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Blutbad in Moskauer Metro: 38 Tote

Zwei Selbstmordattentäterinnen sprengten sich zur Hauptverkehrszeit

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Moskauer Metro sind am Montagmorgen (29. März) mindestens 38 Menschen getötet worden, über 60 wurden verletzt.

Zwei Selbstmordattentäterinnen sprengten sich in der U-Bahn im Zentrum der russischen Metropole zur Hauptverkehrszeit. Um 7.56 Uhr Ortszeit (5.56 Uhr MESZ) explodierte ein Sprengsatz an der Haltestelle Lubjanka, die gegenüber der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB liegt. Von dort aus werden maßgeblich die Aktionen gegen die Rebellen in der Konfliktregion Nordkaukasus geplant. Nur 44 Minuten später detonierte die zweite Bombe an der U-Bahn-Station Park Kultury. Krankenhäuser riefen zu Blutspenden auf.

Es war der erste Anschlag auf die Metro seit sechs Jahren. Die Sprengsätze der Selbstmordattentäterinnen hatten nach Angaben der Behörden eine Stärke von 4 beziehungsweise 1,5 bis 2 Kilogramm TNT. Die Bomben wurden vermutlich mit einem Telefonanruf ferngezündet. In der Station Park Kultury wurden auch der Kopf und weitere Körperteile einer Attentäterin im Alter von 18 bis 20 Jahren gefunden. Meldungen, nach denen dort ein nicht explodierter Sprengstoffgürtel entschärft wurde, bestätigten sich nicht.

FSB-Chef Alexander Bortnikow machte islamistische Terroristen aus dem Nordkaukasus für das Blutbad verantwortlich. Ihre Handschrift sei klar erkennbar, sagte er. Präsident Dmitri Medwedjew ordnete für das ganze Land verschärfte Sicherheitsmaßnahmen an. Auf allen Transportstrecken und an den Flughäfen der russischen Hauptstadt wurden die Einsatzkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Die Metro fuhr mit kleinen Einschränkungen trotz der Anschläge nach Fahrplan. Gut acht Stunden nach den Anschlägen wurde auch die rote Linie bis auf die beiden getroffenen Stationen wieder bedient.

Medwedjew hielt eine Schweigeminute für die Opfer ab, die vom Staatsfernsehen übertragen wurde. Zugleich kündigte er die Fortsetzung des harten Anti-Terror-Kurses seiner Regierung an. »Wir werden unsere Operationen gegen die Terroristen ohne Kompromisse bis zum Ende führen«, sagte er. Premier Wladimir Putin forderte, die Verantwortlichen für die Anschläge »auszulöschen«.

Medwedjew appellierte, die Wachsamkeit überall im Land zu erhöhen. Offenbar seien die bisherigen Vorkehrungen unzureichend gewesen, so der Kremlchef. Er wies den FSB und die übrigen Sicherheitskräfte an, keine Destabilisierung im Land zuzulassen. Die jüngsten Terrorakte seien genauestens geplant gewesen, um die Situation im Land und in der Gesellschaft aus dem Lot zu bringen.

Nach den Moskauer Anschlägen wurden in den USA die Sicherheitsmaßnahmen in größeren U-Bahn-Stationen verschärft werden. So wurden in Washington »deutlich sichtbare« Polizeipatrouillen angeordnet.

* Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010


Die Spur führt in den Kaukasus

Präsident Medwedjew will Kampf gegen Terror "ohne Zaudern" fortsetzen

Von Alexej Dubatow, Moskau **

Mitten im morgendlichen Berufsverkehr wurden am Montag (29. März) in Moskau zwei Selbstmordanschläge verübt. Die Attentate in der überfüllten Metro gelten als Signal an die russischen Sicherheitskräfte.

Fotos zeigen in Dunst gehüllte Marmorsäulen, an denen Verletzte lehnen. Andere liegen auf dem Boden. Das Ende der langgezogenen unterirdischen Metrostation ist nicht zu sehen. Die Aufnahmen stammen aus Mobiltelefonen überlebender Fahrgäste. Fotos des zerstörten U-Bahn-Zuges traut sich das russische Staatsfernsehen vorerst nicht zu zeigen.

Eine Selbstmordattentäterin hatte ihre unter der Kleidung versteckte Bombe gezündet, als der Zug um 7.52 Uhr Ortszeit - mitten im morgendlichen Berufsverkehr - an der Metrostation »Lubjanka« hielt und die Türen sich gerade öffneten. Experten schätzten die Explosionsstärke auf drei Kilo herkömmlichen Sprengstoffs.

