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Vor der Urteilsverkündung im zweiten Chodorkowski-Prozess

Kritiker sprechen von politischem Verfahren / Weitere Anklagen möglich

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In Moskau soll am heutigen Mittwoch die Verkündung des Urteils im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowski, den ehemaligen Chef des russischen Ölkonzerns Jukos, und seinen Partner Platon Lebedew beginnen.

Auf die entscheidenden Worte werden Michail Chodorkowski – einst reichster Mann Russlands – und sein Partner Platon Lebedew wohl noch eine paar Tage warten müssen. Zwar beginnt Richter Viktor Danilkin an diesem Mittwoch mit der Urteilsverkündung. Doch das Gericht brauchte zum Verlesen der Begründung für das Verdikt vor fünfeinhalb Jahren mehrere Tage. Damals wurden Chodorkowski und Lebedew wegen Betrugs und Steuerhinterziehung in besonders schwerem Ausmaß zu jeweils acht Jahren Haft verurteilt. Im zweiten Prozess – diesmal werden ihnen Diebstahl von 200 Millionen Tonnen Rohöl und Geldwäsche vorgeworfen – beantragten die Staatsanwälte in beiden Fällen 14 Jahre. Die derzeitige Haftstrafe soll darauf angerechnet werden, sodass die Verurteilten im Jahr 2017 freikämen.

Kritiker im In- und Ausland, die liberale Opposition in Russland und viele westliche Politiker, behaupten politische Hintergründe für das Verfahren.

Chodorkowski hatte oppositionelle russische Parteien finanziell aufgerüstet, um die Mehrheitsverhältnisse in der Duma zu korrigieren, und sich damit kurz vor seiner Verhaftung im Oktober 2003 sogar öffentlich gebrüstet: Bei den im Dezember desselben Jahres fälligen Parlamentswahlen könnten zwei Drittel der Mandate der Opposition zufallen.

Gegner der russischen Führung sprachen bereits damals von einer direkten Kampfansage an den seinerzeitigen Präsidenten Wladimir Putin. Solange Putin das Sagen habe, meint Boris Nemzow, einer der Führer der liberalen Opposition, werde Chodorkowski in Haft bleiben. Die Masse der Bevölkerung, die den ersten Prozess ohne Interesse oder sogar mit Häme und Schadenfreude verfolgte, sieht das inzwischen ähnlich. Die Steilvorlage dazu lieferte ausgerechnet die staatliche Anklage. Sie musste sich nicht nur von der Verteidigung über 400 sachliche Fehler vorrechnen lassen. Gleich mehrere ehemalige und aktive Minister, die im Prozess als Zeugen vernommen wurden, erklärten die gegen Chodorkowski erhobenen Vorwürfe für haltlos.

Mit den juristischen Aspekten des Verfahrens, erklärte der Angeklagte, als ihm Anfang November das letzte Wort erteilt wurde, werde er sich daher nicht aufhalten. Vielmehr werde er sich mit dem politischen Kontext seines Falles auseinandersetzen. Chodorkowski ersparte Kreml und Regierung dabei nichts, was Beobachter damit erklärten, dass er glaubte, nichts mehr verlieren zu können. Möglicherweise irren sie sich; denn die Verteidigung sieht bereits einen dritten Prozess kommen.

Das erste wie das zweite Verfahren gegen ihren Mandanten, glaubt Chodorkowskis Anwältin Karinna Moskalenko, seien nur Aspekte, die sich die Ermittler aus dem Hauptverfahren gegen den inzwischen zerschlagenen und quasi verstaatlichten Ölkonzern Jukos herausgepickt und gesondert verhandelt hätten. Und aus eben diesem Verfahren könnten immer neue Aspekte »wie Kobolde aus der Tabaksdose« springen.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Dezember 2010


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