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Medwedjew setzt auf die Wirtschaft

Russland: Programmatische Rede des wahrscheinlichen neuen Präsidenten

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Mit Spannung blickte man gestern (15. Februar) nicht nur in Russland nach Krasnojarsk, wo Dmitri Medwedjew, der mit hoher Wahrscheinlichkeit am 2. März zum neuen Präsidenten Russlands gewählt wird, sein Programm auf einem regionalen Wirtschaftsforum vorstellte.

Themen der Außen- und Sicherheitspolitik, um die sich Wladimir Putins letzte Pressekonferenz als Präsident am Donnerstag (14. Februar) vor allem drehte, kamen beim Auftritt Medwedjews am Freitag gar nicht vor. Für hiesige Beobachter ist das ein weiteres Signal dafür, dass Putin auch künftig den Hut aufhaben wird und das Amt des Premiers erheblich aufgewertet werden dürfte. Zumindest was die internen Regelungen zur Gewaltenteilung zwischen Präsident und Regierungschef betrifft.

Medwedjews programmatische Aussagen jedenfalls befassten sich so gut wie ausschließlich mit Wirtschaft und Rechtssicherheit. Er werde sich als Präsident auf die »vier großen I« konzentrieren: Institutionen, Infrastruktur, Innovationen und Investitionen.

Seine vordringlichste Aufgabe sieht Medwedjew darin, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz zu bekämpfen. Er sprach in diesem Zusammenhang von »Rechtsnihilismus«. Die von Putin bei Amtsantritt vor acht Jahren verkündete »Diktatur des Gesetzes« habe sich in eine »Diktatur der Beamtenschaft« verwandelt. Die gängige Praxis, Urteile durch »einen Anruf von oben« oder durch Bestechungsgelder zu beeinflussen, müsse ausgerottet werden. Auch sei die weitere Humanisierung der Rechtsprechung und des Strafvollzugs erforderlich. Vor allem gelte es, die Kontrolle über Verfahren zu verstärken, an deren Rechtmäßigkeit Zweifel bestehen. Außerdem sollen Bedingungen dafür geschaffen werden, dass zivil- und verwaltungsrechtliche Streitigkeiten verstärkt durch außergerichtliche Einigung beigelegt werden.

Wichtig sei es auch, administrative Barrieren für kleine und mittelständische Unternehmen zu beseitigen. Deren Steuerlast müsse gesenkt werden. Russland, so Medwedjew weiter, brauche außerdem ein Finanzsystem, das die Einlagen der Bürger wirksam schützt und Unternehmern die Möglichkeit gibt, unterschiedlichste Projekte zu realisieren. Die prestigeträchtigsten waren auf einer begleitenden Ausstellung zu besichtigen und wurden von den Branchenministern persönlich vorgestellt -- darunter Hochgeschwindigkeitszüge, die die Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg in 2 Stunden und 20 Minuten bewältigen sollen. Noch dauert die Fahrt im Durchschnitt acht Stunden.

Großes Interesse zeigte Medwedjew auch für das geplante biochemische »Cluster« im Gebiet Omsk, zu dem Unternehmen der Lebensmittel- und Pharmaindustrie sowie der Medizintechnik gehören werden. Die dort hergestellten Waren sollen Importe ablösen. Der Gesamtumfang der Investitionen wird sich auf umgerechnet über eine Milliarde Euro belaufen. Das »große Geld« war auf dem Forum und auf Medwedjews anschließender Pressekonferenz ebenfalls zahlreich vertreten, so durch den Baulöwen und Aluminiumkönig Oleg Deripaska. Er ist einer der reichsten Männer Russlands, expandiert nach Westeuropa und bezuschusst das russische Berufsschulsystem jährlich mit 100 Millionen Rubel, das sind etwa 2,8 Millionen Euro. Präsident Wladimir Putin hatte von den Oligarchen mehrfach und nachdrücklich mehr soziales Engagement gefordert. So wie nun auch Medwedjew.

