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Tatarstan - Grundinformationen über eine russische Republik

Geschichte, Wirtschaft, Politik - Nationalismus?

Tatarstan gehört zu den wirtschaftlich bestentwickelten Republiken der Russischen Föderation. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind Erdölförderung und Erdgasgewinnung. Nahrungsmittel- und Textilindustrie sind ebenfalls von großer Bedeutung. Landwirtschaft nimmt eine zentrale Stellung ein: 65% der Fläche sind bebaut oder Weideland.
(wdr, Russisches Tagebuch, 13. August 2001)



Tatarstan auf einen Blick:
Das in Wolga (Föderationskreis) gelegene Tatarstan ist seit 1991 eine Republik im östlichen Teil des europäischen Russland. Tatarstan gilt innerhalb Russlands als besonders eigenständig. Tatarstan gilt als stabilisiertes De-Facto-Regime.

Grunddaten:
  • Fläche: 67 836km2
  • Einwohner: 3 772 800 (Stand 2001)
  • Hauptstadt: Kasan (Qazan)
  • Amtssprache: Tatarische Sprache, Russische Sprache
  • Staatschef: Mintimer Säymiev
  • Religion: überwiegend Islam, orthodox
    Bevölkerung
    Die Tataren sind ein Turkvolk und Nachfahren der Völker, die einst weite Teile des heutigen Russlands beherrscht haben.

    Geschichte
    Tatarstan war zu Zeiten der Sowjetunion eine Autonome Sowjetrepublik (ASSR). Mit Auflösung der UdSSR wurden Tatarstan weitreichende Autonomierechte eingestanden.

    Geographie
    Tatarstan liegt im gut erschlossenen Einzugsbereich von Wolga und Kama.

    Wirtschaft
    Tatarstan gilt als eine der reichsten Republiken Russlands. Es betreibt eine eigenständige Wirtschaftspolitik.

    Quelle: http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Tatarstan.html



    Tatarstan ist eine autonome Republik in der Russischen Föderation, ca. 800 km östlich von Moskau. Die Fläche beträgt rund 68 000 Quadratkilometer, die Einwohnerzahl liegt bei etwa 3,8 Millionen, davon ca. 74% in den Städten. Hauptstadt von Tatarstan ist Kazan, das mit etwa 1,1 Millionen Einwohnern auch größte Stadt der Republik ist. Knapp die Hälfte der Einwohner der Republik sind Tataren, 43 Prozent sind Russen. Zu den offiziellen Sprachen zählen Tatarisch (lokal) und Russisch. Die Tataren bekennen sich überwiegend zum Islam, die Russen sind orthodoxe Christen. Tatarstan liegt in der osteuropäischen Ebene und umfasst das Tiefland der mittleren Volga, die in diesem Bereich zum Samaraer Stausee aufgestaut ist. Etwa die Hälfte des Gebietes wird landwirtschaftlich genutzt; im Mittelpunkt steht dabei der Anbau von Getreide und Futterpflanzen. Darüber hinaus werden Rinder- und Pelztierzucht betrieben. Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist die Förderung von Erdöl und Erdgas, von denen Tatarstan große, zum Teil noch unerforschte Reserven hat. Kazan ist ein überregional wichtiger Industriestandort mit zahlreichen Produktionszweigen wie Flugzeugbau, Erdölverarbeitung und Textilindustrie. Das Verkehrsnetz ist gut entwickelt, wozu auch die Schifffahrt auf mehreren Flüssen (u.a. Volga und Kama) beiträgt.

    Mehr als 16% der Fläche ist von Wäldern bedeckt, die überwiegend aus Laubsorten wie Eichen, Linden oder Birken bestehen. Nadelwälder beinhalten Kiefern und Tannen. Die lokale Fauna ist durch 430 Wirbeltierarten repräsentiert. Das Klima ist gemäßigt-kontinental, manchmal gibt es Dürren. Die Durchschnittstemperatur im Januar ist -14°C, im Juli +19°C.

