Michail Chodorkowski, Chef des ehemals größten russischen Ölkonzern Jukos, muss hinter Gitter
Ein Sündenbock und eine endlose Geschichte - Zwei Hintergrundberichte
Zunächst die Meldung:
Moskau · 16. Mai · rtr · Der Gründer des russischen Ölkonzerns Jukos, Michail Chodorkowski, ist von einem Moskauer Gericht unter anderem des Betrugs und der Steuerhinterziehung schuldig gesprochen worden. Die Richter bezeichneten Chodorkowski und den mitangeklagten Jukos-Aktionär Platon Lebedew am Montag mehrmals als Anführer einer "organisierten kriminellen Vereinigung". In bislang vier von insgesamt sieben Punkten der Anklage wurde Chodorkowski für schuldig befunden. Die Verhandlung wurde bis Dienstag [17. Mai] unterbrochen. Das Strafmaß könnte jedoch auch erst am Mittwoch [18. Mai] verkündet werden.
Bereits im Vorfeld hatte einer der Anwälte des 41-Jährigen erklärt, er rechne mit einem Schuldspruch. Die Staatsanwaltschaft hat die Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis beantragt. Die Anwälte des Angeklagten plädierten auf Freispruch.
Chodorkowski, dessen Vermögen einst auf 15 Milliarden Dollar geschätzt wurde, beteuerte seine Unschuld und bezeichnete den Prozess als Farce und politisch motiviert. Die Vorwürfe beziehen sich auf Privatisierungsgeschäfte Mitte der 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Beobachtern zufolge könnte eine mit bis zu zwei Jahren relativ kurze Haftstrafe signalisieren, dass Russland bereit ist, den staatlichen Druck auf die Privatwirtschaft zu senken. Vor dem Gericht demonstrierten etwa 500 Menschen für Chodorkowski. (Quelle: Frankfurter Rundschau, 17. Mai 2005)
Im Folgenden dokumentieren wir zwei neuere Beiträge, die sich mit dem Jukos-Fall befassen.
Warum gerade Chodorkowski?
Der Prozess wirft Fragen auf, deren Antworten komplizierter sind, als man im Westen glaubt
Von Christian Wipperfürth*
Auch wenn Michail Chodorkowski bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hat, zweifelt kaum ein Beobachter daran, dass der 41-jährige Milliardär und seine Unternehmen, zu denen der Ölkonzern Jukos gehörte, erhebliche Gesetzesverstöße begangen haben.
Allerdings: Chodorkowskis Verfehlungen waren nicht einmalig, sondern geradezu typisch für die russischen Wirtschaftskapitäne der wilden 90er Jahre. Dass ausgerechnet er belangt wird, ist das eigentlich Überraschende an diesem Prozess.
Mehrere Theorien kursieren: Präsident Wladimir Putin und der russische Geheimdienst wollten einen Konkurrenten um die Macht ausschalten, heißt es. Immerhin hatte sich Chodorkowski vor seiner Verhaftung karitativ betätigt und als Vertreter des Liberalismus einen Namen gemacht. Möglicherweise wollte der Kreml auch nur den Verkauf des Ölriesen Jukos an den USA-Konkurrenten Exxon verhindern, mit dem der Oligarch kurz vor seiner Verhaftung am 25. Oktober 2003 verhandelt hatte.
Auch von Antisemitismus ist die Rede. Aliza Shenhar, frühere Botschafterin Israels in Moskau, meint, dass die vom Kreml beeinflussten Zeitungen immer wieder einen jüdischen Hintergrund Chodorkowskis herausgestrichen haben, um in der Öffentlichkeit zu punkten. Doch weder der Oligarch noch seine Anwälte haben diesen Vorwurf je erhoben. Chodorkowski selbst hat sich nie als Jude bezeichnet. Trotzdem fällt auf, dass die drei Oligarchen (Beresowski, Gussinski, Chodorkowski), die in den vergangenen Jahren den Zorn des Kremls zu spüren bekamen, mit einem jüdischen Hintergrund in Verbindung gebracht werden. Zufall?
