Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"In Russland gibt es zur Zeit keine gesicherte Freiheit für Journalisten"

Zwei Kommentare zur Ermordung der Reporterin Anna Politkowskaja


Unaufgeklärte Verbrechen

Journalistenmorde in Russland

VON KARL GROBE *

"In Russland gibt es zur Zeit keine gesicherte Freiheit für Journalisten, denn der Staat beachtet die Rechte der Rede- und Pressefreiheit nicht. Das ist die Ursache für alles (die Ermordung von Journalisten; d. Red.). Und dafür sind die Oberen definitiv verantwortlich." Mit diesem Satz fasste der politische Journalist Jewgenij Kisseljow am Montag in der Moscow Times einen Kommentar zur Ermordung der Reporterin Anna Politkowskaja zusammen. Die Hintermänner von Journalistenmorden werden praktisch nie gefasst, schrieb er. Die Ermittlungen laufen, doch es heißt in Moskauer Zeitungen, der auf einem Überwachungsvideo dargestellte mutmaßliche Mörder sei vielleicht schon selber liquidiert worden.

Regimetreue Kreise streuen unterdessen in Moskau eine andere Spekulation. Die lautet, Oppositionelle hätten die Ermordung Anna Politkowskajas veranlasst, um der natürlich völlig unschuldigen Regierung Schwierigkeiten zu machen. Kritische Anmerkungen in den staatlichen Medien konzentrieren sich auf den kriminalpolizeilichen Aspekt des Verbrechens; die politischen Aussagen der Ermordeten, deren letzte Bücher in Russland nicht haben erscheinen können, werden kaum angesprochen.

Heute wird sich die Spitze Russlands in Dresden entsprechenden Fragen stellen müssen - "wenn Frau Merkel Putin nicht fragt, dann frage ich", versprach der SPD-Außenpolitiker Gert Weisskirchen -, und der russische Präsident wird sein Schweigen nicht mehr durchhalten können. Anna Politkowskaja wurde ausgerechnet an seinem 57. Geburtstag umgebracht.

Kritische, investigative Journalisten sind in Russland des öfteren Mördern zum Opfer gefallen. Im Oktober 1994 wurde Dmitri Cholodow umgebracht. Der Spezialist für Korruption innerhalb der Streitkräfte starb, als er in seinem Büro einen Koffer öffnete, den er nach einem anonymen Hinweis auf darin verborgene brisante Papiere aus einem Moskauer Bahnhof abgeholt hatte.

Im März 1995 schoss ein Unbekannter den Fernsehchef Wladislaw Listjew vor seiner Wohnung nieder. Listjew war kurz zuvor Leiter des Fernsehkanals ORT geworden, der landesweit zu empfangen ist und damals unter der Kontrolle des Oligarchen Boris Beresowskij stand.

In der buddhistischen Teilrepublik Kalmükien wurde im Juni 1998 Larissa Judina, Chefredakteurin der Regionalzeitung Sowjetskaja Kalmykia segodnja, zusammengeschlagen und erstochen. Sie hatte sich durch kritische Berichte über Korruption und Nepotismus den Zorn des despotischen Republikchefs Kirsan Iljumschinow zugezogen.

Vor seinem Moskauer Büro wurde im Juli 2004 der Chefredakteur der russischen Forbes-Ausgabe, Paul Klebnikow, niedergeschossen. Er hatte häufig ausführlich über Korruption berichtet und in Reportagen über die reichsten Russen einige unsaubere Quellen ihres Reichtums aufgedeckt.

Ein besonders aufsehenerregender Auftragsmord traf im November 1998 die bekannte Abgeordnete und Menschenrechtsaktivisten Galina Starowoitowa vor ihrer St. Petersburger Wohnung. Zwei Täter wurden 2005 zu langen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil sprach von "Bandenkriminalität, um ihrer politischen Tätigkeit Einhalt zu gebieten"; den politischen Motiven der Verurteilten ging es nicht weiter nach.

