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Russisch-deutsche Beziehungen für vieles bestimmend

Der russische Botschafter in Berlin, Vladimir Kotenev, im Interview mit "RIA Novosti"

Am Vorabend des offiziellen Besuchs des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew in Deutschland beantwortete der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland, Vladimir Kotenev, die Fragen von RIA Novosti.



Frage: Wie beurteilen Sie den heutigen Stand der russisch-deutschen Beziehungen?

Kotenev: Die russisch-deutschen Beziehungen sind für sehr vieles sowohl in Europa als auch in der Welt bestimmend. Das hat sich so historisch ergeben. Gegenwärtig entwickeln sie sich vorwärts, dynamisch und konstruktiv, und all das zum Wohl nicht nur unserer beiden Länder, sondern auch des ganzen Kontinents und der weltweiten Stabilität.

Ihre Grundlage bilden die Atmosphäre des Vertrauens, die gleichberechtigte und rücksichtsvolle Zusammenarbeit, der offene Dialog und die Zukunftsorientiertheit.

Das sind in Format und Wesen entwickelte Beziehungen einer wirklichen strategischen Partnerschaft. Ich bin überzeugt: Der bevorstehende Berlin-Besuch des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew wird das nicht nur überzeugend bekräftigen, sondern den russisch-deutschen Beziehungen auch einen großen Impuls verleihen. Denn gerade die regelmäßigen politischen Kontakte auf höchster Ebene bestimmen den Ton in der vielschichtigen Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland und legen die Vektoren ihrer Vorwärtsentwicklung fest.

Bestimmend dafür sind auch die häufigen Treffen der Außenminister, der Leiter von föderalen Exekutivorganen, die rhythmische Arbeit der beiderseitigen Mechanismen des Zusammenwirkens, die dem Ziel gelten, die alljährlichen zwischenstaatlichen Konsultationen auf höchster Ebene unter Beteiligung der Regierungsmitglieder vorzubereiten. Die zehnte Jubiläumsrunde der zwischenstaatlichen Konsultationen in erweitertem Format ist für den Herbst in Sankt Petersburg geplant.

Zu den außerordentlich wichtigen Elementen der russisch-deutschen Zusammenarbeit gehören ein intensiver zwischenparlamentarischer Dialog sowie die weit verzweigten zwischenregionalen Verbindungen, deren wichtigste Richtung die Wirtschaft bleibt.

Vielfältig ist auch unsere Zusammenarbeit in Kultur. In diesem Rahmen werden einzigartige gemeinsame Ausstellungsprojekte umgesetzt. Bei den Jugend- und Bildungsaustauschen unter dem Schirm der entsprechenden nationalen Koordinationszentren werden zahlreiche gemeinsame Vorhaben realisiert, insbesondere Treffen von jungen Unternehmern beider Länder, die Sitzungen des russisch-deutschen Jugendparlaments, Seminare angehender Journalisten usw. Das ist die Zukunft unserer Beziehungen.

Einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung der Kontakte auf der Ebene der Bürgergesellschaft leistet das Diskussionsforum "Petersburger Dialog". Geplant ist, dessen turnusmäßige achte Sitzung in diesem Herbst in Sankt Petersburg durchzuführen, "am Rande" der zehnten Runde der russisch-deutschen zwischenstaatlichen Konsultationen auf höchster Ebene. Viele Teilnehmer der Austausche wundern sich darüber, warum die deutschen überregionalen Medien die vielseitige und positive Tätigkeit des "Petersburger Dialogs" kaum beleuchten.

Außerordentlich wichtig für die russisch-deutsche Zusammenarbeit ist die außenpolitische Sphäre. Prinzipiell haben wir eine gemeinsame Sicht darauf, wie sich die internationalen Beziehungen entwickeln sollen, die gemeinsame Einsicht in die Notwendigkeit, ihr rechtliches Fundament und die zahlreichen Mechanismen zu festigen, um Konflikte auf politisch-diplomatischem Wege zu überwinden und den heutigen Gefahren und Herausforderungen entgegenzutreten. Ich denke, Russland und Deutschland sind, ebenso wie die meisten anderen Staaten, zutiefst daran interessiert, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten, den zuweilen einsetzenden Faktor Gewalt aus der Vorrangstellung zu verdrängen und als Ausnahmefall sowie als äußerstes, durch das Völkerrecht streng limitiertes Mittel herunterzustufen. Konfrontation und Wettrüsten, neue Trennwände und Schranken brauchen wir auf beiden Seiten nicht.

Aktuelle internationale Fragen werden im Rahmen der Russisch-Deutschen Arbeitsgruppe für Fragen der Sicherheitspolitik ausführlich besprochen. Selbstverständlich bestehen Meinungsverschiedenheiten darin, wie Russland und Deutschland an die einen oder anderen internationalen Probleme herangehen. Wir erörtern sie aufrichtig und bemühen uns, auf der Basis der gegenseitigen Achtung und der Berücksichtigung der Interessen nach den Wegen ihrer möglichst effektiven Lösung zu suchen.

