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Osseten und Inguschen liefern sich einen bewaffneten Kampf im Kaukasus

Der einzige "politisch gefärbte zwischennationale Konflikt" auf dem Territorium der Russischen Föderation. Wer sind die Osseten?

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Beiträge, die wir der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti entliehen haben und die sich beide mit einem Nationalitätenkonflikt in Russland befassen.



Der ossetisch-inguschische bewaffnete Konflikt: Geschichte und Aussichten

Dieser zwischennationale Konflikt hat einen politischen Hintergrund. Hinzu kommen Gebietsstreite als Folge der stalinschen Deportation von 1944.

Der Konflikt zwischen den Osseten und den Inguschen ist der erste und einzige politisch gefärbte zwischennationale Konflikt auf dem Territorium der Russischen Föderation. Anfang November 1992 führte er zu bewaffneten Zusammenstößen, zahlreichen Menschenopfern und dem Exodus der Inguschen aus dem Rayon Prigorodny der mit Inguschetien benachbarten nordkaukasischen Autonomie, der Republik Nordossetien-Alanien. Der Konflikt ist bis heute nicht überwunden worden.

Zur Geschichte: Der Rayon Prigorodny gilt als historisch von Inguschen besiedeltes Territorium. Ab 1922 bildete er einen Teil des Autonomen Gebiets Inguschetien; seit dem 15. Januar 1934 gehörte er zur wiederhergestellten Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der Tschetschenen und Inguschen.

Am 7. März 1944, nach der vom stalinschen Regime vorgenommenen Deportation der Tschetschenen und Inguschen nach Kasachstan und Sibirien, wurde der Rayon der Nordossetischen ASSR angeschlossen und mit Osseten besiedelt.

Am 24. November 1956 fasste das Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Beschluss über die Wiederherstellung der nationalen Autonomie des tschetschenischen und des inguschischen Volkes, aber der Rayon Prigorodny blieb im Bestand Nordossetiens. Als Entschädigung wurden drei Rayons der benachbarten Region Stawropol der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) - Naurski, Schelkowskoi und Kargalinski -, der wiederhergestellten ASSR angeschlossen.

Am 26. April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der RSFSR das Gesetz "Über die Rehabilitierung der repressierten Völker", das unter anderem die territoriale Rehabilitierung der Inguschen vorsah. Am 4. Juni 1992 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russischen Föderation das Gesetz "Über die Bildung der Republik Inguschetien im Bestand der RF" ohne Demarkation der Grenze (diese ist bisher nicht festgelegt worden).

Am 31. Oktober 1992 wurde im Rayon Prigorodny ein bewaffneter Konflikt zwischen Inguschen und Osseten provoziert. Am 1. November zogen in die Konfliktzone föderale Truppen ein und wurde in den einander befehdenden Republiken eine provisorische Verwaltung geschaffen. Während der Zusammenstöße (bis zum 4. November inklusive) kamen auf beiden Seiten 583 Menschen um, wurden 939 Menschen verwundet und weitere 261 als verschollen gemeldet. Beinahe die gesamte inguschische Bevölkerung des Rayons Prigorodny (über 30 000 Menschen) musste ihre Häuser verlassen und ins benachbarte Inguschetien fliehen.

Am 7. Oktober 2004 unterzeichnete Präsident Putin den Erlass "Über Maßnahmen zur Verbesserung der Tätigkeit der Staatsorgane zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Republik Nordossetien-Alanien und der Republik Inguschetien". Gemäß diesem Erlass wurden die Pflichten, die mit der Lösung der Flüchtlingsprobleme zusammenhingen, der bevollmächtigten Vertretung des Präsidenten der Russischen Föderation im Südlichen Föderalen Bezirk auferlegt.

Im April 2005 forderte Dmitri Kosak, Bevollmächtigter des russischen Präsidenten im Südlichen Föderalen Bezirk, den Präsidenten von Nordossetien Alexander Dsassochow und den Präsidenten von Inguschetien Murat Sjasikow auf, den Plan "Vorrangige gemeinsame Handlungen zur Überwindung des ossetisch-inguschischen Konfliktes vom Oktober und November 1992" zu unterzeichnen. Das Dokument legt genaue Fristen für die Rückkehr der Flüchtlinge und die Orte ihrer Ansiedlung fest, benennt die für den Prozess verantwortlichen zentralen Behörden und legt den Mechanismus zur Regelung der Gebietsstreitigkeiten zwischen beiden Republiken im Verfassungsgericht Russlands fest.