Im Gegenzug hatte der bereits Anfang Februar auf einem ähnlichen Forum in der Schwarzmeer- Region Krasnodar kooperationsbereiten Unternehmen mehr Rechtssicherheit und Hilfe bei Bemühungen um Expansion ins Ausland versprochen. Der Staat werde künftig für einen klaren und berechenbaren Rechtsrahmen sorgen, der den Unternehmern das Geschäft erleichtert. In Krasnodar hatte er auch dem chinesischen Entwicklungsmodell eine deutliche Absage erteilt: Staatskapitalismus im 21. Jahrhundert könne nicht effektiv sein. Staatliche Großunternehmen seien nur in den Bereichen nötig, wo man ohne sie nicht auskommen kann, und auch dort nur für eine bestimmte Zeit.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2008


Plan für Russland: Medwedew will weniger Staat und starken Rubel

KRASNOJARSK, 15. Februar (RIA Novosti). Das von Präsidentenkandidat Dmitri Medwedew am Freitag im sibirischen Krasnojarsk verkündete Wirtschaftsprogramm wirkt durchaus liberal.

Es sieht Maßnahmen zur Unabhängigkeit der Gerichte, zur Entwicklung der Infrastruktur, zur Verringerung der Steuerbürden sowie des Einflusses des Staates auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie eine Revision der Sozialpolitik vor.

Im Falle eines Wahlsiegs von Medwedew soll der jetzige Präsident Wladimir Putin das Amt des Regierungschefs übernehmen, womit die Kontinuität des bisherigen Kurses gewährleistet werden soll.

Da der Machtwechsel im postsowjetischen Russland nicht selten von einer Umverteilung des Eigentums begleitet wurde, hob Medwedew in seiner programmatischen Rede in Krasnojarsk die Notwendigkeit, das Privateigentum als unantastbar zu betrachten. Zugleich räumte er ein, dass die Ergebnisse der Privatisierung in den 90-er Jahren bei der Bevölkerung das Gefühl einer Ungerechtigkeit hinterlassen hatten.

Als Hauptaufgaben seiner Politik betrachtet Medwedew die Überwindung des Rechtsnihilismus, radikale Herabsetzung der bürokratischen Barrieren, Verringerung der Steuerbürden, Modernisierung der technischen Infrastruktur, Herstellung eines mächtigen Finanzsystems, Bildung von Grundlagen eines Innovationssystems sowie Umsetzung einer erneuerten Politik für soziale Entwicklung.

Freiheit und Recht

Einige Erklärungen in Medwedews Rede wirken liberaler im Vergleich zur jetzigen Politik, die auf eine Festigung des Staatssystems gerichtet ist. So ging Medwedew auf die Notwendigkeit einer Festigung der Rede- und der Medienfreiheit ein, die ein Element des Kampfs gegen die Korruption sind, welche die Regierung als ein Hauptproblem in der russischen Gesellschaft betrachtet.

"Man muss die reale Unabhängigkeit der Medien schützen, die die Rückkopplung zwischen der Gesellschaft insgesamt und den Machtorganen gewährleisten", betonte er. "Unsere Politik muss auf einem Prinzip basieren, das aus meiner Sicht das Wichtigste im Funktionieren eines jeden modernen Staates ist, der hohe Lebensstandards anstrebt: Das Prinzip ,Freiheit ist besser als Unfreiheit'."

Es handle "um die Freiheit in allen Erscheinungsformen - persönliche Freiheit, wirtschaftliche Freiheit und schließlich Freiheit der Selbstverwirklichung", so Medwedew.

Natürlich setzt die Freiheit eine bedingungslose Einhaltung der Gesetze voraus. "Die Durchsetzung einer Harmonie zwischen Freiheit und Recht ist heute meines Erachtens das Wichtigste in der jetzigen Etappe", betonte er. "Die Freiheit ist untrennbar von der faktischen Anerkennung der Macht des Rechts durch die Bürger, sie setzt kein Chaos voraus, sondern die Anerkennung der Ordnung. Die Dominanz des Gesetzes muss einer der bedeutendsten Werte werden."

Eine der Prioritäten des Kreml in den kommenden vier Jahren müsse in der Reform des Gerichtssystems und in der Gewährleistung der Unabhängigkeit des Gerichts von allen Machtsäulen bestehen, unterstrich er. Um diese Aufgabe zu bewältigen, sind politischer Wille und Zivilcourage notwendig. "Dieser politische Wille ist bei mir und bei der Landesführung vorhanden", erklärte der Präsidentschaftskandidat.