Eine zweite Explosion wurde um 8.36 Uhr von der Metrostation »Park Kultury« (Kulturpark) gemeldet. Augenzeugen berichteten im Internet später von »furchtbarem Gedrängel« an den Stationsausgängen. Die Nachricht von einer dritten Explosion auf der Station »Prospekt Mira« konnte glücklicherweise nach kurzer Zeit dementiert werden.

Die quer unter dem Moskauer Stadtzentrum hindurchlaufende U-Bahn-Linie wurde innerhalb des Metrorings vorübergehend gesperrt. Polizisten mit Spürhunden durchsuchten alle Stationen auf Sprengstoffspuren. Obwohl oben zusätzliche Busse eingesetzt wurden, versank die Stadtmitte im Chaos. Manche Taxifahrer verzehnfachten ihre Preise. Eilige Moskauer marschierten nicht nur auf Bürgersteigen, sondern mancherorts auch auf der Fahrbahn zur Arbeit. Auch wegen umfangreicher Absperrungen kam es im ohnehin verkehrsgepeinigten Moskauer Stadtkern zum Dauerstau. Vor diesem Hintergrund bewiesen Kraftfahrer, die eine freie Spur fanden, halb vergessene Hilfsbereitschaft, indem sie Fußgänger mitnahmen, deren Ziel auf ihrer Strecke lag. Viele meldeten sich bei der Moskauer Sklifossowski-Unfallklinik freiwillig als Blutspender.

Präsident Dmitri Medwedjew versicherte bei einer Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats im Kreml, die Bekämpfung des Terrorismus werde »ohne Zaudern bis zum Ende« fortgesetzt. Die »Destabilisierung des Staates und der Gesellschaft« werde den Urhebern der Anschläge nicht gelingen.

Metro-Chef Dmitri Gajew und Moskaus Oberbürgermeister Juri Lushkow waren kurz nach den Anschlägen an Ort und Stelle. Sie versprachen, den unterirdischen Verkehr sofort wieder in Gang zu bringen, sobald die Fahnder mit ihrer Arbeit fertig seien. Vorher musste der Unfallzug aus der Station »Park Kultury« abgeschleppt werden. Der andere an der »Lubjanka« war so arg verunstaltet, dass er mit Schweißbrennern zerschnitten werden musste. Gegen 14 Uhr fuhr die Metro wieder.

Die Explosion gerade an dieser Station dürfte kein Zufall sein. Die »Lubjanka«, nach der sie ihren Namen trägt, ist die Zentrale des russischen, früher sowjetischen Geheimdienstes. Von diesem Gebäude aus wurde 1944 die Vertreibung von Tschetschenen und Inguschen aus dem Kaukasus nach Kasachstan dirigiert. In ihrem wichtigsten Stadium wurde auch die spätere »antiterroristische Operation« - die offizielle Umschreibung für den Krieg in Tschetschenien - vom Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) geleitet.

Die zweite Bombe habe angeblich ursprünglich nicht am Gorkipark nahe der Moskwa, sondern eine Station weiter - am Oktoberplatz - gezündet werden sollen, wo sich das russische Innenministerium befindet, heißt es gerüchteweise. Die Selbstmordattentäterinnen seien jedoch in Moskau fremd gewesen. Angeblich wurden sie von zwei weiteren Frauen, nach denen gefahndet wird, bis zu den Metroeingängen begleitet. Ein Behördensprecher äußerte die Vermutung, die Anschläge könnten Racheakte für die Tötung zweier Anführer kaukasischer Separatisten - Said Burjatski und Ansor Astemirow - gewesen sein.

In Moskau wurden am Montag alle Flughäfen und Bahnhöfe durchsucht, ähnliche Aktionen wurden aus St. Petersburg und anderen Städten gemeldet. Präsident Medwedjew forderte die Rechtsschützer zu erhöhter Wachsamkeit auf, mahnte sie aber, die Bürgerrechte nicht zu verletzen. Regierungschef Wladimir Putin brach seinen Arbeitsbesuch im sibirischen Krasnojarsk ab. Wenige Wochen vor den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland, zu denen Gäste aus aller Welt erwartet werden, sind die Anschläge für die Führung des Landes besonders unangenehm. Harsche Kritik richtet sich gegen Moskauer Behörden. Metro-Chef Gajew hatte nach dem Anschlag im Februar 2004 versprochen, an allen Eingängen auf Sprengstoff reagierende elektronische »Spürnasen« aufzustellen.

** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010


Die Schwarzen Witwen

Nur jede Zehnte ist tatsächlich extremistisch ***

Sie sind in der Regel schwarz gekleidet, haben ihren Mann oder ihren Sohn verloren und handeln im Auftrag von Extremisten. Die so genannten Schwarzen Witwen haben seit dem russischen Einmarsch in der Kaukasusrepublik Tschetschenien 1999 mehrere schwere Anschläge verübt. Laut russischem Geheimdienst waren es auch Frauen, die sich am Montagmorgen in der Moskauer U-Bahn in die Luft sprengten und fast 40 Menschen töteten.

Im Juni 2000 verübten erstmals Frauen einen Anschlag in Tschetschenien: zwei Attentäterinnen griffen den Militärstützpunkt Alchan Jurt in der Kaukasusrepublik an. Dabei starben mindestens zwei Menschen. Als Terroristen im Oktober 2002 in Moskau Zuschauer und Akteure des Musicals »Nord-Ost« als Geiseln nahmen, waren daran ebenso Frauen beteiligt wie an mehreren Anschlägen im Jahr 2003. Der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew soll damals laut tschetschenischem Innenministerium über eine Gruppe von mehr als 30 Kamikaze-Frauen verfügt haben. Das spektakulärste dieser Attentate ereignete sich im Juli 2003, als bei einem Rock-Konzert in Moskau 15 Menschen starben.

Auch im August 2004 waren es Frauen, die sich an Bord zweier russischer Passagierflugzeuge in die Luft sprengten und 90 Menschen töteten. Die Polizei fand danach zwei Frauenleichen, nach denen sich keine Angehörigen erkundigten. Nur wenige Tage später sprengte sich eine Frau vor der Moskauer Metrostation Rishskaja in die Luft und tötete zehn Menschen.

Auch an der blutigsten Gewalttat des vergangenen Jahrzehnts im Kaukasus waren Frauen beteiligt. Im September 2004 nahmen mehr als 30 Extremisten im nordossetischen Beslan rund 1100 Schüler, Eltern und Lehrer als Geiseln. In einem Geiselvideo sind mindestens zwei Frauen in Schwarz zu sehen, mit Schusswaffen und Sprengstoffgürtel. 331 Menschen kamen damals ums Leben, unter ihnen 186 Kinder.

Nach mehreren Jahren relativer Ruhe sprengte sich im November 2008 eine Frau vor einem Kleinbus im nordossetischen Wladikawkas in die Luft und riss elf Menschen mit in den Tod. Laut dem Buch »Die Bräute Allahs« einer russischen Journalistin ist nur jede zehnte der Attentäterinnen tatsächlich extremistisch. Die anderen neun wurden von Rebellenchefs so beeinflusst, dass sie zu Attentäterinnen wurden.

*** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010


Zurück in Moskau

Von Detlef D. Pries ****

Dreieinhalb Jahre sind vergangen, seit zuletzt auf einem Moskauer Markt eine Bombe explodierte. Bewohner und Besucher der russischen Hauptstadt mögen sich längst wieder sicher gefühlt haben, auch in der Metro. Die wird von der Miliz überwacht, überall wurden Videokameras installiert, Streifen mit Spürhunden sind nicht selten. Russlands »Ordnungshüter« werden oft - und oft mit Recht - gescholten, doch vollkommene Sicherheit könnte auch die beste Polizei nicht garantieren: Die lückenlose Kontrolle von täglich neun Millionen U-Bahn-Benutzern ist schlicht unmöglich.

So scheinen sich denn also wieder zwei Frauen - freiwillig oder gezwungen - in den unendlichen Menschenstrom gemischt zu haben, um möglichst viele mit sich in den Tod zu reißen. Und wieder führt die Spur in den nördlichen Kaukasus. Die unruhige Region ist trotz mancher Fortschritte beim Wiederaufbau nicht befriedet. 230 »Banditen« wurden dort nach Angaben des russischen Innenministeriums im vergangenen Jahr »vernichtet«, und dennoch nimmt die Zahl der separatistischen Untergrundkämpfer nicht ab. Für jeden Getöteten schwören dessen Mitkämpfer tödliche Rache. »Allah sei Ruhm!«, höhnt es aus dem Internet - menschenverachtender Beifall für den Moskauer Doppelanschlag. Es wird noch lange dauern, bis sich Moskau und seine Besucher tatsächlich vor solchem Terror sicher fühlen können.

**** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010 (Kommentar)


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