Dsassochow verweigerte jedoch die Unterzeichnung des Plans unter Hinweis darauf, dass dem Dokument die finanzielle Basis fehle und es in der Republik neue Spannungen provozieren könne. Es heißt, dass gerade die Weigerung Alexander Dsassochows, das Dokument zu unterzeichnen, zu seiner späteren Absetzung vom Posten des Präsidenten von Nordossetien (am 31. Mai 2005) geführt habe.

Am 8. Februar 2006 billigte Dmitri Kosak den Plan für die Beseitigung der Folgen des Konfliktes. Ihm stellte Präsident Putin die Aufgabe, bis Ende 2006 den inguschischen Flüchtlingen die Rückkehr an ihre früheren Wohnorte in Nordossetien zu ermöglichen. Dazu wurden im Rahmen eines kurzfristigen Programms rund 2 Milliarden Rubel bereit gestellt. Doch lehnte die Volksversammlung von Inguschetien den Plan ab, da die vorgeschlagene Regelungsvariante nach Ansicht der Abgeordneten einen groben Verstoß gegen die Verfassungsrechte der Inguschen darstelle: Anstatt der Rückkehr an ihre Heimatorte werde den inguschischen Flüchtlingen vorgeschlagen, sich an neuen Orten einzurichten, wobei diese Übersiedlung viele Jahre in Anspruch nehmen könne.

Im August 2006 erklärte Nikolai Patruschew, Vorsitzender des Nationalen Antiterror-Komitees, in einer Beratung der Leiter der Mitgliedsregionen des Südlichen Föderalen Bezirks, die zugleich den Antiterror-Kommissionen in ihren Regionen vorstehen: "Die erfolgreichen antiterroristischen Operationen in Tschetschenien haben die Ausbreitung der terroristischen Tätigkeit auf die an Tschetschenien grenzenden Regionen mit verursacht." Die Folge war, dass sich die Terrorakte in Inguschetien und Nordossetien mehrten und dass sich ihre Bevölkerung verstärkt bewaffnete. Die Beziehungen zwischen Inguschetien und Nordossetien spitzten sich erneut zu. Im Sommer 2006 ereignete sich in den Ortschaften an der Verwaltungsgrenze zwischen beiden Republiken eine ganze Serie von Morden und Explosionen.

In Inguschetien herrscht jetzt die feste Meinung, dass der Rayon Prigorodny binnen eines Jahres zurückgegeben werde. Die Osseten ihrerseits glauben, dass diese Frage bereits nie mehr auf die Weise gestellt werde, schon deshalb nicht, weil eine Revision der Grenze zwischen Ossetien und Inguschetien einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und ähnliche Ansprüche anderer Mitglieder der Russischen Föderation aktualisieren könne.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 28. Oktober 2006;
http://de.rian.ru



Wer sind die Osseten?

Das freie Volk der Osseten musste in seiner dreitausendjährigen Geschichte viele Schicksalsschläge erdulden und viele Eroberer erleben. Im Ergebnis ist das einst einheitliche Volk gespalten und in endlose Konflikte einbezogen worden.

Von Tatjana Georgijewa, Moskau *


Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts europäische Forschungsreisende im Kaukasus auftauchten, verloren sie sich, als sie auf die Osseten stießen, in Vermutungen: Wer sind die Osseten? Über ihren Ursprung entstanden mehrere Versionen.

Die weiteste Verbreitung fand die Theorie des Ethnologen Pfaff, der die Auffassung vertrat, die Osseten seien Ergebnis der Vermischung von Semiten mit Ariern. Später bewies der russische Wissenschaftler Andrej Schegren anhand eines umfangreichen Sprachmaterials die Richtigkeit dieses Standpunktes.

Das Wort "London" gehört für die Osseten zu ihrem Wortschatz, denn in ihrer Muttersprache bedeutet es so viel wie Hafen, Anlegestelle. "Douvre" ist gleich Tor, "Bonn" ist Tag und "Lissabon" Tagesanbruch. Die Zahl solcher rätselhaften Ethnotoponyme in den europäischen Sprachen erreicht beinahe 500. Nicht gering ist ihre Zahl auch in Russland: "Don" zum Beispiel bedeutet auf Ossetisch Wasser. Denselben Stamm weisen auch die Namen anderer Flüsse auf: Dnjepr, Dnjestr, Donez, Donau. All das sind "Visitenkarten" der alten Skythen und Alanen, der Ahnen der Osseten von heute.

