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Wahlkampf auf Amerikanisch

Sergej Nawalny gilt als Idealbesetzung für die Rolle des Hauptkonkurrenten in einer fairen Abstimmung

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Bis zu 25 000 Teilnehmer erwartet Alexej Nawalnys Wahlkampfstab bei dessen großer Abschlusskundgebung am heutigen Freitag. Zustimmungsraten, von denen die Protestbewegung, die der Kremlkritiker nach den umstrittenen Parlamentswahlen Ende 2011 organisiert hatte, seit Langem nur noch träumen kann. Es könnte dennoch klappen. Der 37-jährige Nawalny kämpft um Herzen und Hirne der Moskowiter mit unkonventionellen Mitteln und Methoden wie die Protestbewegung zu ihren stärksten Zeiten. Nawalny hat in den USA nicht nur Jurisprudenz, sondern auch Wahlkampf studiert. Der kommt auch an der Moskwa gut an.

Als der Wahlkampf Ende Juli anlief, wollten nur knapp drei Prozent für ihn stimmen. Inzwischen sind es nach Angaben des Lewada-Zentrums 18 Prozent. Selbst das staatsnahe WZIOM-Institut billigte ihm zuletzt 15,7 Prozent zu. Das ist umso bemerkenswerter, als Russlands Liberale seit über zehn Jahren den Einzug in die Staatsduma und die meisten Stadt- und Regionalparlamente mit deutlich weniger als fünf Prozent verfehlen.

Den rekordverdächtigen Stimmenzuwachs verdankt Nawalny indes nicht seinen Wahlkampfshows mit rockiger Musik, sondern der russischen Justiz. Ein Gericht in Kirow, 900 Kilometer östlich von Moskau, hatte ihn am 18. Juli zu fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 500 000 Rubel – etwa 12 500 Euro – verurteilt. Als Berater des Kirower Gouverneurs habe er einen staatlichen Holzbetrieb zu einem unvorteilhaften Vertrag gedrängt, dem Haushalt der Region sei ein Schaden von umgerechnet 400 000 Euro entstanden, lautete der Vorwurf.

Dass Nawalny die Strafe nicht sofort antreten musste, verdankt er dem Staatsanwalt, der zu Prozessbeginn für ein sehr viel höheres Strafmaß plädiert hatte. Ausgerechnet er verlangte nach der Urteilsverkündung die Aussetzung der Strafe bis zum Berufungsverfahren. Andernfalls würden Nawalnys Rechte im Kampf um den Bürgermeisterposten in der Hauptstadt verletzt. Das Gericht sah das genauso. Mehr Rechtsstaatlichkeit, so scheint es, ist nicht möglich. Doch die Wahrheit klingt etwas anders.

Sergej Sobjanin, den der damalige Präsident Dmitri Medwedjew 2010 als Nachfolger Juri Lushkows zur Wahl durch das Stadtparlament vorgeschlagen hatte, trat im Frühjahr zurück, um den Weg für vorgezogene direkte Neuwahlen freizumachen. Sie sollen ihn in einer fairen und freien Abstimmung demokratisch legitimieren. Überdies sollen sie den Kreml vom Verdacht notorischer Manipulierung von Wahlergebnissen befreien. Das geht nur mit vielen Herausforderern, die in den Medien unzensiert zu Worte kommen. Je kritischer, desto besser.

Auch die etablierten Parteien schickten politische Schwergewichte ins Rennen. Die Kommunistische Partei (KPRF) nominierte beispielsweise ihren Vizechef Iwan Melnikow, die liberale Partei Jabloko gar ihren Vorsitzenden Sergej Mitrochin. Denen billigen Meinungsforscher jedoch allenfalls 12 (Melnikow) und 6 Prozent (Mitrochin) zu. Nawalnys Geschichte macht ihn als Kandidaten dagegen zur Idealbesetzung für den Part des Feigenblatts. Zumal Menschenrechtsaktivisten im In- und Ausland glauben, dass der Prozess gegen ihn politische Hintergründe hat. Bevor Nawalny sich an die Spitze der Proteste stellte, hatte er sich bei den Mächtigen mit einem Internetportal unbeliebt gemacht, das krasse Fälle von Korruption anprangert. Getroffen fühlte sich auch mancher aus Präsident Putins Umgebung.

Vor allem auf Korruptionsbekämpfung setzte Nawalny auch im Wahlkampf. Vom Thron stoßen kann er Sobjanin, der formell als Unabhängiger ins Rennen geht, faktisch aber von der Mehrheitspartei »Einiges Russland« unterstützt wird, damit freilich nicht. Es wird nicht einmal reichen, Sobjanin eine Stichwahl aufzuzwingen, die fällig würde, wenn keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang 50 Prozent plus eine Stimme erhielte. Für Sobjanin wollen am Sonntag 58 bis 62 Prozent stimmen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. September 2013


Kein Aufruhr in Putins guter Stube

Sergej Sobjanin ist Oberbürgermeister und soll es nach dem Willen des Kreml auch bleiben

Von Klaus Joachim Herrmann, Moskau **


Moskau ist die gute Stube des Präsidenten. Die will Wladimir Putin aller Welt vorzeigen und in treuen Händen wissen – denen von Sergej Sobjanin.

Peredelkino, das Wort klingt nach verschlafener Datschensiedlung. Dämmernd unter alten Bäumen und hinter grünen Zäunen. Ein Ort für Gorkis Sommergäste. Vor den Toren der Stadt. Genau so war es einmal. Es ist noch so – auf der einen Seite der Bahngleise. Gegenüber sieht es anders aus.

