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Russlands neue Freunde

Seit das Land nach dem Georgienkrieg zunehmend isoliert wird, intensiviert der Kreml die Suche nach neuen Allianzpartnern und frischt alte Beziehungen auf

Von Ulrich Heyden, Moskau *

Russland hat viele Möglichkeiten, seinen Einfluss in der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS) zu sichern. In der Ukraine kann sich Moskau auf die Gebietsräte und Regionalparlamente in den russischsprachigen Gebieten im Osten und auf der Halbinsel Krim verlassen. Sie haben gegen den Willen der Zentralregierung in Kiew die abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien anerkannt. Die Russ­Innen in der Ukraine sind auch Garant dafür, dass Russlands westlicher Nachbar nicht so schnell der Nato beitreten wird (vgl. unten: «Niemand will hier in die Nato»). Aserbaidschan, einem Nachbarn Georgiens, macht der Kreml Angebote, Gas zum Weltmarktpreis zu kaufen. Moldawien schlägt er die Wiederaufnahme der Gespräche mit den SeparatistInnen in Transnistrien vor, die von Russland unterstützt werden. Gleichzeitig winkt er mit Absatzmöglichkeiten für moldawischen Wein in Russland. Mit diesem Vorgehen - so die Moskauer Zeitung «Kommersant» - wollte die russische Regierung der Welt unmittelbar nach dem Georgienkrieg demonstrieren, «dass sie in der Lage ist, Territorialkonflikte mit politischen Mitteln zu lösen».

«Punktgenaue Schläge»

Nach dem militärischen Erfolg gegen Georgien und dem Abschluss einer Friedensvereinbarung kündigte Russ­lands Präsident Dmitrij Medwedjew eine umfassende Modernisierung der Armee bis 2020 an. Das Militärbudget wurde dank der Öleinnahmen um ein Viertel auf umgerechnet 66 Milliarden US-Dollar erhöht. «Ein Krieg kann plötzlich ausbrechen», erklärte Medwedjew am Rande eines Manövers im Ural. Es be­stehe die Gefahr, dass sich «lokale, schwelende Konflikte in einen militärischen Flächenbrand ausweiten». Russland müsse in der Lage sein, «punktgenaue Schläge gegen Ziele auf dem Land und auf der See» zu führen. Medwedjew kündigte zudem den Bau einer neuen, mit Marschflugkörpern bestückten Generation von Atom-U-Booten an.

Moskau weiss allerdings, dass es einen neuen Rüstungswettlauf mit Washington nicht gewinnen kann, und streckt deshalb die Fühler nach alten und neuen Freunden aus. An den Tagungen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) - in denen sich ein Teil der GUS-Staaten zusammengeschlossen haben - liess der Kreml sein militärisches Vorgehen in Georgien absegnen. Eine Anerkennung der abtrünnigen georgischen Provinzen durch den engeren Kreis der russischen Verbündeten erreichte er bisher jedoch nicht. Viele von Russlands Bündnispartnern - allen voran China - haben selber Probleme mit SeparatistInnen. Nur Nicaragua erkannte die abtrünnigen georgischen Provinzen als Staaten an.

Moskau fühlt sich von den USA eingekreist und will sich an allen Fronten absichern. Das OVKS-Verteidigungsbündnis beschloss, das bereits 2005 geplante Projekt zum Aufbau eines schlagkräftigen Heeresverbandes für die Region Zentralasien zu reanimieren. Russland, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan wollen Truppen stellen. Laut OVKS-Generalsekretär Nikolaj Bordjuscha ist das Ziel des neuen Verbandes die Sicherung der Stabilität in Zentralasien. Ausdrücklich wird auch Afghanistan als möglicher Unruheherd genannt. Das OVKS plant für die geostrategisch bedeutsame Gross­region eine gemeinsame Luftabwehr und gemeinsame Kommunikationseinrichtungen. «Die derzeitige Weltlage sowie die Lage rund um Russland und die OVKS-Staaten zwingen uns dazu, Trainings, Kommandostabübungen und Schulungen abzuhalten», erklärte Bordjuscha.

