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Aufstandsgefahr in Inguschetien

Schwere Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei in Nasran

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In der russischen Republik Inguschetien wächst die Unzufriedenheit. Sie könnte sich zu einem Aufstand auswachsen, befürchtet so mancher.

Zuerst flogen Steine in Richtung Polizei, später auch Molotow-Cocktails. Dann schlugen die Ordnungskräfte zurück, setzten Tränengas ein, feuerten Warnschüsse in die Luft ab und nahmen mehrere Dutzend Teilnehmer eines Protestmeetings in Nasran, der größten Stadt der nordkaukasischen Republik Inguschetien, fest. Neben Vertretern von Bürgerrechtsorganisationen waren darunter auch mehrere Journalisten, sogar die Korrespondenten der halbamtlichen Nachrichtenagentur RIA-Nowosti.

Bilder wie diese kann das Zentrum in Moskau auf der Zielgeraden der russischen Präsidentenwahlen weniger denn je gebrauchen. Denn sie passen nicht zu den Entwarnungen, die Präsident Wladimir Putin bereits vor Monaten in Sachen Nordkaukasus ausgegeben hat: Die Region, Tschetschenien eingeschlossen, sei befriedet, die lokalen Verwaltungschefs hätten die Lage voll im Griff, behauptete er. Das Meeting der Opposition, das die Polizei am Sonnabend (26. Januar) in Inguschetien auseinandertrieb, und die Gewaltbereitschaft von Ordnungskräften und Demonstranten lassen das genaue Gegenteil befürchten. Experten rechnen bereits mittelfristig mit einem bewaffneten Aufstand, dem sich auch Nachbarn anschließen könnten.

Ramsan Kadyrow, den auf Putins Vorschlag Anfang letzten Jahres vom tschetschenischen Parament zum Republikspräsidenten gewählt wurde, sorgt dort mit eiserner Faust für Ordnung. Reste von Einheiten der Separatisten haben sich daher in die Nachbarrepubliken abgesetzt, wo sie bereits Mitte der 90er Jahre die ersten Stützpunkte und Trainingslager anlegten und seither eifrig Nachwuchs rekrutieren, vor allem unter der Jugend, die in der armen Region, wo die Arbeitslosenrate bei über 60 Prozent liegt, keine Perspektive erkennt.

Neben der traditionell unruhigen Vielvölkerrepublik Dagestan, deren Bevölkerung sich zunehmend empfänglich für einen radikalen und militanten Islam zeigt, formiert sich vor allem in Inguschetien ein religiös verbrämter antirussischer Widerstand. Islamisten und Separatisten können inzwischen auf Unterstützung, zumindest aber auf Sympathien zählen. Der Grund ist die massive Unzufriedenheit mit Republikchef Murat Sjasikow.

Mit Rückendeckung des Kremls hatte dieser seinen populären Vorgänger 2001 zum Rücktritt gezwungen: Ruslan Auschew, der sich in Moskau durch Forderungen nach Verhandlungen mit den tschetschenischen Separatisten und durch kritische Distanz zu Putin unbeliebt gemacht hatte.

Der ehemalige Geheimdienstgeneral Sjasikow dagegen war bereit, dem Kreml die nötigen Mehrheiten zu organisieren. So kam die Putin-Partei »Einiges Russland« bei den Parlamentswahlen im Dezember in Inguschetien angeblich auf 98 Prozent. Gleichermaßen rekordverdächtig war die Wahlbeteiligung. 54 Prozent aller Stimmberechtigten sollen allerdings inzwischen durch ihre Unterschrift bekundet haben, dass sie den Urnengang boykottiert hätten.

Auch weil das Oberste Gericht in Moskau eine Klage wegen Wahlfälschungen bisher nicht zuließ, hatte die Opposition am Sonnabend ein Protestmeeting anberaumt. Sie wirft Sjasikow außerdem Korruption und Inkompetenz vor. Dieser hatte, um den Protest zu verhindern, am Freitag notstandsähnliche Regelungen in Kraft gesetzt und mit akuter Terrorismusgefahr begründet. Aufgelöst wurde das Meeting daher bereits, bevor es begann. Von Spezialeinheiten aus anderen Regionen, denn die einheimischen verweigerten Sjasikow bei Strafexpeditionen gegen die Bevölkerung schon mehrmals den Gehorsam.

Das nächste Meeting, fürchten Beobachter, könnte blutiger ausgehen. Geplant ist es für den 23. Februar. An eben jenem Tag ließ Stalin 1944 Tschetschenen, Inguschen und weitere Völker des Nordkaukasus deportieren.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2008


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