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GUS 15 Jahre nach UdSSR-Zerfall - Kein Zusammenschluss nach EU-Muster

Die GUS ist in der jetzigen Form kaum fähig, die ehemaligen Unionsrepubliken zusammenzuhalten

Von Vitali Dymarski *

Die Serie von Jubiläen, die mit dem 15. Jahrestag des UdSSR-Zerfalls und der Erlangung der Unabhängigkeit durch die ehemaligen 15 Unionsrepubliken stattgefunden hatte, ist am vergangenen Sonnabend in Kasachstans Hauptstadt Astana zu Ende gegangen.

Ein folgerichtiger Ort für die Jubiläen, denn Kasachstan und sein Präsident Nursultan Nasarbajew haben das sinkende Schiff mit dem Namen "Sowjetunion" am 16. Dezember 1991 als letzte verlassen.

Streng gesehen, war das Schiff zu dem Zeitpunkt gesunken, denn eine Woche vor der Ausrufung der Unabhängigkeit Kasachstans waren bereits die Abkommen von Beloweschskaja Puschtscha über die Auflösung der Union unterzeichnet worden. Nasarbajew war dazu übrigens nicht eingeladen worden. Daher wird er heute auch nicht unter jenen erwähnt, die den Zerfall angeblich verschuldet hatten.

Unter den Schuldigen werden üblicherweise Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und die subversiven Kräfte im Ausland genannt.

Es wäre unseriös, von einer Verschwörung ausländischer Kräfte zu sprechen, denen die Sowjetunion zum Opfer gefallen sei. Sonst würde es heißen, dass diese subversiven westlichen Geheimdienste die gesamte KPdSU zu ihrem Agenten gemacht hätten. Denn gerade die Kommunistische Partei hat einen unschätzbaren Beitrag zur Beseitigung des Sowjetreichs geleistet. Die Partei erwies sich als völlig unfähig, die Realitäten adäquat zu analysieren und die Wirtschaftslage unter den Bedingungen der sinkenden Ölpreise nüchtern einzuschätzen. (Die damalige "Volkswirtschaft" war nämlich - wie auch heute die Wirtschaft Russlands - vom Exportrohr absolut abhängig.)

Der Ausgangspunkt der letzten Phase des Zerfalls (merkwürdigerweise erinnert sich heute kaum jemand daran) war die Idee der patriotisch gesinnten Kommunisten unter Leitung eines gewissen Iwan Poloskow, eine KP Russlands innerhalb der KPdSU zu gründen - unter dem Vorwand, dass die Russische Föderation gerade die Unionsrepublik sei, von der die restlichen Unionsrepubliken zehren und von denen Russland selbst nichts zurück bekomme. Schon der erste Versuch, die Zwillinge - auf dem Wege der Gründung einer KP der Russischen Föderation - voneinander zu trennen, führte zu einem unumkehrbaren zentrifugalen Prozess.

Kaum jemand erinnert sich heute auch daran, dass die damalige kasachische Hauptstadt Alma Ata exakt fünf Jahre vor der Verkündung der Unabhängigkeit Kasachstans, am 16. Dezember 1986, von den ersten Massenunruhen erschüttert wurde, die gewaltsam niedergeschlagen und von der damaligen Propaganda als nationalistische Ausschreitungen bewertet wurden. In Wirklichkeit war aber der Protest weniger von einem Wechsel des bisherigen kasachischen Republikchefs Kunajew durch den Russen Kolbin, sondern vielmehr von der zynischen Ignoranz des erwachten Volkswillens in den sogenannten nationalen Provinzen durch die totalitäre Machtzentrale ausgelöst worden.

Nicht nur für die nationale politische Elite Kasachstans war dies eine gute Lektion, sondern auch für die Eliten der anderen Unionsrepubliken. Darin sahen sie die strahlenden Perspektiven einer Unabhängigkeit und einer Selbständigkeit in der Beschlussfassung ohne Rücksicht auf die Machtzentrale und deren hemmende Kontrolle.

Eine weitere in Vergessenheit geratene Tatsache: Die Erklärung über die Staatssouveränität der Ukraine wurde im Juli 1990 angenommen, also viel früher als der August-Putsch 1991, geschweige denn die Abkommen von Beloweschskaja Pustscha. Worin liegt hier denn die Schuld Gorbatschows?

Wenn man schon von seiner Schuld sprechen kann, so bestand diese in seinem Versuch, das Land und die Partei zu reformieren. Dass die Zwillinge eine Behandlung brauchten - daran zweifelte nämlich kaum jemand. Leider waren sie zu dieser Operation nicht bereit: Schon die erste Berührung mit dem Skalpells versetzte sie ins Koma. Dabei war gerade Gorbatschow mehr als jemand sonst an einer Aufrechterhaltung der Sowjetunion interessiert, allein schon um seine Macht beizubehalten. Er war auch derjenige, der bis zur letzten Minute den Zerfall der Partei und des Staates mit allen Kräften zu verhindern versuchte.

Niemand wird heute sagen können, für wie lange ein neuer Unionsvertrag, dessen Unterzeichnung für den 20. August 1991 geplant war, der UdSSR das Leben verlängert hätte. Gerade dieses Dokument, das den letzten Versuch darstellte, das Land zu retten, animierte aber die Putschisten zu ihrer wahnwitzigen Aktion. Damit rammte die KPdSU-Spitze den letzten Nagel auf den Sarg des Sowjetreiches.

Ist dann etwa Jelzin an allem schuld?

