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Russland ist das andere Europa

Plädoyer für ein neues, transkontinentales Bewusstsein: Die vergessenen Visionen des britischen Historikers Geoffrey Barraclough könnten ein Wegweiser sein

Von Peter Linke *

Kein Zweifel, mit seinem verfassungsgemäßen Abgang wollte Wladimir Putin vor allem ein Zeichen setzen - ein Zeichen gegenüber dem Westen, von dem er sich noch immer Anerkennung und Absolution für sich und sein Land erhofft. Ganz in diesem Sinne hat mit General Wladimir Dworkin jüngst einer seiner Vertrauten erklärt, weder die NATO noch Washingtons Raketenabwehrpläne mit den vorgesehenen Stationierungen in Polen und Tschechien stellten eine militärische Bedrohung Russlands dar. Bedrohlich sei einzig und allein "die Perspektive einer zivilisatorischen Isolation des Landes", wenn erst einmal alle Nachbarstaaten irgendwie der NATO beigetreten und mit globalen Raketenabwehrkapazitäten beschäftigt seien, auch die Ukraine und Georgien.

Mehr als 100 Jahre hielt Russland so Westeuropa den Spiegel vor

Wie viele andere "russische Westler" treibt Putin und Dworkin vor allem eine Sorge um: nicht als Teil der westlichen Zivilisation akzeptiert zu werden. Aber gibt es eine solche Zivilisation überhaupt? Was heute gemeinhin als Westen bezeichnet wird, sind im Wesentlichen die Vereinigten Staaten. Sie geben nach wie vor den Takt an, nach dem die so genannte westliche Welt tanzt. Europas politische Klasse gefällt sich dabei in Ambivalenz und Selbstverleugnung, indem sie Amerika politisch bewundert, militärisch fürchtet, kulturell jedoch verachtet.

Einer der ersten, der Europas schwindendes weltpolitisches Ranking thematisierte, war der britische Historiker Geoffrey Barraclough, dessen Geburtstag sich am 10. Mai zum 100. Mal jährte. Anfang 1955 - bei einer öffentlichen Vorlesung an der Universität Liverpool - hatte der in Oxford und München ausgebildete Mediävist gar das "Ende der europäischen Geschichte" beschworen. Es waren der Zweite Weltkrieg und die Wende von Stalingrad 1943, die den jungen Historiker massiv an Europas Zukunftsfähigkeit zweifeln ließ. War, was er und seine Kollegen bis dato als "moderne Geschichte" bezeichnet hatten, nicht vielmehr eine Art "europäisches Zeitalter", das mit dem herausragenden Sieg der Sowjetunion und der USA im Mai 1945 endgültig zu Ende gegangen war? Sollte Geschichte, fragte Barraclough, fortan nicht besser universal gedacht werden? Jenseits allzu enger nationaler und kontinentaler Grenzen? Um geschichtliche Prozesse für die Gegenwart produktiv zu machen, weil im Mittelpunkt ihrer Erforschung nicht die Frage nach dem Ursprung, sondern den Konsequenzen steht? Europas Geschichte wäre demnach nicht länger die Geschichte einer kontinuierlichen Erbepflege von der Antike bis zum heutigen Tag, sondern die Geschichte erheblicher kultureller Brüche und starker externer Wirkfaktoren. Die europäische Zivilisation sei ein äußerst komplexes Geflecht, zu dem neben Sizilien und Skandinavien auch der Balkan und Russland gehörten.

Barraclough wollte nicht so verstanden werden, dass Europas Geschichte komplett zum Stillstand komme, sondern vielmehr, dass sie aufhöre, "von historischer Bedeutung zu sein". 900 Jahre lang habe Europa das Privileg beansprucht, sich als "das weltweit bedeutendste Zentrum politischen Experimentierens, wirtschaftlicher Expansion und intellektueller Entdeckung" zu behaupten. Damit sei es nun vorbei, was erhebliche Folgen auf die weltweit exportierten Werte der europäischen Zivilisation wie Menschenwürde und Individualität habe. Zwar werde es sie weiter geben, jedoch nicht in ihrer überliberalisierten Auslegung.

