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Putins "Schwerkraftzentrum"

Russlands neuer Präsident will die Wirtschaft modernisieren und die Demokratie festigen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Wladimir Putin ist seit Montag nicht nur de facto, sondern auch de jure wieder der Mann, der Russlands Schicksal maßgeblich bestimmt.

Im März mit über 60 Prozent aller Stimmen für eine dritte Amtszeit gewählt - diesmal für sechs Jahre -, legte Putin am Montag im Andreas-Saal des Kreml den Amtseid ab. Zugegen waren 3000 geladene Gäste, alle überregionalen TV-Kanäle übertrugen die rund 35 Minuten währende Zeremonie live.

Die Macher hatten schon am Vorabend der Feierlichkeiten eine Parade der Superlative versprochen: Alles werde schöner, farbenprächtiger und dynamischer als bisher. Und das war kein bisschen übertrieben. Kameras waren auf den Kremltürmen in Stellung gegangen und schwenkten über das gesamte Stadtzentrum, zeigten, wie Putins Wagenkolonne die Auffahrt zum Kreml nahm und dann das Räderwerk der großen Uhr auf dem Spasski-Turm.

Unter zwölf Glockenschlägen und himmelwärts gerichteten Blicken der Garde in historischen Uniformen schritt Putin die mit rotem Teppich belegte Treppe zum Großen Kremlpalast hinauf. Dort wartete bereits der scheidende Präsident auf ihn: Dmitri Medwedjew, der zu Beginn der Zeremonie kurz das Wort ergriff, um Rechenschaft über seine vierjährige Amtszeit abzulegen.

Er habe offen und ehrlich gearbeitet, damit die Menschen sich frei fühlen und mit Zuversicht in die Zukunft blicken können. Trotz der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise habe es keine Abstriche an sozialen Leistungen gegeben, diesen Kurs werde sein Nachfolger fortsetzen: Putin, den Medwedjew einen »starken und erfahrenen Führer« nannte.

Er, so Putin, sei sich der Schwere der Verantwortung, die das Amt ihm aufbürde, bewusst und sehe seine Lebensaufgabe darin, das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu rechtfertigen. Russland schicke sich an, in eine neue Etappe seiner Entwicklung einzutreten, in der auch qualitativ neue Aufgaben zu lösen sind. Das gelte sowohl für die Modernisierung der Wirtschaft als auch für soziale Standards und die Festigung der Demokratie. Russland, so Putin, müsse »zum Schwerkraftzentrum Eurasiens« werden.

Danach zogen er und Medwedjew sich in das Allerheiligste zurück, in das bunkerähnliche Lagezentrum, wo der alte Präsident dem neuen Standarte und Atomkoffer übergab. Zeitgleich feuerten die Kanonen der Moskauer Garnison 30 Schuss Ehrensalut ab. Anschließend begaben sich beide Politiker in den Ehrenhof, wo das Präsidentenregiment das Gewehr präsentierte und im Stechschritt vorbeidefilierte.

Nicht übertragen wurde die nachfolgende Begegnung mit Patriarch Kyrill in der Auferstehungskathedrale, an der auch Putins Ehefrau Ludmila Putina teilnahm. Sie, Swetlana Medwedjewa und Senatspräsidentin Valentina Matwijenko trugen bei den Feierlichkeiten strahlendes Weiß. Ebenso beim Empfang, der die russischen Steuerzahler stolze 26 Millionen Rubel (ca. 660 000 Euro) kostete. Geplant war weniger als die Hälfte, wie ein Protokollbeamter gegenüber der regierungsnahen »Iswestija« Ende voriger Woche ausgeplaudert hatte.

Dem gemeinen Moskowiter dagegen brachte die Inthronisierung nichts als Verdruss. Schon am frühen Morgen war das Zentrum weiträumig gesperrt, der Neue Arbat, der zur Protokollstrecke gehört, sogar für Fußgänger. Die Polizei war sichtlich nervös wegen der Zusammenstöße mit Teilnehmern der Massenproteste am Vortag. Dabei gab es nach offizieller Darstellung über 30 Verletzte und 436 Festnahmen, die Opposition spricht von über 600 Arretierten. Unparteiische Beobachter lasten dabei sowohl den Ordnungskräften als auch den Protestlern - nach offiziellen Angaben rund 8000 - die Schuld an.

Um Wiederholungen zu vermeiden, will die Moskauer Stadtregierung bei der Genehmigung neuer Massenmeetings strengere Maßstäbe anlegen. Schon an diesem Dienstag will die Duma den von Putin zu ernennenden neuen Regierungschef bestätigen. Als sicher gilt, dass er Medwedjew dafür nominiert.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Mai 2012


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