Keiner dieser Morde ist also bisher wirklich aufgeklärt worden. Politische Gewalttaten als Bandenkriminalität - das Fachwort heißt "Hooliganismus" - einzustufen, sie also zu entpolitisieren, ist üblich in der russischen Strafverfolgung. Die großen Fernsehanstalten und die amtlichen Agenturen halten sich stets an diese Sprachregelung. Sie gehören entweder dem Staat oder - wie auch die meistverbreiteten Zeitungen - dem Staatskonzern Gasprom, dem neuen Sponsor von Schalke 04 und Arbeitgeber des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder.

* Aus: Frankfurter Rundschau, 10. Oktober 2006


Der Anti-Zynismus von Anna Politkowskaja

Von Andrej Kolesnikow, Moskau **

Das Attentat auf Anna Politkowskaja steht in einer Reihe mit den anderen spektakulären Journalistenmorden in Russland: angefangen bei Dmitri Cholodow bis hin zu Paul Khlebnikov.

Bei all diesen Verbrechen gerieten recherchierende Reporter ins Visier der Mörder. Anna Politkowskaja berichtete über Tschetschenien. Ihr Name und ihre Artikel lösten immer ein starkes Echo aus.

Recherchen sind ein gefährliches Genre. Recherchen in dem immer noch unruhigen Tschetschenien bedeuten eine dreifache Gefahr. Das Attentat auf die Journalistin gibt ein klares Signal, dass es in Tschetschenien nicht so gut geht, wie man bislang glaubte. Das war nicht nur einfach ein Auftragsmord. Anna Politkowskaja starb in der Friedenszeit an den Folgen des Tschetschenien-Krieges. Dieser Krieg entfaltete eine starke Trägheit, und seine ehemaligen Teilnehmer werden noch lange von den Kriegsfolgen nicht verschont bleiben.

Die Journalistin Anna Politkowskaja setzte sich mit ihrer Berichterstattung für die Menschenrechte ein. Dies erforderte ein persönliches Engagement für die Menschenschicksale, die Politkowskaja mit ihren Artikeln zu schützen versuchte. Eine solche Journalistik darf sowohl naiv als auch von Pathos geprägt sein. Sie darf jedoch nicht zynisch sein. Sie trotzt den "höheren Interessen" und der Ungerechtigkeit.

In einem ihrer letzten Beiträge, der der russischen Politik gewidmet war, gebrauchte Politkowskaja den Begriff "Anti-Zynismus". Das Fehlen von Zynismus und der Kampf gegen ihn waren für ihre Berichterstattung maßgebend und prägten ihre Beiträge inhaltlich und stilistisch.

Die Ermordung einer öffentlichen Persönlichkeit dient immer dazu, jemandem etwas zu zeigen. Ein solcher Mord ist von Anfang an dafür bestimmt, Schlagzeilen zu machen. Solche Morde hinterlassen viele Geheimnisse und lösen ein starkes Echo aus. Bei solchen Morden ist der Kreis der Verdächtigen immer zu weit. Solche Morde lassen sich aus kriminellen und manchmal auch aus politischen Gründen sehr schwer aufdecken. Eben darauf rechnen die Mörder und ihre Drahtzieher.

Am einfachsten wäre es, die jetzige tschetschenische Führung verantwortlich zu machen, und persönlich Premierminister Ramsan Kadyrow, über den Politkowskaja in vielen ihrer Enthüllungsbeiträge geschrieben hatte. Eine weitere logische Schlussfolgerung ist, dass der Mord denjenigen in die Hände spielt, die den Verdacht auf die gegenwärtige tschetschenische Führung lenken wollten.

Die Ermittler gehen vielen Spuren nach, und die Ermittlung wird höchstwahrscheinlich ergebnislos ausgehen. Das wäre schade. Denn ein Menschenleben ist ein zu hoher Preis, um ein weiteres Mal auf politische, soziale und moralische Probleme der russischen Gesellschaft aufmerksam zu machen.

** Quelle: RIA Novosti, MOSKAU, 9. Oktober 2006;
Internet: http://de.rian.ru



Zurück zur Russland-Seite

Zur Medien-Seite

Zurück zur Homepage