Interessante Freunde

Seit in Lateinamerika russlandfreundliche Linksregierungen an der Macht sind, hat der Kontinent für den Kreml rasant an Bedeutung gewonnen. Russische Militärs erörterten in den letzten Monaten die Möglichkeit, dass russische Langstreckenbomber auf Kuba landen könnten. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez wurde in kurzer Zeit zu einem gern gesehenen Freund. So kaufte Venezuela seit 2005 für 4,4 Milliarden US-Dollar russische Waffen. Als Chávez letzte Woche in Moskau weilte - es war bereits der zweite Besuch in diesem Jahr -, gewährte ihm die russische Regierung einen zusätzlichen Kredit für Waffenkäufe in Höhe von einer Milliarde US-Dollar. Wie schon bei den vorhergehenden Treffen wurden erneut Wirtschaftsvereinbarungen unterzeichnet. So ist beispielsweise die Schaffung eines gemeinsamen Ölkonsortiums unter Führung der staatlichen Erdölgesellschaft Petróleos de Venezuela mit dem russischen Erdgasriesen Gasprom sowie die Bildung einer gemeinsamen Bank mit einem Startkapital von zwei Milliarden US-Dollar geplant. Chávez erklärte, er unterstütze «alle Handlungen», die Russland «im Kaukasus vollzogen hat». Im November dieses Jahres ist ein Gegenbesuch des russischen Präsidenten in Caracas geplant.

Zwischen Moskau und Caracas gibt es inzwischen viel Symbolik, auf die man in Washington demonstrativ nüchtern reagiert. So landeten im September zwei unbewaffnete russische Langstreckenbomber vom Typ TU-160 auf einem Flughafen in Venezuela. Damit zeigte Russland erstmals seit seinem Abzug von Kuba 2001 wieder Präsenz in Lateinamerika. Ende September verliessen zudem vier russische Kriegsschiffe, darunter der moderne Raketenkreuzer Peter der Grosse, den Nordmeerhafen Seweromorsk und nahmen Kurs auf den syrischen Hafen Tartus, wo Russland eine Marinebasis plant. Von der östlichen Mittelmeerküste soll es weiter in die Karibik gehen, wo die russischen Schiffe Mitte November an einem venezolanischen Manöver teilnehmen sollen.

Doch der treueste Partner für Russ­land ist ­eigentlich ­Weissrussland. Seit 1999 ­arbeiten beide Seiten an der Bildung einer ­Staatenunion mit gemeinsamer Währung. Das Projekt kommt jedoch nicht so recht voran, weil Präsident Alexander Lukaschenko Verhandlungen auf ­Augenhöhe verlangt. Im Januar 2007 stellte Russland sogar für kurze Zeit die Öllieferungen an Weissrussland ein, weil die beiden Staaten sich nicht über die Preise für Öl und Gas einigen konnten. Minsk begann danach, auf eigene Faust Öl aus der Transitpipeline ab­zuzapfen. Seit dem Ölstreit mit Russ­land gab es in Europa die Hoffnung, das autoritäre Regime würde sich letztlich doch noch demokratisieren und dem Westen zuwenden. Vor den weissrussischen ­Parlamentswahlen hatte ­Lukaschenko diese Hoffnungen in der EU verstärkt. Doch nachdem die Opposition letzten Sonntag keinen einzigen Sitz im ­Parlament erobern konnte, ist klar, dass Lukaschenko die traditionell guten Beziehungen zu Russ­land nicht aufs Spiel setzen wird. Anschuldigungen aus dem Westen, es sei zu Wahlfälschungen gekommen, wies Lukaschenko zurück.

Nun will Moskau Weissrussland wieder stärker an sich binden, wird dafür dem Land aber wirtschaftlich ­stärker unter die Arme greifen müssen. Als Antwort auf die geplanten US-amerikanischen Raketenanlagen in Polen und Tschechien will Moskau in Weiss­russland eigene Raketen aufstellen. Ende September begann zudem ein russisch-weissrussisches Manöver, an dem 50 000 SoldatInnen teilnehmen.