Festzuhalten bleibt: Chodorkowski ist nicht der uneigennützige Streiter für Demokratie und Zivilgesellschaft, zu dem ihn manche erklären. Sein Imperium zahlte kaum Steuern und es gibt glaubwürdige Berichte, dass er zu Beginn dieses Jahrzehnts mittels finanzkräftiger Argumente Gesetzesänderungen verhinderte, die nachteilig für ihn gewesen wären. Amnesty International weigert sich, ihn als politischen Gefangenen zu bezeichnen. Die Schweiz hat sein Privatvermögen in Höhe von fünf Milliarden Dollar nicht ohne Grund gesperrt. »Chodorkowski ist nicht Andrej Sacharow«, meint der frühere Dissident Andrej Mironow. »Er dachte nie an andere. Meines Erachtens ist er ein Gefangener der Gier, nicht des Gewissens.«
Chodorkowski ist unter anderem im Fall Apatit schuldig gesprochen worden. 1994 erwarb ein Unternehmen des Verurteilten 20 Prozent des Düngemittelunternehmens für lediglich 225000 Dollar, obwohl es zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 1,4 Milliarden Dollar besaß. Sämtliche vier Bieter im Auktionsverfahren gehörten zu Chodorkowskis Firmenimperium. Dies wurde durch die politischen Kontakte des Oligarchen ermöglicht. Der Käufer sicherte zu, 283 Millionen Dollar in Apatit zu investieren, was jedoch nicht geschah. Er verkaufte die Anteile an Dutzende kleinere Unternehmen, die ebenfalls den Verurteilten gehörten. Diese Briefkastenfirmen waren in fernen Insel-Steuerparadiesen registriert, was rechtliche Schritte wesentlich erschwerte. Diese Firmen wiederum verkauften die Apatit-Anteile an Dritte, so dass Chodorkowski riesige Gewinne einstreichen konnte, ohne investiert zu haben.
»Apatit war ein heruntergekommenes Unternehmen«, sagte Chodorkowski vor Gericht. »Die Behörden waren nur allzu glücklich, es jemandem zu übereignen, der die Mitarbeiter davon abhält zu revoltieren. Das haben wir geschafft. Menschen, die damit Erfolg haben, soziale Unruhen zu verhindern sollten belohnt, nicht bestraft werden.«
Gewiss gab es zu viele Ungereimtheiten in diesem Prozess, als dass man an ein wirklich rechtsstaatliches Verfahren glauben könnte. Die Steuernachforderungen in Höhe von 27,5 Milliarden Dollar waren exorbitant. Zudem befremden die eigenartigen Umstände der Urteilsverkündung, die lange für den 27. April angekündigt war. Als die Rechtsanwälte Chodorkowskis zum Gerichtssaal kamen, fanden sie nach ihren eigenen Worten lediglich eine nicht unterschriebene Mitteilung vor, dass die Urteilsverkündung verschoben sei. Die Nachrichtenagentur Interfax berichtete, dass Richterin Irina Kolesnikowa das Urteil noch nicht habe fertig stellen können. Offiziell war wenig später von einer Erkrankung die Rede. Die Spekulationen schossen ins Kraut.
Kaum jemand zweifelt, dass für die Verschiebung politische Gründe vorlagen. Der »Fall Chodorkowski« sorgt selbst innerhalb des engsten Kreml-Führungszirkels für Streit. Andrej Illarionow, Putins Berater für Wirtschaftsfragen, forderte vor wenigen Tagen, dass der Oligarch auf freien Fuß gesetzt werden solle. Und Putin selbst schlug sich kurz vor der angesetzten Urteilsverkündung unerwartet deutlich auf die Seite der Liberalen, was die undurchsichtige Verschiebung des Urteilsspruchs erklären könnte.
Immerhin: Die Konzerne dürften die Botschaft, die mit der Verhaftung Chodorkowskis ausgesendet wurde, verstanden haben. Die Steuermoral hat sich beträchtlich verbessert und das Bestreben, sich politischen Einfluss zu erkaufen, hat nachgelassen. Genau dies war es, was Beresowski, Gussinski und Chodorkowski verband, nicht ein ethnischer Hintergrund.
Moskau ist die Stadt mit den weltweit meisten Milliardären, die enorme materielle Ungleichheit in Russland wächst stetig. Christopher Weafer, ein bekannter Volkswirtschaftler in Moskau, meint: »Diese Spannbreite kann man sich nicht allzu lange leisten, denn sie führt gewöhnlich zu höherer politischer Unsicherheit und Investitionsrisiken.« Sogar die Welthandelsorganisation teilt diese Einschätzung. Sehr große soziale Ungleichheit begünstigt das Suchen nach Sündenböcken. Chodorkowski bot sich auch für diese Funktion an.
