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Quotenregelung für Migranten

Russland: Neue Verordnung bedient Fremdenfeindlichkeit

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russische Märkte, Apotheken und Besitzer von Kiosken dürfen seit Jahresbeginn keine Ausländer mehr beschäftigen. Das Gleiche gilt für Geschäfte, die Bier, Wein und Spirituosen verkaufen.

Angesichts der Parlamentswahlen im Dezember wolle die Regierung die latente Fremdenfeindlichkeit bedienen, meinen Beobachter. Als im vergangenen November die Verfügung beschlossen wurde, ahnte allerdings noch niemand, dass sich nur kurz darauf auch in Moskau Ultranationalisten und Zuwanderer – vor allem aus dem russischen Nordkaukasus, aber ebenso aus den ehemaligen Sowjetrepubliken – Straßenschlachten liefern würden. In anderen Großstädten war es schon früher zu Konflikten zwischen Einheimischen und Migranten gekommen.

Um die Spannungen zu mindern, gelten in Russland seit Anfang 2007 für jede der über 80 Regionen Quoten für die Vergabe von Arbeitsgenehmigungen an Migranten. Damit sollte vor allem der Anteil von Ausländern auf den Obst- und Gemüsemärkten zurückgefahren werden. In Moskau werden diese meist von Aserbaidshanern kontrolliert, die Moskowiter werfen ihnen neben Absprachen, die die Preise ständig in die Höhe treiben, auch vor, Bauern aus dem Umland und deren Produkten den Zugang zu verwehren.

Der praktische Nutzen des nun gültigen Verbots tendiert allerdings gegen Null. Zwar waren, als die Maßnahme in Kraft trat, kurzzeitig viele Verkaufsstände geschlossen. Doch schnell stellen die Betreiber statt der entlassenen dunkelhäutigeren Armenierinnen oder Kirgisinnen jetzt Ukrainerinnen oder slawisch aussehende Frauen aus Moldova ein. Russinnen waren sich für die schwere und schlecht bezahlte Arbeit zu schade. Ebenfalls wenig Interesse zeigt die russische Bevölkerung Moskaus an der Straßenreinigung, einer Tätigkeit als Busfahrer oder auf dem Bau.

Anders als beabsichtigt ging die Anzahl der Arbeitsmigranten daher nicht zurück, sondern stieg sogar weiter. Sogar offiziell ist derzeit allein von 1,2 Millionen »Gastarbeitern« aus Tadshikistan landesweit die Rede, deren Dachverband geht von weit über zwei Millionen aus. Auch Bürger Kirgistans drängen seit den ethnischen Unruhen im vergangenen Juni verstärkt nach Russland. Selbst nach Schätzungen der Föderalen Migrationsbehörde jobben gegenwärtig in Russland mehr als 500 000 Kirgisen – jeder zehnte Einwohner der bitterarmen Republik.

Summa summarum geht die Ausländerbehörde derzeit von weit über 7,5 Millionen Migranten in Russland aus. Nur 4,5 Millionen sind legal eingereist und gemeldet. Der Großteil haust in Baracken auf Baustellen. Der Lohn ist für russische Maßstäbe miserabel, und selbst diesen zahlen die Arbeitgeber nicht immer voll aus. Viele empfinden daher die Abschiebung im Ergebnis von Kontrollen als Erlösung, weil sie nicht einmal das Geld für eine Rückfahrkarte haben.

Allein mit neuen Verboten und mit weiteren Absenkungen der Quote – bis Jahresende soll die Anzahl der Migranten landesweit auf unter 1,7 Millionen gedrückt werden – sei dem Problem nicht beizukommen, warnen Experten. Großstädte wie Moskau müssten sich verstärkt um Arbeitskräfte aus der Provinz bemühen. Die Nachfrage hält sich – obwohl die Arbeitslosenraten in manchen Regionen bei 40 Prozent und das Moskauer Lohniveau um ein Mehrfaches über dem Landesdurchschnitt liegen – sehr in Grenzen. Auch, weil selbst heruntergekommene Mietwohnungen in Moskau für Normalverdiener unbezahlbar sind.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Januar 2011


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