Iwangorod probt den Aufstand
Abgeordneter fordert Anschluss an Estland
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Mit Iwangorod wussten die meisten Russen bisher nichts anzufangen. Seit Anfang April ist die knapp
10 000 Einwohner zählende Stadt in vieler Munde. Grund ist eine Petition mit der Bitte um Anschluss
an Estland.
Versehen mit den Unterschriften von mehr als zehn Prozent aller stimmberechtigten Bürger schickte
der Stadtverordnete Juri Gordejew einen Brief an die Präsidenten Russlands und Estlands, Dmitri
Medwedjew und Toomas Hendrik Ilves. Darin baten die Unterzeichner um die Entlassung ihrer Stadt
aus der Russischen Föderation. Bisher reagierten weder Moskau noch Tallinn.
Die russische Verfassung sieht zwar den Beitritt von Regionen vor, ahndet Ausbruchsversuche
jedoch mit aller Strenge als Separatismus. Einen Vorwurf, gegen den Gordejew sich mit Vehemenz
verwahrt: Nicht Separatismus, sondern Verzweiflung habe ihm und seinen Mitstreitern die Hand
geführt. Die Petition sei das letzte Mittel gewesen, um gegen »Beamtenwillkür und absolute
Gleichgültigkeit« in Moskau zu protestieren und Hilfe für die Bewältigung von Problemen zu
bekommen, mit denen die Stadt überfordert ist.
Seit die Jutefabrik und das Druckmaschinenwerk still stehen, in denen weit über 2000 Menschen
beschäftigt waren, müssen die meisten Familien sogar bei Grundnahrungsmitteln sparen. Ganze
Straßenzüge stehen mit mehreren Hundert Rubeln pro Haushalt in der Kreide, seit zu Jahresbeginn
neue Tarife für Strom, Fernwärme und Warmwasser gelten. Die sind dreimal so hoch wie in anderen
Städten der Region, denn Iwangorod, direkt an der Grenze zu Estland gelegen, wird von dort mit
Wasser und Strom versorgt. Wegen überbordender Schulden drehten die Esten den Nachbarn
schon 1998 für mehrere Wochen den Wasserhahn zu. Damals mobilisierte Gordejew die Einwohner
zum ersten Mal für eine Petition zwecks Austritt aus der Russischen Föderation. Moskau, sagt er,
habe damals sofort reagiert, die Außenstände beglichen und eine Untersuchungskommission
geschickt. Geändert habe sich jedoch nichts.
Kooperationsprojekte mit Estland haben sich mit dessen EU-Beitritt erledigt. Seither müssen die
Iwangoroder sogar ein Visum haben, um die Gräber ihrer Angehörigen zu besuchen. Denn der
Friedhof liegt auf der anderen Seite der Grenze, jenseits des Flusses Narva, der Iwangorod von der
estnischen Stadt trennt, die nach dem Fluss benannt ist. Zum Überlaufen brachte das Fass, dass die
Gebietsregierung Medwedjews Versprechen, jeder noch lebende Kriegsteilnehmer werde den 65.
Jahrestag des Sieges in einer eigenen Wohnung feiern, einfach ignorierte. Die Warteliste hat
Gordejew der Petition beigelegt. Ebenso Ansichtskarten, die den Verfall der Stadt zeigen.
Mit jenen 50 Millionen Rubel (ca. 1,3 Mio. Euro), die Iwangorod als Zusatzsteuer abführen muss, seit
es vor drei Jahren den Status eines Kreiszentrums verlor, könnte sich die Stadt aus dem Sumpf
ziehen und den Tourismus ankurbeln, glaubt Gordejew. In der Tat ist Iwangorod mit zwei
mittelalterlichen Festungen, barockem Rathaus und unberührter Auenlandlandschaft an der Narva
alles andere als reizlos.
Bürgermeister Wassili Kuprijantschik fürchtet indes, Moskau könnte seinen Unmut über die
Austrittspetition an ihm auslassen. Die Sammlung weiterer Unterschriften hat er daher verboten und
das in der Lokalzeitung zur Unterzeichnung ausliegende Exemplar beschlagnahmen lassen.
* Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2010
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