* Dr. Christian Wipperfürth war 2001 bis 2004 Gastdozent für Internationale Beziehungen an der Universität St. Petersburg. Sein jüngstes Buch »Putins Russland – ein vertrauenswürdiger Partner? Grundlagen, Hintergründe und Praxis gegenwärtiger russischer Außenpolitik« erschien Ende 2004 im Stuttgarter Ibidem-Verlag (228 Seiten, 24,90)
Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2005
Eine endlose Geschichte
Von Frank Preiß
Vieles ist über den früher größten russischen Ölkonzern Jukos und dessen Exchef, Michail Chodorkowski, geschrieben worden. Dessen Inhaftierung und Prozeß wegen Steuerhinterziehung bewegt seitdem die Gemüter in den internationalen Medien und Kreisen des internationalen Finanzkapitals. Von der Zerschlagung des Imperiums als Teil eines Großangriffs Präsident Wladimir Putins auf das freie Unternehmertum und die schwache Pflanze der Demokratie in Rußland war da die Rede. Quatsch, meinten andere. Es sei lediglich der Versuch des Staates, das Primat der Politik, zumindest teilweise, wieder herzustellen und Rechtsstaatlichkeit auch gegenüber Superreichen walten zu lassen.
Die Meldung, daß die Urteilsverkündung auf den 16. Mai verschoben wurde, hat die Diskussion um den »Jahrhundertprozeß« erneut angefacht. Putin wolle die Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland nicht durch den Urteilsspruch belastet sehen, hieß es. Man brachte die Entscheidung auch mit dem Israel-Besuch des Präsidenten in Verbindung.
Allein die Tatsache, daß der ehemals reichste Mann Rußlands vor dem Richter steht, wird von der Mehrheit der Russen offenbar als gerechtfertigt, wenn auch gleichmütig wahrgenommen. Rußlands Bürger mißtrauen zwar traditionell ihrem Justizsystem. Was aber im Westen im Fall Chodorkowski bisweilen als politische Willkür interpretiert wurde, mag bei manchem doch die Hoffnung geweckt haben, daß man künftig nicht nur die Kleinen hängt und die Großen laufenläßt.
Politische Dimension
Chodorkowski ist nicht der erste Oligarch, der mit der Staatsgewalt kollidierte. Vor ihm haben schon Wladimir Gussinski, Boris Beresowski und viele andere Besuch vom Staatsanwalt bekommen, waren aber meist so clever, sich rechtzeitig ins Ausland abzusetzen. Ihren Reichtum hatten sie schon längst auf die diversen sicheren Schatzinseln verschoben und rühmten sich dessen sogar in aller Öffentlichkeit.
Natürlich geht es auch um Politik, doch nicht in der simplen Art und Weise, wie es die Anhänger des Ex-Jukos-Chefs verkünden. Die Absicht Chodorkowskis, 2008 in die große Politik einzusteigen, soll der Auslöser für die Ermittlungen gewesen sein? Daß die Bürger bei den nächsten Präsidentschaftswahlen einen Oligarchen zum Staatsoberhaupt küren, der einen radikal neoliberalen Kurs fährt, erscheint gegenwärtig kaum vorstellbar. Die beiden neoliberalen Parteien SPS (Union Rechter Kräfte) und »Jabloko« sind bei der letzten Dumawahl an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert.
Putin hat bisher das neoliberale Potential partiell an sich gebunden, indem er sich dessen Forderungen teilweise auf seine Fahne geschrieben hat. Die am Anfang des Jahres durchgedrückten Sozialkürzungen sind nur ein Beispiel dafür. Der Präsident ließ andererseits nicht nur einmal durchblicken, daß ihm eine rechte Opposition eigentlich fehlt und er den Sozialabbau und andere unpopuläre Forderungen lieber von diesen auf die Tagesordnung gestellt sähe, als sich selbst damit zu diskreditieren.
Während der Staat beispielsweise gegen die sich linksradikal-nationalistisch gebärdenden »Nationalbolschewisten« Eduard Limonows gewöhnlich mit harter polizeilicher Gewalt und juristischer Unnachgiebigkeit vorgeht, drücken die Behörden bei ungenehmigten Demonstrationen und Meetings der Neokonservativen schon mal beide Augen zu. Deren Auftritte fallen allerdings kaum ins politische Gewicht. So versammelten sich nur knapp 100 Leute, davon viele Journalisten und Schaulustige, am 28. April vor dem Gebäude des Meschtschanskij-Gerichtes, in dem der Prozeß gegen Chodorkowski stattfindet. Die Losung »Freiheit für Chodorkowski«, die sie skandierten, verhallte in der hektischen Zehn-Millionen-Metropole weitgehend unbeachtet.