Die Geschichte des ossetischen Volkes zählt zumindest 30 Jahrhunderte. Die Wissenschaftler verfügen über hinreichende Angaben, die es ermöglichen, das ethnische Stammsystem dieses Volkes in der einheitlichen Nachfolge Skythen - Alanen - Osseten zu betrachten.

Die Skythen drangen in die Geschichte mit dem wilden Geschrei der dahinrasenden Reiter und mit dem Krieg gegen die Kimmerer (7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), die im nördlichen Schwarzmeergebiet siedelten, ein. Im darauf folgenden Jahrhundert unternahmen große Skythenstämme siegreiche Märsche nach Kleinasien, kehrten jedoch darauf in ihre heimatliche Gegend zurück, zu den Weiten des Steppenteils der Krim, dem nördlichen Schwarzmeergebiet sowie den Weiden am Unterlauf von der Donau und Don.

Um die 40er Jahre des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung schloss der Skythenherrscher Ataias die Vereinigung des gesamten Skythenlandes von Asow bis zur Donau ab, und der Staat erlebte sein goldenes Zeitalter. Die Skythen schufen eine eigenständige Kunst; davon zeugen die Hügelgräber (Kurgane), bei deren Ausgrabungen reicher Hausrat, viel Pferdegeschirr, Rüstungen, alle möglichen Schmucksachen aus Gold und Silber gefunden wurden. Auf Steine und behauene Platten trugen sie Darstellungen von Menschen und Tieren sowie ein eigenartiges geometrisches Ornament auf, das die Wissenschaftler bis heute zu enträtseln suchen.

Der prosperierende Skythenstaat wurde von den Goten zerschlagen, die die untergeordneten Stämme in den Strom der Großen Völkerwanderung einbezogen. Doch verschwand die Spur der Skythen nicht von der Erde. Aus den erschlaffenden halbnomadischen Gemeinschaften von Skythen und Sarmaten taten sich energische Alanen hervor und ritten auf ihren Rossen in südlicher und westlicher Richtung dahin. Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gliederte sich ein Teil der Alanen, zusammen mit den Hunnen, in den neuen spontanen Strom der Großen Völkerwanderung ein und erreichte über Gallien und Spanien die nordafrikanische Küste. Der andere Teil aber rückte bis zum nordkaukasischen Vorgebirge vor und ließ sich dort nieder. Hier verschmolzen sie mit den örtlichen ethnischen Gruppen und gehörten zu den Mitbegründern des künftigen frühfeudalen Alanischen Staates.

Die Römer erkannten die Stärke und die Leistungen Alaniens an und hielten es für einen ihrer Verbündeten. Im Jahre 407 tauchten die Alanen auf ihren rassigen Pferden innerhalb des Römischen Reiches auf und wurden in den militärischen Dienst aufgenommen, wobei ihnen das Recht auf ein Grundstück zukam. Ein interessantes Detail: Das Ross von Kaiser Marc Aurel, dessen Reiterstandbild einen Platz von Rom schmückt, ist gerade ein alanischer Renner, auf jeden Fall behauptet das der hervorragende russische Hyppologe W. O. Witta.

Im 9. Jahrhundert kam über Byzanz das Christentum in die alanischen Weiten. Zu ihm bekennt sich bis heute ein Großteil der Osseten, sowohl in Nord- als auch in Südossetien. Die Moslems machen einen geringeren Teil des Volkes aus. Doch sind die Riten der einen wie auch der anderen nicht hart orthodox, sie verflechten sich mit Elementen des Heidentums und der uralten skythisch-alanischen Traditionen. So wird in den Ossetenfamilien auch heute noch die Kette über dem Herd, an der die Ahnen einst den Kessel mit der Nahrung über dem Feuer aufhängten, als heilig verehrt. An dieser Kette leisten die Männer ihre Eide, und die jungen Mädchen verneigen sich davor, wenn sie bei der Heirat das Elternhaus verlassen.

