den Ansehensverlust der Regierungspartei Einiges Rußland deutlich gemacht. Daß sie in breiten Bevölkerungskreisen als »Partei der Diebe und Betrüger« wahrgenommen wird, zeugt von einem dramatischen Stimmungsumschwung. Beruhte doch Putins Popularität vor allem auf seinem Ruf als Rächer der Korruptionsgeschädigten, der der Herrschaft des Rechts Geltung verschafft habe.

Dazu kommt, daß die mit Putin in Verbindung gebrachte Stabilisierung die Hierarchie der Wertigkeiten nicht mehr unangefochten anführt – zumal die erreichte Festigung zunehmend mit Stagnation in Verbindung gebracht wird. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß der als Kreml-Ideologe gehandelte Wladislaw Surkow kürzlich ein Hohelied auf die Breschnew-Ära anstimmte, die zwar als Stagnationsperiode unrühmlich in die Geschichte eingegangen ist, in der kollektiven Erinnerung aber auch als eine Zeit relativen Wohlstands gilt.

Soziale Regression

Bei aller Wertschätzung, die der Faktor Stabilität in der russischen Gesellschaft nach wie vor genießt, wird der Stillstand, ja die Regression in der sozialen Entwicklung zunehmend als drückend empfunden. 2011 betrug der Einkommenszuwachs der Bevölkerung nur ein bis zwei Prozent – bei einer Inflation von über sechs Prozent. Die Schere zwischen Arm und Reich ist noch weiter aufgegangen. Vor allem die Rentner fristen ein Dasein knapp am und oft unter dem Existenzminimum. Auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge und der Bildung hat die Privatisierungsoffensive einen Zivilisationsbruch bewirkt. So ist geplant, Schulfächer wie Mathematik oder Literatur aus dem normalen Lehrplan herauszunehmen und sie gegen Zahlung einer Sondergebühr anzubieten.

Daß auf den Plätzen Moskaus und St. Peterburgs nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen die Staatsmacht herausfordern, sondern Zehntausende ihren Wunsch nach Veränderungen äußern, läßt auf tiefere Ursachen des gesellschaftlichen Unmuts schließen. Auch wenn sich bei den Kundgebungen der soziale Protest noch nicht unmittelbar bemerkbar macht, dürfte er die eigentliche Triebkraft des Aufbegehrens werden. Ein Wendepunkt in der Geschichte des postkommunistischen Rußlands könnte der 24. September 2011 gewesen sein, als auf dem Parteitag von Einiges Rußland die Personalrochade an der Staatsspitze verkündet wurde. Präsident Dmitri Medwedew soll den Premierministerposten übernehmen, Premier Putin wieder als Präsident kandidieren. Nichts hat die Mechanismen der gelenkten Demokratie, in der »demokratische Prozeduren« zu bestätigen haben, was längst entschieden ist, mehr bloßgestellt als dieser clowneske Parteitagsauftritt des Führungsduos. Damit war das Spiel mit verteilten Rollen aufgeflogen und Medwedew als Hoffnungsträger der Modernisierung und Liberalisierung demontiert. Das löste in den liberalen Salons Enttäuschung aus.

Die großen Stimmenverluste, die die herrschende Partei bei den Parlamentswahlen hinnehmen mußte, zeigen aber auch, daß der Konsens zwischen den Machteliten und der Bevölkerung bereits äußerst brüchig ist. So groß die Verdienste Putins bei der Eingrenzung der politischen Macht der Oligarchen auch gewesen sein mögen, am Wesen des bürokratischen Kapitalismus po russki hat sich nichts geändert. Er ist ein Kapitalismus der ganz besonders unsozialen Art geblieben.

Auch wenn die Führer der liberalen Opposition die soziale Frage ausklammern wollen, wird sich an ihr entscheiden, ob die Demokratiebewegung eine Zukunft hat. Eine wirkliche Demokratisierung kann nicht an den Basisschichten der Gesellschaft vorbei erfolgen. So wie die liberale Konterrevolution der 1990er Jahre in der gewaltsamen Ausschaltung der russischen Volksvertretung kulminierte, kann die Rückgewinnung der Demokratie nur über die soziale Emanzipation erfolgen. Das schließt ein Revival der liberalen Totengräber der Demokratie aus.

* Aus: junge Welt, 2. Januar 2012


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