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Flucht nach Westen

Petrodollars gegen Krisenfolgen - Kooperation und Beteiligungen für neue Technologien: Premier Putin will Rußlands Industrie modernisieren

Von Tomasz Konicz *

Ginge es nach den russischen Medien, müßten derzeit im Kreml die Sektkorken knallen. Der Autozulieferer Magna und sein Partner, die halbstaatliche Sberbank, hätten »eine halbe Milliarde für geistiges Eigentum« aufwenden müssen, titelte kürzlich das Finanzblatt Wedomosti. Für die 500 Millionen Euro, die beide neuen Eigner einbringen, werde Opel nun nach Rußland kommen, frohlockte die Wirtschaftszeitung RBK: »Die russische Autoindustrie hat sich sehr auf dieses Geschäft konzentriert und wartet nun ungeduldig auf die neue Technologie.« Hinzu kommen noch die 170 Millionen Euro, die der »neue« Konzern zur Modernisierung der Produktionsanlagen in Rußland aufwenden will. Schon in neun Monaten sollen die ersten Opel-Fahrzeuge vom Band der Fabrik des Fahrzeugherstellers GAS (von Gorkowskij Awtomobilny Sawod -Autowerk Gorki) in Nischni Nowgorod, der Stadt, die in UdSSR-Zeiten nach dem russischen Dichter benannt war, laufen.

Deal noch nicht perfekt

Bei German Gref, dem Chef der Sberbank, hält sich die Freude in Grenzen. Man müsse erst mal genau die Bedingungen begutachten, unter denen der Opel-Verkauf abgewickelt würde, monierte er. Demnach soll General Motors (GM), das weiterhin 35 Prozent an Opel halten will, den Verkauf seiner Tochter an strikte Vorgaben geknüpft haben, die einen Technologietransfer nach Rußland beschränken. Die dortigen Opel-Partner um den angeschlagenen GAS-Konzern sollen zuerst nur bestimmte Modelle nach Vorgaben von GM in ihren Werken montieren. Die Zeitung Kommersant lamentierte bereits, daß »GM Opel-Technologie nicht in russische Hände verkaufen« wolle.

Neben den vom US-Pleitekonzern errichteten Hürden beim Technologietransfer für die rückständige russische Fahrzeugindustrie ist es der desaströse Zustand des heimischen Automobilmarktes, der die Freude über diesen Coup in Moskau schmälert. Nach jahrelangem stürmischen Wachstum sind die Absatzzahlen für Pkw in der Russischen Föderation eingebrochen. So sanken die Verkäufe von Neuwagen im Juni dieses Jahres um 56 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Im gesamten ersten Halbjahr 2009 fielen sie um 49 Prozent. Noch schlimmer sieht es auf dem Gebrauchtwagenmarkt aus, der neuesten Prognosen zufolge in diesem Jahr um 60 Prozent einbrechen dürfte.

Der führende inländische Autohersteller Awtowas (Lada) reagierte Anfang September mit der Ankündigung, 36000 seiner 110000 Angestellten entlassen zu wollen. Sein Umsatz sank in diesem Jahr um mehr als 50 Prozent, so daß der mit einer Milliarde Euro verschuldete Konzern nur dank eines Staatskredits in Höhe von umgerechnet 560 Millionen Euro vor der Insolvenz gerettet werden konnte. Aber auch der künftige Opel-Partner GAS mußte mit vorgeschossenem Steuergeld vor dem Bankrott bewahrt werden und im Sommer die Entlassung von 7000 seiner 40000 Mitarbeiter bekanntgeben.

Nachfrageeinbrüche und Massenentlassungen bleiben nicht nur auf den Automobilsektor beschränkt. Die Weltbank schätzt, daß in der Föderation Ende 2009 eine reelle Arbeitslosenquote von 13 Prozent erreicht werden dürfte. Die Massennachfrage zwischen Moskau und Wladiwostok erlitt auch aufgrund erstmals seit nahezu einer Dekade wieder fallender Löhne einen Dämpfer. Nach umgerechnet 608 US-Dollar 2008 sank der Durchschnittsmonatslohn zwischen Januar und Juni 2009 auf 599 Dollar.

Hoffnungslos veraltete Industrieanlagen, die oftmals seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht erneuert worden sind, stellen ein gesamtrussisches Problem dar. Dies stellte jüngst Premier Wladimir Putin anläßlich einer Inspektion des havarierten sibirischen Staudamms Sajan-Schuschenskoje fest. Es müsse noch viel getan werden, »um die Zuverlässigkeit der technischen Anlagen« sowie deren regelmäßige Kontrolle und Modernisierung zu gewährleisten, mahnte Putin. Im Grunde ist nur die Rüstungproduktion in der Lage, auf dem globalen Markt erfolgreich zu bestehen. Die anderen Sektoren will Putins Team offenbar per Teilhabe an den Ressourcen der entwickelten Industriemächte, vor allem der strategisch günstig erscheinenden EU, voranbringen. Durch Beteiligungen und Kooperationen mit westlichen Unternehmen, wie im Falle Opel, könnte ein Technologietransfer die russische Ökonomie langfristig modernisieren helfen.

Teure Rettung

Derzeit ist Rußlands Regierungschef eher als ökonomischer Feuerwehrmann unterwegs und versucht, die immer höher auflodernden Krisenbrandherde mit Staatskrediten zu löschen. Seitdem Putin im vergangenen Juni in der kleinen Industriestadt Pikaljowo einen Betrieb mit Medienrummel und unter Arbeiterjubel vor der Pleite rettete, wurde diese Vorgehensweise zu einer Art Krisenroutine: Sobald einem Großbetrieb - wie etwa der Lada-Fabrik in Togliatti, dem Traktorenwerk in Tscheljabinsk oder dem Stahlkombinat in Magnitogorsk - die Insolvenz droht, taucht Putin am Ort des Geschehens unter reger Anteilnahme der Massenmedien auf, gewährt Kredite und inszeniert sich zugleich als Retter in der Not. Zuletzt war dies in einer staatlichen Diamantenmine im sibirischen Mirny der Fall, wo der Premier dem gesamten Industriezweig Hilfen in Höhe von umgerechnet 770 Millionen Euro zusagte.

Diese Krisenbekämpfung ist kostspielig. Das Haushaltsdefizit der Russischen Föderation wird in diesem Jahr acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Die Devisenreserven der Zentralbank fielen nach ihrem Höchststand von 476 Milliarden US-Dollar Ende 2007 auf 402 Milliarden US-Dollar im Juli 2009. Auch die im Stabilisierungfonds der Regierung geparkten Mittel schmolzen von 225 Milliarden US-Dollar 2008 auf derzeit noch 178 Milliarden. Moskau konnte allerdings mit dieser expansiven Ausgabenpolitik einen Absturz der russischen Volkswirtschaft verhindern. Den erleben jedoch beispielsweise die Ukraine oder andere postsowjetische Staaten. Während Rußlands BIP in diesem Jahr einer Prognose des Economist zufolge um sieben Prozent schrumpfen soll, müssen sich die baltischen Länder auf einen Rückgang von 15 Prozent und muß sich die Ukraine sogar auf einen von 17 Prozent einstellen

Aus: junge Welt, 17. September 2009


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