Erforderlich sei eine Humanisierung der Justiz, in erster Linie durch eine Verringerung der Maßnahmen vor dem Urteil. Notwendig sei auch eine Verbesserung der Haftbedingungen.

Weniger Staat

Eine Verringerung des Einflusses des Staats auf die Wirtschaft sowie eine Steigerung der Effektivität des Staatssektors und der Arbeit des Verwaltungsapparats seien die Voraussetzungen für eine Steigerung der Lebensqualität, sagte Medwedew.

Um den gewachsenen Staatsapparat auf allen Ebenen abzubauen, soll ein wesentlicher Teil der Funktionen der Staatsorgane in den nichtstaatlichen Sektor übergehen. "Gleichzeitig sollen adäquate materielle Stimuli geschaffen werden, damit besonders gut qualifizierte Profis zum staatlichen Dienst mobilisiert werden könnten", fügte er hinzu.

Im Interesse der Steigerung der Verwaltungsqualität sollten die Beamten aus der Verwaltung von Großunternehmen ausgeschlossen werden, betonte der Erste Vizepremier. "Ich denke, dass die meisten Staatsbeamten in den Aufsichtsräten nichts zu suchen haben. Sie sollten von wirklich unabhängigen Aufsichtsratsmitgliedern abgelöst werden."

Heute gehören zahlreiche Staatsbeamte zu den Verwaltungsgremien vieler Staatsunternehmen. So ist Medwedew selbst seit einigen Jahren Aufsichtsratsschef des Konzerns Gasprom, während Igor Setschin, Vizechef des Präsidentenamtes, gleichzeitig den Aufsichtsrat der Ölgesellschaft Rosneft leitet.

Stimulierung durch Steuerpolitik

Medwedew bekräftigte die von Putin am 8. Februar formulierte Absicht der Regierung, die Mehrwertsteuer herabzusetzen und zu vereinheitlichen. Ein entsprechendes Gesetz müsste "möglichst bald" angenommen werden, sagte der Erste Vizepremier. Außerdem schlug er vor, die Mehrwertsteuer durch eine Verkaufssteuer zu ersetzen, weil eine Senkung der Mehrwertsteuer allein das Problem allein nicht beseitigen wird, die mit dem Rückfluss der Mehrwertsteuer verbunden sind. Der Hauptgegner einer Senkung der Mehrwertsteuer ist Vizepremier und Finanzminister Alexej Kudrin: Nach seiner Ansicht würde dieser Schritt die Stabilität des Staatshaushaltes bedrohen.

Bereits nach Medwedews Rede in Krasnojarsk äußerte Kudrin: Die Steuern müssen zwar herabgesetzt werden, "aber nur mit Vorsicht und Schritt für Schritt".

Heute liegt die Mehrwertsteuer bei den sozial wichtigen Waren bei zehn und bei den restlichen Waren bei 18 Prozent.

Bestätigt wurde auch die zuvor von Putin bekundete Absicht, die Einnahmen der natürlichen Personen von der Mehrwertsteuer zu befreien, die für Bildungs- bzw. Gesundheitswesen ausgegeben werden.

Für starken Rubel

Der Rubel, der sich seit den letzten sieben Jahren kontinuierlich festigt, soll zu einer regionalen Reservewährung werden, betonte Medwedew. Die Rubel-Nachfrage müsse durch eine Änderung des Rohstoffexports gefördert werden. In seiner Rede im sibirischen Krasnojarsk schlug er vor, "innerhalb kürzester Zeit den Börsenhandel mit Exportwaren zu starten, bei der die neuen Geschäftsverträge ausschließlich in unserer nationalen Währung bezahlt werden sollen". Dies soll die Exporteure dazu bewegen, die Rohstoffwaren ausschließlich gegen Rubel an die Partner im Ausland zu verkaufen. Die in Russland gemachten Devisen-Einnahmen aus dem Rohstoffexport sind eine der Ursachen der wachsenden Geldmenge im Lande, die die Inflation anspornt.

Außerdem soll der Mechanismus der Refinanzierung des Banksystems aus Mitteln des Wohlstandsfonds verbessern werden. Dadurch könnten die Banken Mittel für langfristige Kredite bekommen.

Medwedew plädierte ferner für eine intensivere Entwicklung von Infrastruktur-Projekten, unter anderem in der Energiewirtschaft und im Verkehrswesen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. Februar 2008


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