    Die Besiedlung des Gebietes Tatarstans begann bereits im Paläolithes, vor ca. 100.000 Jahren. Der erste Staat, das Reich der Volga-Bulgaren entstand um das Jahr 900 n. Chr. Im Jahre 922 wurde Islam zur Staatsreligion. Im 13. Jahrhundert wurde Volga-Bulgarien Teil des Reiches von Dschingis-Chan, später Teil der Goldenen Horde. Nach deren Zerfall entstand hier ein neuer Feudalstaat - das Chanat Kazan. Nach der Eroberung Kazans im Jahr 1552 durch die Moskowiter wurde das Chanat Kazan an das Russische Reich angegliedert. 1920 wurde die Tatarische ASSR gegründet, die nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 als Autonome Republik Tatarstan weiterbesteht. Das Ende des 20. Jahrhunderts eröffnete neue Möglichkeiten für die staatliche Entwicklung Tatarstans. Im Jahre 1994 wurde ein Abkommen zwischen der Russischen Föderation und der Republik Tatarstan über die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Staatsorganen der beiden Subjekte unterschrieben, das bis heute zusammen mit den beiden Verfassungen eine rechtliche Basis für das bekannte russisch-tatarische Verhältnismodell ist.

    Tatarstan besitzt 12 professionelle Theater, eine Philharmonie, mehrere Staatsorchester, eine Reihe Verlagshäuser, 88 staatliche Museen, 5 Nationalparks, 1700 Bibliotheken, 170 Zeitungen und 35 Zeitschriften. Zur Zeit wird die Restaurierung des Kazaner Kremls durchgeführt, der nicht nur ein administratives, sondern auch ein Museumskomplex werden soll.

    Die Republik besitzt ein sehr reiches Geschichts- und Kulturerbe. Das Zusammentreffen mindestens dreier Kulturkreise (des turktatarischen, des russisch-slawischen und des finno-ugrischen), sowie zweier Religionen (Islam und Christentum) definiert die Einzigartigkeit dieser Region, die Originalität ihrer Kultur und ihrer Werte.

    Quelle: http://alenos.piranho.de/regionen/tatarstan.htm

    Das Verhältnis zu Russland - Nationalismus?

    (...)
    1990 hat Boris Jelzin bei seinem ersten Besuch in Tatarstan als Präsident der RF seine berühmte Phrase gesagt: "Nehmt euch soviel Souveränität, wie ihr könnt". Damals hatte das allen gefallen, und Jelzin wurde für kurze Zeit der geliebte Präsident aller Tataren. 1992 wurde ein Referendum abgehalten, und Tatarstan wurde eine souveräne Republik innerhalb Russlands. Aber als die realen ökonomischen Veränderungen anfingen und Tatarstan aufhörte, Steuern an das Zentrum zu zahlen und begann, selbständig mit Erdöl zu handeln, da fand Jelzin, dass das Spiel mit der Souveränität Moskau teuer zu stehen komme. Es begannen die unendlichen Verhandlungen über die Kompetenzverteilung zwischen Russland und Tatarstan (Aussenhandel, Gerichte, Steuern, Budget, Erziehung, militärische Anlagen, etc.). Seitens der Nationalen setzten Anschuldigungen an Jelzin ein, er wolle Tatarstan zu einer Kolonie degradieren.

    Das Ergebnis der Streitigkeiten war die Unterzeichnung eines Vertrages über die Abgrenzung der Rechte und Kompetenzen zwischen Russland und Tatarstan im Jahr 1994; er ist seither das grundlegende Dokument bei der Lösung aller Streitfragen zwischen Moskau und Kasan.

    Als Moskau auf seiner Sicht der Dinge bestand, gingen bis zur Unterzeichnung des Vertrages Tausende auf die Strasse. Sie schrieen "Asatlik!", verbrannten die russischen Fahnen und zertrampelten das russische Wappen. Der Präsident Mintimer Schajmijew behinderte solche Demonstrationen nicht, da sie doch der Ausdruck "des Willens des tatarischen Volkes" waren. Nebenbei bemerkt bekamen die lokalen unabhängigen Zeitungen aus inoffiziellen Quellen andere Informationen: wem man wie und wieviel für die Organisation solcher Meetings bezahlte. Nach den Demonstrationen ging Moskau auf die geforderten Kompetenz-Zessionen (so bei der Ausbeutung der Erdölvorkommen) ein. Präsident Schajmijew konnte so politische Pluspunkte sammeln. (...)

    (...)

    Der Traum von der staatlichen Unabhängigkeit des tatarischen Volkes, die die Tataren vor ca. 450 Jahren nach der Eroberung des Kasaner Khanates durch den Zaren Johann IV den Schrecklichen verloren hatten, scheint nur ein ewiger Traum zu bleiben. Die Republik Tatarstan liegt mitten in Russland und hat keine gemeinsamen Grenzen mit anderen Staaten. Dennoch schwindet bei den Führern der nationalen Bewegung die Hoffnung nicht. Der erste Vorsitzende des ATGZ Marat Muljukow sagte dazu: "Falls sich unser Volk wirklich eint und seine Unabhängigkeit fordert, wird uns das Nichtvorhandensein eines unabhängigen angrenzenden Staates nicht aufhalten können. Schliesslich haben wir den Fluss Wolga, und der mündet ins Kaspische Meer. Wir können die Grenze dem Fluss entlang ziehen." (...)