Kampfansage an Staat
Ob Chodorkowski die vorgeworfenen Taten begangen hat, ist so lange nicht bewiesen, so lange es keinen Urteilsspruch gibt. Die US-Spitzenanwälte, die ihn und die Mitangeklagten vertreten, werden weder der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht den kleinsten Fehler durchgehen lassen. Chodorkowski und die mitangeklagten ehemaligen Spitzenmanager von Jukos, Platon Lebedew und Andrej Krainow, sollen dem Staat Steuerzahlungen in Milliardenhöhe vorenthalten haben. Welcher Staat faßt dies nicht als Kampfansage auf?
Vielen Bürgern Rußlands, die mit der »Transformation« Anfang der 90er einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Absturz erlebten, bereitet das Vorgehen gegen die »Wohltäter« vom Schlage Chodorkowski wenig Unbehagen. Man ist sich auch sicher, daß Putin keine Rückkehr zur Sowjetmacht eingeläutet hat.
Der Zusammenbruch der UdSSR hat allerdings die Führung der USA veranlaßt, eine unipolare Herrschaft anzustreben. Offensichtlich ist man dabei zu dem Schluß gekommen, daß dies ohne entscheidende Schwächung Rußlands nicht möglich ist. Immerhin hat das Land noch etwa 16000 Kernwaffen, mehr als jeder andere Staat der Erde. Aber auch politische, geopolitische und wirtschaftliche Erwägungen spielen eine Rolle. Und tatsächlich ist es gelungen, den Einfluß Moskaus im postsowjetischen Raum kontinuierlich zurückzudrängen. Dabei sind offenbar alle Sekundanten willkommen. Es wäre naiv, die Ereignisse um den Chodorkowski-Prozeß nicht auch in diesem Kontext zu sehen. Damit erst erfährt diese »Affäre« wahrhaftig politische Bedeutung.
Chronologie der »Jukos-Affäre«-
1997: Michail Chodorkowski wird Vorstandsvorsitzender von Jukos.
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April 2003: Pläne über eine Fusion von Jukos und Sibneft werden bekannt. Chodorkowski soll Vorstandsvorsitzender werden.
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Juli 2003: Platon Lebedjew, Chef der von Chodorkowski mitgegründeten Finanzgruppe MENATEP, wird verhaftet. Auch Büros der Jukos-Zentrale werden durchsucht.
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Oktober 2003: Das Kartellamt genehmigt die Fusion: Jukos übernimmt 92 Prozent an Sibneft, während Sibneft 26 Prozent an dem fusionierten Unternehmen erhält.
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25. Oktober 2003: Chodorkowski wird verhaftet. Die Vorwürfe lauten auf Steuerhinterziehung und Betrug.
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30. Oktober 2003: Die Moskauer Staatsanwaltschaft beschlagnahmt mehr als 50 Prozent der Jukos-Aktien.
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17. Dezember 2003: Jukos und Sibneft sagen ihre Fusion ab.
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26. Mai 2004: Ein Moskauer Gericht verurteilt den Konzern zur Nachzahlung von umgerechnet 2,8 Milliarden Euro Steuern für das Jahr 2000.
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16. Juni 2004: In Moskau beginnt das Verfahren gegen Chodorkowski und Lebedjew.
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1. Juli 2004: Dem Unternehmen wird der Vollstreckungsbefehl über die Steuerschuld zugestellt. Alle Geschäftskonten werden eingefroren. Zugleich fordern die Finanzbehörden weitere 2,8 Milliarden Euro Steuernachzahlungen für das Jahr 2001.
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19. Dezember 2004: Wegen der Steuerschulden wird die wichtigste Jukos-Produktionstochter Juganskneftegas zwangsversteigert. Den Zuschlag erhält überraschend die bislang unbekannte Baikalfinansgrup für umgerechnet sieben Milliarden Euro.
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22. Dezember 2004: Der staatliche Ölkonzern Rosneft teilt mit, 100 Prozent der Aktien der Baikalfinansgrup aufgekauft zu haben und damit neuer Besitzer von Juganskneftegas zu sein.
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25. Februar 2005: Jukos scheitert mit seinem Plan, in den USA Schutz vor seinen Gläubigern zu erhalten.
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16. Mai 2005: Das Urteil gegen Chodorkowski wird erwartet.
Aus: junge Welt, 14. Mai 2005
Siehe auch:
Jukos-Versteigerung: Was spielt sich wirklich ab?
Oder: Wem gehört Russland und wer benutzt Chodorkowski? US-Gericht abgeblitzt (21. Dezember 2004)
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