Gerade zu der Zeit der Bekehrung zum Christentum entstand eine Tradition, die bis heute von allen Osseten gepflegt wird: das Khetag-Fest. Der Sage nach trat der kühne Krieger Khetag zum Christentum über, was ihm die Heiden nicht verzeihen konnten. Er floh vor den Verfolgern, sein schaumbedecktes Pferd verlor die letzten Kräfte, und so bat der Krieger Gott um Hilfe. Wie es in der Volkssage heißt, "trennte sich ein breiter Hain vom Wald und versteckte Khetag zuverlässig". Der legendenumwobene Relikthain, Uastyrdschi, exitiert auch heute noch, er liegt im Rayon Alagir bei Wladikawkas, der Hauptstadt von Nordossetien-Alanien. Am Tag des Khetag-Festes, das im Juli begangen wird, gibt sich jeder Ossete Mühe, diesen Hain zu besuchen.

Das Bestehen Alaniens als mächtiger Staat wurde mitten in seiner Blütezeit durch die Invasion der mongolisch-tatarischen Horden unterbrochen, die die Ebenen des kaukasischen Vorgebirges besetzten. 1238 - 1239 zogen die gebliebenen Alanen in die Berge, ließen sich in Tälern nieder, und einige rückten bis zum südlichen Abhang der Gebirgskette vor, nach Transkaukasien, wo sie dicht nebeneinander liegende Siedlungen bildeten. Auf diese Weise teilten das historische Los und die mächtige Natur das Volk in zwei Teile - einen südlichen und einen nördlichen.

Die kaukasischen Umsiedler blieben ihren alanischen Wurzeln treu und erstanden als Ossen beziehungsweise Osseten wieder auf. Um die kolossale Macht seiner Ahnen gebracht, trat dieses Volk für fünf lange Jahrhunderte von der geschichtlichen Bühne praktisch ab. Dies allerdings, um sich wieder einmal hervorzutun.

Die anderthalbtausendjährige Geschichte der slawischen Russitschi-Stämme verflicht sich eng mit der Geschichte der Alanen-Osseten. Beide Völker lagen auf dem Wege der alles zerschmetternden Invasion der Horden von Dschingis-Khan. Die Zerschlagung des mittelalterlichen Alanenstaates war total, viele Kulturwerte, darunter auch die originellen Schriftzeichen, gingen verloren. Sie wurden später wiederhergestellt, aber bereits auf der Grundlage der russischen (kyrillischen) Schrift.

Am 25. September 1750 trafen in Petersburg fünf ossetische Botschafter und Archimandrit Pachomij ein. Sie erklärten der Zarin Jelisaweta Petrowna, dass "das ganze ossetische Volk wünscht, sich der russischen Krone unterzuordnen". Sie baten die Zarin um die Erlaubnis für die Osseten, von den Bergen herunterzukommen und sich in den Tälern Nordkaukasiens niederzulassen. Bald erhob sich am Terek-Ufer die Festung Wladikawkas. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die wichtige Georgische Heeresstraße gebaut, die von ihren Mauern über die Kaukasische Hauptkette führte. Als kühne Krieger erhielten die Osseten vom Staat den Auftrag, diese Magistrale zu bewachen.

Die durch die Berge voneinander getrennten nördlichen und südlichen Osseten (die einen waren nun auf dem Territorium Russlands, die anderen auf dem Georgiens) vergaßen nie ihre Verwandtschaft, unterhielten enge Beziehungen, besuchten einander und feierten Hochzeiten untereinander. In der Epoche des einheitlichen Sowjetstaates trennte sie nur die Straße über den Bergpass, die mit einem Auto schnell zurückzulegen war. Doch brachen andere, traurige Zeiten an, da die extremistische nationalistische Politik der "Macht der Titelnation" in Tiflis das autonome Südossetien in eine außerordentlich schwere Situation brachte. Im Grunde musste es die Frage "Sein oder nicht sein" lösen. Es ging darum, ob Südossetien seine nationale Eigenständigkeit bewahren oder sich von den Georgiern assimilieren lassen werde. Im Ergebnis hat die ossetisch-georgische Konfrontation zu einer Eskalation des Konfliktes geführt, der 1989 begann. Und aus dieser Sackgasse ist bis heute noch kein Ausweg gefunden worden.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 27. Oktober 2006;
http://de.rian.ru



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