Späte Genugtuung

Die Gefühle der RussInnen angesichts der wachsenden Spannungen mit den USA sind zwiespältig. Dass die russische Armee den Angriff der georgischen Truppen auf Südossetien zurückgeschlagen hat, empfindet die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als späte Genugtuung für den Nato-Einsatz gegen das mit Russland verbündete Serbien im Kosovokrieg von 1999. Die Bombardierung Belgrads durch Nato-Flugzeuge ist bei den RussInnen noch so präsent, als sei es gestern gewesen. Insbesondere unter den mittelständischen GrossstädterInnen wachsen die Befürchtungen, dass die internationalen Spannungen mit den USA und anderen westlichen Ländern sowie die internationale Finanzkrise zu persönlichen Einschränkungen für sie führen könnten. Nur ungern möchten die MoskauerInnen auf den kleinen Wohlstand verzichten, der ihnen unter Wladimir Putin zuteil wurde: Urlaubsreisen nach Ägypten oder in die Türkei, ein stabiles Einkommen, ein Auto und eine Wohnung auf Kredit.

Niemand will hier in die Nato

Kommt es zum Konflikt um die Krim?

Viele westliche Medien sagten nach dem Georgienkrieg Mitte August bereits den nächsten Konflikt auf der ukrainischen Halbinsel Krim voraus. So wurde die Behauptung des ukrainischen Aussenministers Wladimir Ogrysko, auf der Krim würden bereits russische Pässe ausgegeben, von westlichen Zeitungen ungeprüft übernommen. KorrespondentInnen berichteten von zwanzig bis fünfzig Personen, die täglich das russische Konsulat in Simferopol, der Hauptstadt der autonomen Republik Krim, aufsuchten und dort Pässe erhielten. Eine Behauptung, die von niemandem bestätigt wurde.

«Das riecht nach Provokation»

Bei vielen Berichten ging es offenbar vor allem darum, Russland aggressive Absichten zu unterstellen und eine Parallele zu Südossetien zu konstruieren. Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass viele BewohnerInnen auf der Krim einen russischen Pass haben. Das ist aber nichts Neues, sondern jahrelange Praxis. So besitzen viele RussInnen auf der Krim eine Datscha. Auch zahlreiche GastarbeiterInnen von der Krim, die in Russland auf dem Bau arbeiten, haben sich der Einfachheit halber einen russischen Pass besorgt. Szenarien von einem möglichen Krimkonflikt riechen «nach Provokation», erklärte Ministerpräsident Wladimir Putin gegenüber dem Deutschen Fernsehen ARD. Russland habe die Grenzen der heutigen Ukraine «längst anerkannt».

Laut der Verfassung von 1996 ist die Ukraine ein neutrales Land. Dass der Verfassungsartikel durchaus der Stimmung im Land entspricht, zeigen Meinungsumfragen, wonach zwei Drittel der Menschen in der Ukraine gegen einen Beitritt zur nordatlantischen Militärallianz Nato sind. Das Werben des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko für einen Nato-Beitritt findet im Ausland zwar viel Gehör. Dass Juschtschenko, Anführer der Orangen Revolution von 2004/05, laut Umfragen inzwischen nur noch auf die Unterstützung von zehn Prozent der Bevölkerung zählen kann, wird in westlichen Medien aber verschwiegen.

Der Kreml hat immer wieder deutlich gemacht, dass es den Beitritt der Ukraine und Georgiens zur Nato verhindern will. Dazu muss sich Moskau aber nicht aktiv einmischen, solange die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gegen einen Nato-Beitritt ist.

«Landesverräterin» Timoschenko

So erklärt Wiktor Janukowitsch, ein Nato-Beitritt sei nur mit einem Referendum möglich. Janukowitsch ist der Führer der in der russischsprachigen Ostukraine starken Partei der Regionen. Auch die jetzige ukrainische Ministerpräsidentin Julija Timoschenko hat sich der Stimmung im Land angepasst. Die Ikone der Orangen Revolution, deren Wahlblock bis vor kurzem mit der Präsidentenpartei Unsere Ukraine in einer Regierungskoalition vereint war, plädiert weder für einen Nato-Beitritt, noch hat sie sich Juschtschenkos Kritik am russischen Vorgehen in Georgien angeschlossen. Das war einer der Gründe, warum die Partei Unsere Ukraine jetzt die Regierungskoalition mit Timoschenkos Partei aufkündigte. Im Juschtschenko-Lager verurteilt man die Frau mit dem ukrainischen Haarkranz bereits als eine aus Moskau gesteuerte Landesverräterin.



Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 2. Oktober 2008


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