Frage: Auf welchen Gebieten ist Ihrer Meinung nach der größte Erfolg erzielt worden, und welche Bereiche der Zusammenarbeit erfordern zusätzliche Aufmerksamkeit?

Kotenev: Ich möchte vor allem auf die fortschreitende Dynamik in der Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit und ihre Diversifizierung hinweisen. Der zweiseitige Warenumsatz beträgt anhand der Ergebnisse von 2007 mehr als 52,8 Milliarden USD, zu beobachten sind eine hohe Dynamik seines Zuwachses im laufenden Jahr (ein Plus von 20 bis 25 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres) und positive Trends beim Zustrom deutscher Investitionen in die Wirtschaft Russlands (5 Milliarden USD im Jahr 2007).

Es sind strategische Investitionsprojekte im Gange. Als Beispiel der neuen Qualität der Beziehungen im Energiebereich dient die Vereinbarung über das Öl- und Gaskondensatvorkommen Juschno-Russkoje; der Energiekonzern E.ON hat das Kontrollpaket vom Stromerzeuger OGK-4 erworben; in Kaluga ist der Bau von Pkws in einem VW-Montagewerk angelaufen; ein Werk des Unternehmens Bosch-Siemens hat in Sankt Petersburg die Herstellung von Kühlanlagen eingeleitet. Geplant sind Großprojekte in der deutschen Stromwirtschaft unter Beteiligung von Gazprom.

Ein wichtiger Beitrag Russlands und Deutschlands zur Lösung von Problemen der globalen und gesamteuropäischen Energiesicherheit ist die gemeinsame Förderung des Projekts, das den Bau des transeuropäischen Gastransportsystems Nord Stream vorsieht.

Die Investitionsaktivität der russischen Geschäftswelt in Richtung Deutschland nimmt zu: Unsere Unternehmer haben Minoritätsanteile am Aktienkapital des Touristikkonzerns TUI, der Bau- und Chemiegesellschaften Hochtief, Strabag und Kali+Salz erworben. Die Russische Eisenbahnen AG und die Deutsche Bahn haben ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, um über Sibirien Containertransporte von Europa nach China und in den Fernen Osten zu ermöglichen.

Was uns beunruhigt und Besorgnisse bereitet, ist vor allem der auffällige, oft auf Negatives programmierte Kurs der meisten deutschen Medien, die trotz der erkennbaren voranschreitenden Entwicklung unserer beiderseitigen Beziehungen nicht immer imstande sind, die veralteten Klischees und Stereotypen zu überwinden, und den Bundesbürgern immer noch mit den überholten Slogans vom Schlage "Die Russen kommen!" Angst einzujagen suchen.

Frage: Ende April erklärte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos, dass die deutschen Investoren sich bereit finden, an den Ausschreibungen über olympische Aufträge in Sotschi zu beteiligen. Die Rede war von der Absicht, an der Schaffung der Infrastruktur der Stadt sowie an der Ansiedlung eigener Industrieobjekte in der Region Krasnodar zu beteiligen. Welche konkreten Ausschreibungen waren gemeint? Sind bestimmte Vorvereinbarungen über die Beteiligung deutscher Investoren an der Schaffung der olympischen Infrastrukturen in Sotschi zustande gekommen? Wenn ja - in welchen Bereichen?

Kotenev: Am 29. und 30. April hielt sich eine repräsentative deutsche Unternehmerdelegation mit dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologien der Bundesrepublik Deutschland, Michael Glos, an der Spitze in der Region Krasnodar zu einem Besuch auf. Der Minister traf sich mit dem Chef der Verwaltung der Region, Alexander Tkatschow, und nahm am Wirtschaftsforum "Krasnodar - Deutschland: Potential und Perspektiven der Wirtschaftszusammenarbeit" teil. Die Delegation besichtigte auch die Baustellen der künftigen olympischen Objekte in der Stadt Sotschi, sie besuchte auch den Skiferienort Krasnaja Poljana.

Die deutschen Unternehmer zeigen wirklich viel Interesse an der Beteiligung an Projekten für die Schaffung der olympischen Infrastruktur in Sotschi. Das betrifft nicht nur Großunternehmen (wie Siemens, Hochtief und andere), sondern auch zahlreiche mittelgroße Firmen, die über reichlich Arbeitserfahrungen und die fortschrittlichsten Technologien auf den entsprechenden Gebieten verfügen. Was konkrete Vereinbarungen anbelangt, so werden im Einklang mit der Gesetzgebung der Russischen Föderation die Unternehmen für den Bau von Objekten im Rahmen der Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 2014 bekanntlich anhand von Ausschreibungen ausgewählt, an denen sich, wie wir erwarten, auch deutsche Partner beteiligen werden. Zwecks ihrer besseren Vorbereitung hat der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft vor, in den nächsten Monaten in Sotschi ein eigenes Büro zu eröffnen.