Da schießen die Häuser hoch wie Pilze nach dem Regen. Das ist dann »Neu Peredelkino«. Viel Infrastruktur fehlt noch. Der »Supermarkt« kann Versorgung nicht schaffen, der »Hypermarkt« wird kommen. Der hat riesige Flächen, viele Etagen und bis zum Dach gefüllte Regale. »Russland ist anders«, sagen zu allen Zeiten gern Besucher und Autoren. Sie haben recht. Offiziell ist die Stadt bei zwölf Millionen Einwohnern angelangt, inoffiziell sind es mindestens fünf mehr. In Dynamik nehmen es am ehesten asiatische Großstädte mit der Metropole auf.

Moskau wächst über den Autobahnring hinaus. Es reicht schon bis zum Flughafen Wnukowo. Der befand sich, das ist nicht so lange her, hinter Wäldern und eine halbe Stunde vor der Stadt. Auch der Flughafen Scheremetjewo ist inzwischen nahe. Schon vor Jahren hat die Stadt die riesigen Panzersperren erreicht, die daran erinnern, wo im Zweiten Weltkrieg der Vormarsch der Deutschen auf Moskau gestoppt wurde

In Richtung Norden wächst die Hauptstadt sogar um eine Fläche von 150 Quadratkilometern. Rund um das Dörfchen Tupikowo entsteht »Nowaja Moskwa« – dies »Neue Moskau« wäre allein schon eine große Stadt. 250 000 Menschen sollen hier künftig wohnen.

Regiert wird weiter in »Alt Moskau«. Das ist weithin restauriert, mit neuen Bauten gespickt, bestens gepflegt. Obdachlose und Bettler auf der Suche nach Almosen sind im Zentrum selten geworden. Vielleicht trifft man gerade noch dies uralte Mütterchen zwischen den Autos oder jenen jüngeren Mann ohne Arme mit dem Spendenbeutel um den Hals unweit des Puschkin-Denkmals.

Andere sind wohl – wie auch früher schon – an die Ränder vertrieben. Auch auf manchen Alteingesessenen trifft das zu. Moskau ist für Ausländer eine der teuersten, für Einheimische sicher die teuerste Stadt Russlands. Schon gar im Zentrum. Nicht jeder kleidet sich bei Lagerfeld.

Von seiner Residenz an der Rubljowsker Chaussee zum Amtssitz am Roten Platz rast der Präsident in Kolonne gewöhnlich über den dann autofreien Kutusow-Prospekt und den Neuen Arbat. Altes und neues Moskau: Memorial für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges, Verneigungsberg und Triumphbogen, die »Stalin-Bauten« garniert mit Wolkenkratzern im Hintergrund. Die sind das neue Handelszentrum an der Moskwa, die Skyline von Frankfurt am Main auf 150 Metern.

Der Amtssitz des Oberbürgermeisters gegenüber dem Denkmal des Stadtgründers Dolgoruki an der Twerskaja befindet sich in Sichtweite des Kreml. So will man es dort auch. Wird einer zu macht- und selbstverliebt, tritt »Vertrauensverlust« ein. Dann sieht sich ein Mann wie der umtriebige Juri Lushkow nach 18 Jahren durchaus erfolgreicher Amtszeit mit diesem Vorwurf plötzlich entlassen. Er hatte höhere Ambitionen erkennen lassen und kritisierte schon mal munter Föderations- und andere Mächte.

Als Lushkow im Jahre 2010 von Präsident Dmitri Medwedjew gefeuert wurde, musste er über das Ausbleiben weiterer Unbill noch froh sein. Die Stadt hatte ihm – nicht immer unumstrittenen – Gewinn zu verdanken. Er sich selbst aber wohl auch, munkelte man. Gattin Jelena Baturina, Chefin des Bauimperiums Inteko, hatte über mangelnde Aufträge nie zu klagen.

Lushkow danken die Hauptstädter manchen Aufschwung und manches teure Kleinod. Zum Beispiel eine alte Residenz. Die wurde von Zarin Katharina nicht gemocht, sie ließ höhnisch deren Bau stoppen. Jetzt aber gibt es Schloss und Park, Brücken und Wasserspiele. Zarizino ist in den letzten Jahren doch ein Schmuckstück geworden. Hier tummeln sich auf weiten Wiesen Brautpaare vor Fotografen. Manche fahren im Mercedes vor, zuweilen im Ferrari.

Sergej Sobjanin selbst ist eher fern von solchen Prunkprojekten und schon gar davon, eine schillernde Persönlichkeit zu sein. Der 55-Jährige ist seit drei Jahren Oberbürgermeister und gilt als solide, sachlich und Macher. »Ich mag solche Menschen«, sagt Putin. Sobjanin ist vor allem nicht so aufmüpfig wie sein Kontrahent Alexej Nawalny. Dass er schon als früherer Chef der präsidialen Aministration exakt der Mann des Kreml ist, gereicht Sobjanin zum Heil. Nahe am Präsidenten ist nahe der ganz großen Macht. Das komme ihnen zugute, meinen Moskauer und geben ihm laut Umfragen bis 60 Prozent.

Eine florierende Stadt, ausreichend Arbeit auch für einen Zweitjob, Sauberkeit und Sicherheit sind die Dinge ihres Lebens. Große Parks mit viel Freizeitangebot. Wenn nachts Schüsse knallen und hallen, glauben die Moskauer zu wissen, waren das Südländer. Die überwinden ja auch locker Metroschranken. Nun stehen sie davor. Zwei Milizionäre warten nur darauf, dass sie den Sprung wagen. Dann gibt's Passkontrolle. Die Stadt sorgt für Ordnung. Das wird ihrem Chef Sobjanin gedankt. Niemand weiß, was Nawalny brächte. Man will keinen Aufruhr in der guten Stube.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. September 2013


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