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Der Präsident hat nicht verstanden

Von Kai Ehlers *

Man mag Bundespräsident Joachim Gauck dafür kritisieren, dass er unfähig sei, sein Trauma als Ostdeutscher aus seinen politischen Aufgaben als Vertreter des ganzen deutschen Volkes herauszuhalten. Man mag den Präsidenten auch dafür kritisieren, dass er der an der Spitze der expansiven EU nach Osten strebenden deutschen Avantgarde ein menschenrechtliches Mäntelchen umhängen wollte. Beides trifft zu. Der aus der DDR stammende Präsident repräsentiert ja geradezu deren unbewältigte Geschichte. Und über die expansiven EU-Ziele, insbesondere über die Einmischung der deutschen Politik in die inneren Auseinandersetzungen der Ukraine, ist in den zurückliegenden Wochen reichlich bis dahin in der Öffentlichkeit nicht Wahrgenommenes hochgespült worden. Das betrifft vor allem die Interventionen der Bundesregierung, mit denen sie, gestützt auf die Aktivitäten der Adenauer-Stiftung in der Ukraine selbst, über den Boxer Vitali Klitschko auf einen Umsturz der Regierung von Viktor Janukowitsch hinarbeitet. Bei wem ruft das keine Erinnerungen aus der Vergangenheit hervor? Vor diesem Hintergrund erscheint die Erklärung Gaucks, nicht zu den Olympischen Spielen nach Sotschi reisen zu wollen, als pure Ablenkung.

Ins Schwarze jedoch dürfte ein Kommentar treffen – in seiner hintergründigen Bedeutung nicht unbedingt absichtlich –, der nach der Erklärung unter der Überschrift »Die falsche Strategie« in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erschien. Darin wird kritisiert, dass der Präsident keine »klare Begründung« für seine Erklärung abgegeben habe. »Dies wäre allerdings das Mindeste«, heißt es weiter, »wenn seine berechtigte Kritik in Russland auch vernommen werden soll. Am besten hätte sich Gauck vermutlich vor den Kameras des russischen Staatsfernsehens Gehör verschaffen können, bei einem Auftritt in Sotschi.«

Im Klartext: Gaucks Richtung wird zugestimmt – aber Russland so frontal anzugehen, wie er es getan hat, sei falsch. Etwas, so scheint es, hat das Staatsoberhaupt nicht verstanden.

Wer der Frage nachgeht, was Gauck nicht verstanden haben könnte, trifft auf das Problem des Strategiewechsels, der sich in der US-Politik seit Beginn der zweiten Amtszeit Barack Obamas vollzieht, nachzulesen am besten in der neuesten Veröffentlichung des bekannten Strategen Zbigniew Brzezinski, der nach einer Pause während der Präsidentschaft von George W. Bush heute wieder als Politikberater wirkt. Manche meinen, er sei in der Zeit nach Bush vom Saulus zum Paulus geworden: Nicht mehr Ausweitung der US-Hegemonie unter Einschluss der Europäer als Juniorpartner sei heute die Aufgabe, erklärt er unter dem Titel »America and the Crisis of Global Power«, sondern deren Erhalt und Verteidigung unter den Vorzeichen einer Machtverschiebung von West nach Ost. Klingt nach einer Wende. Doch nach wie vor ist Russland für Brzezinski das größte Problem, nur soll die Eindämmung des Landes in Zukunft nicht mehr durch Ausgrenzung, sondern durch Einhegung in einen »größeren Westen« erfolgen, der China und den asiatischen Staaten entgegentreten könne.

Diese Vision, so Brzezinski, gebe der EU-Ausdehnung eine neue Dynamik. Für die aktuelle Situation folge daraus: »Eine systematisch gepflegte engere Beziehung zwischen Russland und dem Atlantischen Westen (...) könnte durch eine allmähliche russische Akzeptanz einer wirklich unabhängigen Ukraine beschleunigt werden, die dringender als Russland eng bei Europa und vielleicht ein Mitglied der Europäischen Union sein möchte. Daher war die EU im November 2010 so klug, der Ukraine einen Zugang zu ihren Programmen mit Ausrichtung auf ein formales Assoziationsabkommen 2011 zu gewähren. Eine Ukraine, die nicht feindlich gegenüber Russland ist, aber etwas weiter voraus ist in ihrem Zugang zum Westen, hilft Russlands Bewegung nach Westen in Richtung einer potenziell lohnenden Europäischen Zukunft wirklich zu ermutigen. Eine vom Westen isolierte, in wachsendem Maße Russland untergeordnete Ukraine würde dagegen Russlands unkluge Wahl zugunsten seiner imperialen Vergangenheit ermutigen.«

»Neuer Wein in alten Schläuchen« oder auch »Wolf im Schafspelz«, möchte man meinen. Der Bundespräsident scheint das neue Spiel jedoch so oder so nicht verstanden zu haben. Man fragt sich natürlich auch, was an dem Spiel wirklich neu ist. Die russische Regierung zumindest hat ihre Zweifel. Anders ist das »eisige Schweigen«, das Wladimir Putin zu Gaucks Erklärung einhält, nicht zu verstehen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 13. Dezember 2013


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