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Wo der Rubel nicht rollt ...

Überleben in Russland – Kai Ehlers berichtet über die Rückkehr der Datschen

Von Bernhard Clasen *

Nein, zu sicheren Finanzanlagen könne er keinen Tipp abgeben, sagte der deutsche Manager, den Kai Ehlers bei seinem jüngsten Ausflug nach Russland sprach. Zu einer Zeit, da die Finanzkrise noch im vollen Gange war. Ein Moskauer Taxi-Fahrer antwortete dem Autor auf die Frage, wie es denn so ginge in diesen schwierigen Zeiten: »Na ja, Kartoffeln haben wir jedenfalls immer.«

Ob dieser Satz so noch stimmt, angesichts der furchtbaren Brände zur Zeit in Russland, die nicht nur Wälder, sondern auch Felder und damit die Ernte des Jahres vernichten, ist fraglich. Aber wer hat mit dieser Katastrophe rechnen können? Der Taxi-Fahrer hat jedenfalls Ehlers den Titel für sein neues Buch geliefert. Es schildert nicht nur die Transformation der postsowjetischen Gesellschaft in eine neoliberale. Es beschreibt auch die Besonderheiten, die in Russland die Krise in vielen Bereichen abmildern.

Freilich, die Schere zwischen Reich und Arm geht auch dort immer weiter auseinander. Die Kluft zwischen der herrschenden oligarchische Schicht und der Masse der Bevölkerung wird immer tiefer. Wegfall von Arbeitsplätzen, Lohnkürzungen, steigende Kosten für Strom, Gas, Wasser, etc. – das sind die täglichen Probleme der Mehrheit der Russen. Während vielerorts den Arbeitern die Löhne verspätet ausgezahlt werden, empfangen Oligarchen wie Oleg Deripaska riesige Summen aus dem russischen Stabilitätsfonds.

Und trotzdem, so wundert sich Ehlers, sei von Panik oder Zukunftsangst, wie man sie im Westen kenne, bei den Menschen in den unteren Schichten in Russland wenig zu spüren.

Ehlers braucht nicht viele Zahlen zu nennen, um klar zu machen, was die neoliberale Wirtschaftspolitik der russischen Regierung für die einfachen Menschen konkret bedeutet. Wer sein ganzes Leben als Arzt, Lehrerin oder auch in handwerklichen Berufen gearbeitet hat, erhält in Moskau eine Rente, die zwischen 3000 und 6000 Rubel, also 75 und 150 Euro, liegt. Angesichts der Preise, die sich nicht wesentlich von denen in Deutschland unterscheiden, lebt jeder Rentner, der nicht von seinen Kindern unterstützt wird, am Existenzminimum. Im Moskauer Supermarkt »Aschan« kostet ein kleiner Kopf Salat umgerechnet einen Euro, ein Minikäse drei Euro. Im Provinzort Tarussa zahlt man für ein Kilo Fleisch sieben Euro, für ein paar einfache Schuhe hundert Euro. Die Gesundheitsversorgung ist zwar nach wie vor kostenlos, doch wer mehr als lebenserhaltende »Erste Hilfe« bracht, muss die Versorgung im Krankenhaus aus der eigenen Tasche bezahlen.

Leidtragende dieser Entwicklung ist auch die vielgerühmte »russische Seele«. Das »Wir-Gefühl« macht immer mehr einer Ellenbogenmentalität und Egoismus, Profit und Konsumgier Platz; die Tradition der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe schwindet dahin.

Besonders schlimm ist die Situation auf den Dörfern. Der größte Teil der Felder liegt brach, Spekulanten kaufen Grund und Boden. Familien brechen auseinander, so schnell, wie sie gegründet werden. Ganze Dörfer verfallen dem Suff.

Der nun schon 25 Jahre andauernde Transformationsprozess und die Finanzkrise haben die Menschen sozialer Sicherheiten beraubt. Doch Russlands natürliche Ressourcen und das Talent der Bevölkerung zur Eigenversorgung sind nicht zu unterschätzende Stärken. »Kartoffeln kaufen wir doch nicht im Supermarkt«, erfährt Ehlers. Der Autor meint, dass gerade in Zeiten der Krise die Rückbesinnung auf Traditionen wie den Eigenanbau von Lebensmitteln auf der Datsche oder auch die gegenseitige Hilfe Berge versetzen könnte.

In der Tat nehmen Stadtbewohner wieder häufiger das eigene kleine Stück Land unter die Hacke, um Gemüse und Obst anzubauen. Überall ist die »Datscha« wieder im Kommen. Firmen wie OBI, die Gartenausrüstung verkaufen, boomen. Die russische Volkswirtschaft ist ohne diese »familiäre Zusatzwirtschaft« kaum denkbar.

Natürlich liegt diese Selbstversorgung nicht im Interesse der großen Lebensmittelkonzerne. Ehlers jedoch sieht hierin eine nachahmenswerte Alternative, die er sich auch für Deutschland vorstellen kann. Die Zukunft liege im Miteinander von industrieller Fremd- sowie Eigenversorgung.

Die verheerenden Brände derzeit in Russland werden die Rückbesinnung auf Traditionen wie der gegenseitigen Hilfe sicher befördern. So kann eine Tragödie wie die derzeitige auch den Keim für etwas Gutes, für einen neuen Anfang in sich bergen.

Kai Ehlers: »Kartoffeln haben wir immer.« Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2010. 249 S., br., 14,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 12. August 2010


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