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Merkel und der "Generator neuer Ideen"

Moskau spricht bei den deutsch-russischen Beziehungen von strategischer Partnerschaft

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Es sind bereits die 12. deutsch-russischen Regierungskonsultationen, die am Mittwochabend in Jekaterinburg im Ural begannen. Beide Seiten sind mit gut einem Dutzend Fachministern vertreten, die unter Führung von Präsident Dmitri Medwedjew und Bundeskanzlerin Angela Merkel Bilanz des Erreichten ziehen und neue Projekte der Zusammenarbeit erörtern.

Einen ersten Meinungsaustausch mit Medwedjew hatte Merkel bereits bei einem gemeinsamen Essen gleich nach ihrer Ankunft absolviert, heute sehen sich beide Politiker ein weiteres Mal bei einem »Power-Frühstück«, für das ganze 25 Minuten geplant sind. Danach steht eine gemeinsame Begegnung mit Vertretern der deutschen und der russischen Wirtschaft auf dem Programm. Anschließend werden der Kremlchef und die Kanzlerin dem Abschlussplenum des »Petersburger Dialogs« beiwohnen, der im Festsaal der Boris-Jelzin-Universität tagt. Dabei handelt es sich um ein Diskussionsforum mit zahlreichen Untergruppen – von Kunst bis Kommerz –, das trotz seiner Schwerfälligkeit in der offiziellen Pressemitteilung des Kremls zum »Generator neuer Ideen« hochgejubelt wird.

Deren Tonlage ist insgesamt sehr freundlich, fast herzlich und damit ein klarer Hinweis dafür, dass es derzeit keine nennenswerten Probleme im bilateralen Verhältnis gibt. Mehr noch: Russland spricht von »strategischer Partnerschaft«, die durch einen »engen und vertrauensvollen Dialog auf den verschiedensten Ebenen und dem gegenseitigen Wunsch nach weiterer Annäherung und Berücksichtigung der Interessen des jeweils anderen gekennzeichnet ist«. Medwedjew hatte zudem zwei Tage vor dem Treffen in einer Rede vor den Botschaftern Russlands einen außenpolitischen Paradigmenwechsel angekündigt: Absolute Priorität habe künftig die Partnerschaft mit den entwickelten Industrienationen Westeuropas und mit den USA. Seine Vorgänger hatten sich noch auf die Zusammenarbeit mit den anderen UdSSR-Nachfolgestaaten konzentriert.

Deutschland fällt dabei und auch im Rahmen der Modernisierungspartnerschaft, wie die EU sie Russland angeboten hat, eine besondere Rolle zu. Ganz oben auf der Tagesordnung steht ein Komitee Russland-EU für Außen- und Sicherheitspolitik auf Ministerebene, für das sich Medwedjew schon bei seinem Deutschland-Besuch Anfang Juni stark gemacht hatte. Bei den fast zehnstündigen Konsultationen mit Merkel – bereits die vierte Begegnung beider Politiker allein in diesem Jahr – hatte der Gast auch ein weiteres Mal für einen gemeinsamen Europäischen Sicherheitsvertrag geworben. Medwedjew setzt sich für das Projekt seit Amtsantritt im Mai 2008 ein, stößt damit bisher in Europa allerdings auf wenig Gegenliebe. Alte und vor allem neue EU-Mitglieder befürchten, damit würden die Kompetenzen der NATO untergraben und die Allianz langfristig überflüssig.

Neben den großen Problemen der internationalen Politik wie Iran, Afghanistan und Nahost, wo die Standpunkte und Wertungen beider Seiten nur in Nuancen abweichen, steht auch die Vertiefung der wirtschaftlichen Kooperation auf der Tagesordnung. Mit einem Zuwachs von über 15 Milliarden Euro allein im ersten Quartal 2010 legte der bilaterale Handelsaustausch im Vergleich zum Krisenjahr 2009 um fast 50 Prozent zu und ist damit kurz davor, wieder den Stand vor dem Absturz im Herbst 2008 zu erreichen. Das indes erklärt sich nicht nur durch die erneut gestiegene Nachfrage nach russischen Rohstoffen. Hiesige Konzernchefs haben starkes Interesse an energieeffizienten Technologien Made in Germany angemeldet, viele wollen auch direkt in deutsche Unternehmen investieren. Sogar beim mehrfach verunglückten Einstieg russischer Investoren in die Werften an der Ostsee ist ein neuer Versuch geplant.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juli 2010


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