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Verurteilter Nawalny vorerst auf freiem Fuß

Staatsanwaltschaft beantragte Strafaussetzung um des fairen Wahlkampfs willen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Einen Tag nach seiner Verhaftung im Gerichtssaal wurde der russische Oppositionelle Alexej Nawalny auf Antrag der Staatsanwaltschaft wieder auf freien Fuß gesetzt.

Die goldene Uhr hat er wieder am Handgelenk und vor allem das Handy wieder. Alexej Nawalny war am Donnerstag zu fünf Jahren Haft und umgerechnet 12 500 Euro Geldstrafe verurteilt worden. Das Gericht in Kirow, 900 Kilometer östlich von Moskau, hatte Nawalny wegen Veruntreuung in großem Stil verurteilt. Als Berater des Gouverneurs soll er das Unternehmen Kirowles zum Abschluss unvorteilhafter Verträge gedrängt haben, wodurch ein Schaden von über 400 000 Euro entstanden sei. Nawalnys Anhänger, westliche Kommentatoren und Politiker unterstellen der Anklage politische Motive und einen Befehl von ganz oben. Nawalny war treibende Kraft der Massenproteste im Winter 2011/12 und hatte sich durch Enthüllungen zu Korruption bei Staatskonzernen den Zorn der Mächtigen zugezogen.

Gleich nach Verkündung des Urteils war Nawalnys Verteidigung in Berufung gegangen. Dass er bis zum Abschluss des Appellationsverfahrens wieder auf freien Fuß kam, verdankt er ausgerechnet dem Staatsanwalt, dessen Vorwürfen das Gericht trotz umstrittener Faktenlage gefolgt war. Nawalny, so begründete die Anklage ihren Antrag auf Strafaussetzung, dem das Gericht am Freitag stattgab, könne als Häftling seine Rechte als Kandidat für die Oberbürgermeisterwahlen in Moskau Anfang September nicht in vollem Umfang wahrnehmen.

Das ist in der Tat so. Zwar dürfen sich in Russland auch Häftlinge bewerben, solange das Urteil nicht rechtskräftig ist. An den Fernsehduellen indes dürfen weder sie noch ihre Bevollmächtigten teilnehmen. Der Kreml aber und Moskaus amtierender Oberbürgermeister Sergej Sobjanin haben gute Gründe für die Zulassung oppositioneller Bewerber.

Russlands Hauptstadt war Zentrum der Massenproteste. Die Moskauer zweifelten sowohl die Ergebnisse der Duma- als auch die der Wahlen zum Stadtparlament an. Sobjanin, der 2010 vom Präsidenten – damals Dmitri Medwedjew – zum Nachfolger des wegen Amtsmissbrauchs belasteten Juri Lushkow ernannt wurde und sich jetzt durch Direktwahl demokratisch legitimieren lassen will, möchte diese Vorwürfe durch einen fairen Wahlkampf entkräften.

Zudem liegen die Zustimmungswerte für die Regierungspartei »Einiges Russland« in Moskau stets unter dem Landesdurchschnitt. Um Sobjanin, der formell als Unabhängiger antritt, dennoch 50 Prozent plus eine Stimme zu verschaffen und ihm eine Stichwahl zu ersparen, müssen sich die Stimmen der Unzufriedenen auf möglichst viele Konkurrenten verteilen. Nach Umfragen kommt keiner der Herausforderer Sobjanins auf mehr als zehn Prozent, auch Nawalny nicht. Er polarisiere stark, sagen Kritiker. Auch könne der ehrgeizige Egomane sich mit der Macht arrangieren.

Zwar hatte Nawalnys Wahlkampfchef gleich nach der Urteilsverkündung dessen Verzicht auf die Kandidatur ankündigte, weil er sich nicht instrumentalisieren lasse. Doch nach der Strafaussetzung sagte Nawalny, er werde darüber am Sonnabend nach seiner Rückkehr nach Moskau entscheiden.

Dort hatten seine Anhänger Donnerstagabend gegen das Urteil protestiert. Offiziell war von 2500 Teilnehmern die Rede, Beobachter zählten bis zu 10 000. 165 Menschen wurden festgenommen, aber noch in der Nacht freigelassen. Sympathiekundgebungen für Nawalny gab es auch in anderen Großstädten.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Juli 2013


Eigentor mit Nawalny

Von Klaus Joachim Herrmann **

Der Fall Alexej Nawalny ist spätestens jetzt in aller Munde. Dafür hat nicht nur die russische Gerichtsbarkeit mit dem Wirrwarr um Verurteilung, Haft und Freilassung gesorgt. Konnten selbst Zeugen der Anklage dem vorgeblichen Veruntreuer so recht keinen Schaden nachweisen, ist doch längst genug anderes Unheil angerichtet. Nicht selten werden Probleme, die man am liebsten mit allen Mitteln los würde, nach Art des Eigentors erst wirklich welche. Wenn nun auch jene Russland scharf kritisieren, die es immer gern tun, und mit sich selbst durchaus genug zu schaffen hätten, muss trotzdem nicht alles in Ordnung sein.

Denn nicht über einen kleinen Holzdieb wurde nach allgemeinem Verständnis Gericht gehalten, sondern über einen Oppositionellen. Nawalny schimpfte die Kremlpartei Gauner und Diebe. Dagegen gesetzt wurde der Vorwurf der Unterschlagung als ehrverletzende Mischung aus Raffgier und Heuchelei. Der griff nicht. Zu viele Russen erinnerten sich: Was bei Boris Jelzin im Ausverkauf der Sowjetunion verschleudert wurde, hatte ganz andere Dimensionen und blieb in aller Regel ungestraft.

Der Nachweis redlichen Vermögenserwerbs wird gemeinhin erst gefordert, wenn dem Verdächtigen der Zusatz Kreml- oder Putin-Kritiker beizufügen ist. Dass Nawalny aussichtslos für das Moskauer Bürgermeisteramt kandidieren darf, macht die Botschaft nicht demokratischer.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Juli 2013 (Kommentar)


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