Für Barraclough war unter diesen Umständen von allergrößtem Interesse, wie europäische Werte in Russland wahrgenommen wurden: Das Land sei nie Europas Antithese gewesen. Die so genannte Revolte gegen Europa - ultimativ zugespitzt in der Debatte zwischen Slawophilen und Westlern - habe sich weder gegen Europa, noch gegen das aus der Antike über Byzanz sowie die christliche Kirche nach Russland gelangte europäische Erbe gerichtet. Wohl aber "gegen den schleichenden Rationalismus und Materialismus der westlichen ›bürgerlichen‹ Zivilisation ... die Vergötzung des Individuums, ungezügelten Wettbewerb, Klassenkonflikte, Privateigentum und das Primat des Technischen sowie die Grundüberzeugung, dass all dies zusammengenommen die sine qua non künftigen historischen Fortschritts" darstelle. Dies - so Barraclough - sei mitnichten "anti-europäisch", vielleicht aber der "wichtigste Grund für den gewaltigen Einfluss der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts auf Westeuropa, brachte sie doch gnadenlos auf den Punkt, was damals alle denkenden Menschen im Westen verfolgte. Und uns noch heute den Schlaf raubt."

Barraclough: "Von entscheidender Bedeutung ist, dass diejenigen, die an Russlands Mission glaubten, gen Westen und nicht gen Osten schauten, Russlands Zukunft als europäische Zukunft dachten. Sie waren überzeugt davon, dass Russland einen Beitrag zu Europa leisten müsse, dass seine Werte - zwar verschieden von denen des Westens, jedoch Teil des europäischen Erbes - ein Schlüssel zu jener Pforte seien, über die den Widersprüchen und Dilemmata der Gegenwart entgangen werden könne."

Mehr als 100 Jahre hielt Russland so (West-) Europa den Spiegel vor. Dieser für beide Seiten fruchtbare Dualismus endete mit dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Ins Zentrum rückte nun der Konflikt zwischen (Sowjet-) Russland und den USA. Die Bilanz dieses Konfliktes fällt mager aus: Das von beiden Seiten betriebene nukleare Wettrüsten entbehrt jeder zivilisatorischen Rationalität, die im Schoß der Bipolarität gereiften nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen haben sich erschöpft, das Prestigeprojekt bemannte Raumfahrt büßte jegliche Strahlkraft ein. Geblieben sind ein Meer enttäuschter Hoffnungen und ein gigantisches atomares Vernichtungspotenzial.

Europa und Russland sind angehalten, gemeinsam gen Osten zu blicken

Höchste Zeit, den alten russisch-europäischen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Zwar kann das postsowjetische Russland dem Europa der EU nicht länger den Spiegel vorhalten, dafür ähneln sich beide in vielerlei Hinsicht inzwischen viel zu sehr. Dennoch können sie einander behilflich sein: Die EU könnte Russland helfen, von seiner sicherheitspolitischen Fixierung auf die USA loszukommen, die doch nur eine weitere nukleare Rüstungsrunde provoziert. Und Russland könnte dem "erweiterten Europa" jene "externen" Anstöße bieten, die der Alte Kontinent immer gebraucht hat, um sich zu konsolidieren. Europäische Zivilisation kann nur als Vielfalt existieren, gerade in Zeiten verminderter globaler Bedeutung. Abendländische Phantastereien helfen da wenig. Nur wenn es permanent seinen Horizont erweitert, kann Europa verhindern, zum historischen Panoptikum, zum "Euroland" für Touristen aus Asien, zu verkommen.

Mit anderen Worten, EU-Europa sollte endlich damit beginnen, sein russisches Potenzial jenseits von Öl und Gas zu nutzen. Früher als andere sah Geoffrey Barraclough ein "pazifisches Zeitalter" heraufziehen. Heute sind wir längst darin angekommen, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Europa und Russland brauchen ein neues, transkontinentales Bewusstsein, dass beiden hilft, die längst überholte Europa-Asien-Dichotomie zu überwinden. Erstmals in ihrer Geschichte sind Europa und Russland angehalten, gemeinsam gen Osten zu blicken. Natürlich erfordert dies intellektuellen Mut. Geoffrey Barraclough hatte reichlich davon. Nicht zuletzt dies macht den 1984 Verstorbenen zu einem der wirklich unverdient vergessenen (Vor-)Denker des vergangenen Jahrhunderts.

* Aus: Wochenzeitung "Freitag" 21, 23. Mai 2008


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