    Quelle: Auszüge aus "Nationalismus in Tatarstan - Mythos oder Realität?" Ein Artikel von Alexej Djomin, Kasan. (7. August 2001)
    Im Internet: http://www.cosmopolis.ch/cosmo28/tatarstan.htm (Abruf: 11.10.2004)




    Raoul Motika: Entwicklungstendenzen des Islams in Tatarstan

    Abstracts / Zusammenfassungen der Vorträge Islamwissenschaft; XXVIII. Deutscher Orientalistentag, Bamberg, März 2001

    Unter der Zarenherrschaft entsprangen dem tatarischen Islam innovative Neuerungsbewegungen mit großer Ausstrahlungskraft. Diese Entwicklung wurde während der Sowjetherrschaft brutal unterbrochen. Ab den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Rahmenbedingungen für alle Religionen im sowjetischen Raum grundlegend. Dies galt besonders für den Islam, da neben einem enorm gewachsenen Interesse an Religion, "Ethnogenese" und Nationalgeschichte, nun auch wieder die gekappten Verbindungen in die außersowjetische islamische Welt aufgebaut werden konnten. Entgegen den Wünschen vieler (säkularisierter) tatarischer Intellektueller war es allerdings kaum möglich, wieder an die Neuerungsbewegungen der Vergangenheit anzuknüpfen. Die islamischen "Aktivisten", sowohl diejenigen aus den sowjet-islamischen Strukturen wie auch die "Neumuslime", müssen sich jetzt in einer fast gänzlich säkularisierten Gesellschaft bewegen, die Religion zwar durchaus als sinnstiftendes Element des postsowjetischen Lebens ansieht, aber einen gänzlich anderen Hintergrund als die traditionalistische tatarische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bildet.

    Der postsowjetische Islam stand also in Tatarstan - wie in den meisten anderen postsowjetischen Gesellschaften - vor einem zweifachen Problem: Erstens muß für den Islam missioniert werden, d.h. religiöse Kenntnisse und schariatsgemäße Verhaltensweisen müssen bekannt gemacht und verbreitet werden. Zweitens müssen neue personelle und administrative Strukturen entwickelt werden, die diese Aufgaben bewältigen können und die die religiösen Bedürfnisse der bekehrten Bevölkerungsteile, vor allem was die "Übergangsriten" betrifft, erfüllen können.

    Da aus einer komplexen Gemengelage heraus nationalistische und islamische Bewegungen in Tatarstan weit enger miteinander verbunden sind als beispielsweise in Aserbaidschan, entwickelten sich mit der eigenständigen islamischen Verwaltung in Kazan auch bald republikseigene Strukturen. Diese standen was die Frage der Kontrolle über die neuentstandenen knapp 1.000 Moscheen betrifft in heftiger Konkurrenz mit den aus sowjetischer Zeit weiterexistierenden offiziellen Islam-Strukturen mit dem Möfti für das europäische Rußland und Sibirien in Ufa, der Hauptstadt der Republik Baschkortostans. Im Februar 1998 schlossen sich auf einem Vereinigungskongreß die meisten Moscheen Tatarstans der Kazaner Verwaltung an. Der "Nationalisierungsprozeß" schlägt sich auch im derzeit entstehenden islamischen Bildungssektor nieder, aus dem (auf staatlichen Druck hin) ausländische - meist arabische - Religions- und Arabischlehrer verdrängt werden. Inzwischen ist eine dritte Stufe erreicht, und zwar die Expansion der republikstatarischen islamischen Strukturen über die Landesgrenzen hinaus, was sich beispielsweise in der religiösen Anbindung tatarischer Gemeinden in anderen Teilen der Russischen Föderation an die Kazaner Religiöse Verwaltung oder in der Gründung einer Russischen Islam-Universität in Kazan ausdrückt.

    Der Vortrag basiert auf zwei mehrwöchigen Forschungsaufenthalten und der Auswertung breiter Literatur- und Zeitungsbestände aus Tatarstan.

    Stand 11. Februar 2001

    Im Internet: http://www.uni-bamberg.de/split/dot/kurz/Islamwissenschaft/Motika.htm




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