Eine Antwort darauf gaben die weiteren Ereignisse. Am 24. August erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit, am 25. August folgte Weißrussland ihrem Beispiel, am 27. August war Moldawien, am 30. August Aserbaidschan und am 31. August Kirgisien dran. Am 05. September erklärte der Volksdeputiertenkongress der UdSSR seine Selbstauflösung. "Spätzünder" Kasachstan kam mit seiner Unabhängigkeitserklärung am 16. Dezember als Letzter.

Insofern war das Treffen in Beloweschskaja Pustscha, an dem Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch als die höchsten Repräsentanten Russlands, der Ukraine und Weißrusslands teilnahmen, eher eine Sitzung der Liquidationskommission: Die nahezu gesamte "Belegschaft" hatte zu dem Zeitpunkt bereits gekündigt und das Büro-Mobiliar samt Tresor mitgenommen. Es gab praktisch nichts mehr, was man verwalten könnte.

War es aber nun dennoch möglich, die Union zu bewahren?

Schon, wenn sich die KPdSU-Spitze freiwillig zu einer Selbstreformierung entschlossen hätte, statt von Gorbatschow zu fordern, der "demokratischen Orgie" ein Ende zu setzen. Und wenn sie selbst die längst herangereiften politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgestaltungen im Lande durchgesetzt hätte.

Der andere mögliche Weg: Die KPdSU hätte mit Hilfe der bewaffneten Strukturen versuchen können, die Einwohner der Unionsrepubliken gewaltsam zum Verbleib im Unionsstaat zu zwingen. Etwas in der Art wurde beispielsweise in Jugoslawien versucht. Glücklicherweise wurde dieser Versuch in der UdSSR im August 1991 im Keim erstickt.

Im Endeffekt einigten sich alle - mit Ausnahme der baltischen Republiken - auf die Quasi-Union in der Form der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.

Trotz ihrer offensichtlichen Uneffektivität hat die GUS auch 15 Jahre nach ihrer Gründung genug Befürworter. Immerhin hat die Gemeinschaft eine relativ schmerzlose Scheidung zwischen den ehemaligen Unionsrepubliken ermöglicht.

Jene, die auch heute für ein Weiterbestehen der GUS plädieren, lassen sich in zwei Kategorien aufteilen.

Die erste sieht darin kaum noch eine organisatorische Struktur, die politische und wirtschaftliche Integrationsfragen regelt, sondern eher einen gemeinsamen Kulturraum, in dem die Völker der ehemaligen UdSSR ausschließlich durch Geschichte, Kultur und Mentalität vereint sind.

Die zweite Kategorie ist dagegen vordergründig um ein Weiterbestehen der politisch-ökonomischen Komponente der Gemeinschaft bemüht. Um das Scheitern der GUS gerade in diesen Fragen nicht zu sehen, muss man aber blind sein. Insofern müssten die Befürworter einer multilateralen Integration ein anderes Ziel haben, nämlich eine Beibehaltung der GUS als einer Plattform für eine Neuauflage der UdSSR beziehungsweise des Russischen Reichs.

Dieses Ziel ist aber kaum erreichbar. Allein schon die langjährigen und vergeblichen Bemühungen um die Gründung eines russisch-weißrussischen Unionsstaates beweisen, dass selbst die mit Russland so eng verwandten Länder keinesfalls danach trachten, wieder unter die Fittiche des ehemaligen Machtzentrums zu kommen.

In diesem Zusammenhang wären die sich immer wieder wiederholenden Versuche, die GUS nach dem EU-Muster umzumodeln, eines Kommentars wert.

Davon abgesehen, dass die Herstellung der EU mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen hat, gab es zumindest zwei Hauptvoraussetzungen dazu.

Die erste ist die völlige Gleichberechtigung. Die EU kennt keine "Big Brothers" und nimmt alle Beschlüsse einstimmig an. Der jüngste Vorfall mit Polen, das die EU-Verhandlungen mit Russland über einen neuen Grundlagenvertrag blockiert hat, ist zwar sowohl für Moskau als auch für Brüssel unangenehm, er demonstriert aber auch die Unerschütterlichkeit dieses Prinzips.

Die zweite Voraussetzung: Die politischen Systeme in den Mitgliedsländern müssen mehr oder weniger gleich sein und auf demokratischen Werten beruhen. Deshalb ist die EU-Erweiterung stets mit bestimmten wirtschaftlichen und politischen Anforderungen an die jeweiligen Kandidaten verbunden. Das ist auch einer der Hauptgründe dafür, warum etwa die Türkei bei ihren EU-Beitrittsbemühungen solche Schwierigkeiten hat.

In der GUS dagegen ist nahezu die gesamte Palette politischer Regimes vorzufinden: Totalitarismus, Autoritarismus, Demokratie im Anfangsstadium, "souveräne Demokratie" usw. Wie könnten sie alle unter einen Hut gebracht werden?

Insofern wird die GUS in der jetzigen Form höchstwahrscheinlich schrittweise dahinsiechen. Die GUS-Gipfel sind eher eine geeignete Form für effektive bilaterale Kontakte als für wirksame gemeinsame Entscheidungen. Ein mögliches Zukunftsmodell der GUS wäre eher ein Präsidentenklub nach dem G8-Muster.

* Vitali Dymarski ist Mitglied des Expertenrates von RIA Novosti.

* Quelle: RIA Novosti, 21. Dezember 2006; http://de.rian.ru


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