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Am linken Flügel in Russlands Protestfront

Soziale Forderungen finden bei Demonstranten bisher kaum Widerhall

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die russische Protestbewegung »Für ehrliche Wahlen« ist äußerst heterogen. An ihrem linken Flügel marschiert die Linke Front.

Noch vor Monaten wussten nur Experten etwas mit der Linken Front anzufangen. Seit den Massenprotesten in Moskau ist sie in vieler Munde. Vor allem ihr Chef Sergej Udalzow, der bereits mehrfach wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu jeweils 15 Tagen Ordnungshaft verurteilt wurde. Sein Schicksal war bei den Massenprotesten in den vergangenen Wochen immer wieder ein Thema.

Die Linke Front ist Kollektivmitglied von Solidarnost - einer Sammlungsbewegung neoliberaler, nationalkonservativer und linksradikaler Gegner von Ministerpräsident Wladimir Putin. Nach eigenen Angaben unterhält die Front Basisorganisationen in mindestens 40 der insgesamt 83 russischen Regionen. Gegründet hatte sie sich schon im Herbst 2005. Linke - vor allem jüngere - rebellierten gegen die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die sie als versöhnlerisch und angepasst wahrnahmen, Gennadi Sjuganows KP sei Teil des Systems und daher nur an dessen Wandel, nicht an einem Systemwechsel interessiert. Die Front dagegen wollte die Massen für die Wiederherstellung einer basisdemokratisch geläuterten Sowjetmacht mobilisieren. Die Führer hofften auf Tausende Teilnehmer bei den von der Front organisierten Protesten Ende 2005, als die Regierung eine ganze Reihe bis dahin kostenloser Sozialleistungen strich - vor allem für Rentner - und durch Pauschalen in bar ersetzte, die meist zu niedrig kalkuliert waren. Zu den Protesten kamen jedoch zu wenige, der erhoffte Durchbruch gelang der Linken Front nicht.

Das änderte sich erst nach den Aktionen der Globalisierungsgegner beim G-8-Gipfel 2006 in St. Petersburg. Dort lernten die Frontleute die Avantgarde der Roten Jugend (AKM) kennen und schätzen. Deren Chef Sergej Udalzow übernahm nach der Fusion im Oktober 2008 auch die Führung der Front und versuchte, ihr Strukturen zu geben, was jedoch nur in Teilen gelang. Die Front besteht derzeit aus mehreren kleinen Organisationen und versteht sich als Sammelbecken wahrer Marxisten-Leninisten, die für Sozialismus, Demokratie und Internationalismus eintreten, ist jedoch zur Zusammenarbeit mit allen bereit, die für wenigstens eines dieser Ziele eintreten.

Daher auch Udalzows Beitritt zu Solidarnost, wo seine sozialen Forderungen und Klagen über die betrügerische Privatisierung von Staatseigentum kaum Anklang finden. Der demnächst 35-jährige Jurist, Spross einer Moskauer Gelehrtenfamilie, hatte bei den Duma-Wahlen 1999 für den Block »Für Stalin und die UdSSR« kandidiert. Als der an der Sperrklausel scheiterte, wechselte Udalzow zur Partei Werktätiges Russland, die 2003 jedoch ihre Zulassung verlor. Fast zeitgleich überwarf sich Udalzow mit Parteichef Viktor Anpilow, trat der orthodoxen Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) von Oleg Schenin bei und übernahm die Leitung der Jugendorganisation AKM, die später mit der Front fusionierte.

Freunde beschreiben Udalzow, dessen Urgroßvater während der Revolution von 1905 zu Lenin und den Bolschewiki stieß, als einen Mann, der für seine Überzeugungen brennt und notfalls bereit ist, dafür zu leiden. Seine Kompromisslosigkeit ist auch Sprengstoff für Solidarnost und die Protestbewegung. Obwohl die Sprecher der einzelnen Gruppen vereinbart hatten, nicht auf eigene Rechnung zu verhandeln, weder mit der Macht, noch mit der parlamentarischen Opposition, schloss Udalzow für seine Front in der vergangenen Woche mit dem kommunistischen Präsidentschaftskandidaten Gennadi Sjuganow ein Kooperationsabkommen. Allein Sjuganow, argumentierte Udalzow, habe das Potenzial, Putin die demütigende Stichwahl aufzwingen. »Auf Sjuganow muss man setzen, selbst wenn man seine Ansichten nicht teilt«, erklärte er.

Für die »Bourgeois« bei Solidarnost ist das schlichtweg eine Zumutung. Sie favorisieren den Multimilliardär Michail Prochorow, der wiederum für Udalzow das rote Tuch ist. Der ehemalige Vizepremier Boris Nemzow schlug schon vor, den nächsten geplanten Protestzug am 4. Februar in drei Kolonnen zu teilen: zuerst Liberale und Parteilose, danach die Nationalisten und am Schluss die Kommunisten. Womit die Spaltung der Protestbewegung offensichtlich wäre. Dagegen freilich erhob sich (noch) die Mehrheit des Koordinierungskomitees.

* Aus: neues deutschland, 25. Januar 2012


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