Frage: Ende März hat der Föderationsrat der Russischen Föderation ein föderales Gesetz gebilligt, das die Rückgabe der Buntglasfenster der Marienkirche an die Stadt Frankfurt an der Oder vorsieht. Wann wird die Übergabe dieser Werte an die deutschen Behörden stattfinden?

Kotenev: Gegenwärtig werden einschlägige bilaterale Konsultationen vorbereitet, die die technischen Verfahren für die Übergabe der Glasbilder abstimmen sollen. Entsprechende Erfahrungen liegen vor: Ähnliche Verhandlungen fanden 2002 statt, als die Übergabe von 111 Buntglasfenstern aus derselben Kirche an die deutsche Seite vorbereitet wurde.

Frage: Wir sprechen schon seit langem von der Notwendigkeit, eine Strategie der Zusammenarbeit "jenseits von Erdöl und Gas" auszuarbeiten: nämlich in den Biotechnologien, Telekommunikation, der Pharmazeutik, der Aeronautik und in Hightech-Bereichen. Es sieht aber so aus, als ginge die Sache nicht besonders voran. Wo liegt hier das wichtigste Problem?

Kotenev: Bereits im April 2005 wurde eine gemeinsame Erklärung auf höchster Ebene über die strategische Partnerschaft in wissenschaftlichen Forschungen und Innovationen sowie auf anderen den Fortschritt bestimmenden Gebieten angenommen. Bereits zuvor entstand eine strategische Arbeitsgruppe für Fragen der ökonomischen und finanziellen Zusammenarbeit, die sich neben allem anderen mit der Begleitung mehrerer großer Investitionsprojekte befasst, darunter in Sphären, die nicht mit der Lieferung von Energieträgern verbunden sind. Wir haben einige mit den deutschen Partnern gemeinsame Projekte, die wir "Leuchttürme" nennen. Gerade sie sind dafür bestimmt, unser Zusammenwirken auf ein qualitativ neues, von Hightech bestimmtes Niveau zu heben. Ein glänzendes Beispiel ist in dieser Hinsicht die russische Beteiligung am Bau eines Freie-Elektronen-Röntgenlasers in Hamburg. Die Perspektiven sind zweifellos nicht schlecht, doch gibt es auch Probleme. Bisweilen hat man das Gefühl, dass jemand in der Bundesrepublik Deutschland künstliche Schranken für den wissenschaftlich-technischen Austausch braucht - im Geiste der "CoCom-Listen" aus den Zeiten des Kalten Kriegs.

In diesem Zusammenhang sei gesagt: Wir müssen von den Vorstellungen abgehen, Russland sei Verbraucher, reiner Importeur westlicher innovativer Ideen und Technologien. Russland kann auch etwas Deutschland anbieten, einige unserer Entwicklungen haben keine Analogien in der Welt, bei uns haben sich glänzende wissenschaftliche Schulen und hocheffektive Forschungsgruppen erhalten. Lassen Sie uns nicht vergessen, dass ein bedeutender Teil der westlichen "Hightech"-Leistungen eine Arbeitsfrucht von Wissenschaftlern russischer Herkunft ist, die bereits in der Sowjetunion eine einzigartige Bildung erhielten. Ohne unsere mathematische Schule, unsere Physiker und Programmierer hätte der innovative Durchbruch der USA und einiger Länder der Europäischen Union nicht solche Ausmaße erreicht.

Und noch eine Bemerkung: Die Öl- und Gasförderung sind von der innovativen Sphäre nicht zu trennen. Erstens brauchen sie selbst neues Know-how. Zweitens ist eine noch so hoch entwickelte, "postindustrielle" Wirtschaft ohne eine angemessene Energieversorgung nicht arbeitsfähig. Es gibt also keine "andere Seite", alles ist miteinander verknüpft, das sollte keinesfalls vergessen werden.

Frage: Wie oft bitten russische Geschäftsleute die russische Botschaft um Hilfe? Auch sonst: Wer tut das häufiger, russische Unternehmer in Deutschland oder deutsche Unternehmer, die nach Russland kommen?

Kotenev: Zwar führen wir keine Statistiken darüber, wie oft sich Vertreter der Geschäftswelt an die Botschaft wenden, doch muss ich bemerken, dass diese Zahl nicht gering ist, und das bezieht sich sowohl auf russische als auch auf deutsche Unternehmer. Man wendet sich an uns in sehr verschiedenen Angelegenheiten: Da sind Bitten um Konsultationen für die Promotion konkreter Produktionserzeugnisse auf dem Markt, verschiedene juristische Aspekte der Unternehmertätigkeit, die Suche nach passenden Partnern, Hilfe bei der Herstellung von Kontakten mit föderalen und regionalen Staatsmachtorganen, Unterstützung bei Visa-Fragen. Es gibt auch Bitten um Hilfe bei der Regelung von Wirtschaftsstreiten, obwohl solche Aufgaben in der Regel in die Zuständigkeit des Justizsystems des entsprechenden Staates fallen. Dennoch sind wir bemüht, jede Bitte an uns maximal aufmerksam zu prüfen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 4. Juni 2008


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