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Dmitri Medwedjews durchwachsene Bilanz

Vor einem Jahr trat der russische Präsident sein Amt an. Putins Schatten folgt ihm noch immer

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Zustimmungsraten für Präsident Dmitri Medwedjew, der am Donnerstag vor genau einem Jahr seinen Amtseid auf die russische Verfassung leistete, bröckeln. Im März 2008 mit 70 Prozent gewählt, kam er jetzt bei Umfragen auf 65 Prozent. Beobachter verwundert das nicht. Zu unterschiedlich waren ihrer Meinung nach die Erwartungen in der weiterhin tief gespaltenen Gesellschaft Russlands.

Nach wie vor sieht eine Mehrheit im Lande in Dmitri Medwedjew eine Art Lordsiegelbewahrer ohne eigene Gestaltungskompetenz, der bei den nächsten Wahlen erneut an Vorgänger Wladimir Putin übergibt. Eine Minderheit erhoffte sich etwas anderes - eine Demokratie, die ohne einschränkende Adjektive wie »gelenkt« und »souverän« auskommt, dafür mit funktionierender Gewaltenteilung einschließlich unabhängiger Gerichte und gleichem Zugang aller politisch relevanten Gruppen zu freien Medien.

Doch Medwedjew muss auf rivalisierende Interessengruppen der russischen Eliten Rücksicht nehmen, einer Klientel, zu der er bis zu seiner Wahl selbst gehörte. Dass er sich beim Gerangel um die Putin-Nachfolge durchsetzen konnte, verdankt er vor allem seiner Bereitschaft zu Ausgleich und Kompromiss. Doch inzwischen bläst Russland - politisch wie wirtschaftlich - der Wind sehr viel rauer ins Gesicht als noch in der Ära Putin. Die weltweite Krise und die offensive Außenpolitik des Westens, der die Energieressourcen im »postsowjetischen Raum« im Auge hat und dabei die NATO als Vortrupp benutzt, sind nur die Spitze des Eisbergs.

All das zwingt Dmitri Medwedjew zu einer Politik der kleineren Schritte. Bei Vergleichen mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen, wie sie Kritiker Medwedjews kürzlich aus Anlass der ersten 100 Präsidententage Barack Obamas zogen, kam der erste Mann im Kreml nicht sonderlich gut weg. Der neue Herr des Oval Office, meint Dmitri Oreschkin vom Forschungszentrum Mercator, habe noch vor Ablauf seiner Schonfrist mit Reformen begonnen. Medwedjew, dessen reguläre Amtszeit bereits zu einem Viertel abgelaufen ist, konnte sich dagegen bisher nur zu Signalen aufraffen, die man allenfalls als Bereitschaft zu Reformen deuten könne. Signale, die aus Sicht Oreschkins und anderer Beobachter hierzulande zudem widersprüchlich sind.

So gibt Medwedjew oppositionellen Zeitungen Interviews und trifft sich im Kreml mit Vertretern von Menschenrechtsgruppen. Die einen wie die anderen gingen jedoch ohne konkrete Reformzusagen nach Hause. Allerdings brachte er Änderungen des restriktiven Parteiengesetzes auf den Weg, die von der Duma inzwischen bestätigt wurden. Demzufolge erhalten Vertreter von Parteien, die bei Wahlen an der Sieben-Prozent-Hürde scheitern, aber zumindest auf fünf Prozent kommen, in der Duma automatisch Sitz und Stimme. Auch die hohen bürokratischen Hürden für die Zulassung bei Wahlen wurden erheblich gesenkt. Und bei dem neuen Prozess gegen Michail Chodorkowski, den einstigen Chef des Ölgiganten Jukos, haben selbst eingefleischte Kritiker Medwedjews Indizien dafür ausgemacht, dass das Urteil diesmal nicht durch einen Anruf aus Kreml und Regierung vorgegeben wird.

Andererseits weigert sich Medwedjew, die Verwaltungschefs der Regionen wieder direkt wählen zu lassen. Künftig - und damit geht er bei der Einschränkung des Wählerwillens sogar noch weiter als sein Vorgänger - sollen die Provinzfürsten, die seit 2005 von Moskau eingesetzt werden, ihrerseits die Bürgermeister in Städten ihrer Region ernennen dürfen.

Auch die außenpolitische Bilanz des neuen russischen Präsidenten ist aus Sicht seiner Kritiker bisher ziemlich mager. Dass Russland und die USA wieder über Abrüstung verhandeln - die erste Runde beginnt Mitte Mai in Moskau -, erklären sie vor allem mit der Krise und Obamas Pragmatismus. Medwedjew, so fürchtet die Nation zudem, sei nicht in der Lage, die von Putin mühsam wieder auf Linie getrimmte UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS zusammenzuhalten.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2009


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