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Neuer Anlauf im Osten

Kontrollierter Kapitalismus, große Herausforderungen, leidige Probleme: Rußland hat 67 Jahre nach dem Sieg über Nazideutschland seinen neuen alten Präsidenten wieder

Von Klaus Fischer *

Dienstag, Tag der Befreiung, Mittwoch Tag des Sieges – Rußland beging die für das nationale Selbstbewußtsein wichtigsten Feiertage gebührend. Einen Tag zuvor, am Montag, wurde Wladimir Putin erneut als Präsident vereidigt. Im Großen Kremlpalast standen Vertreter des Establishments Spalier, um von dem seit 2000 dominierenden Politiker wenigstens einen flüchtigen Händedruck zu ergattern. 30 Salutschüsse, Vorbeimarsch des »Leibregiments« der Palastwache, Gottesdienst in der Verkündigungskathedrale – am imperialen Habitus hat es nicht gefehlt beim Auftakt einer neuen Episode russischer Geschichte. Gleichzeitig lieferte sich die Polizei mit zahlreichen Anti-Putin-Demonstranten Scharmützel in Moskaus Innenstadt. Genau das geriet erwartungsgemäß zur alles beherrschenden Nachricht, mit denen das Publikum im Westen über die ereignisreichen Tage im größten Staat Europas abgespeist wurde.

Es gibt aus globaler und europäischer Sicht wichtigere Dinge, als die wenig subtil geführte Untergrundkampagne für »mehr Demokratie«. Die Atommacht Rußland, Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, größter Erdölförderer und Eigner eines gigantischen Rohstoffareals ist auch 67 Jahre nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus ein Hauptdarsteller auf der weltpolitischen Bühne. Es ist dennoch kein Automatismus, daß es dabei bleibt.

Rußland braucht die schnelle Metamorphose vom Rohstoff- und Waffenlieferanten zu einem innovativen Industriestaat. Putin hat stets glaubhaft versichert, daß es ihm darum gehe, das Wohl aller Russen zu mehren. In seinen beiden Amtszeiten und auch als Regierungschef gab es deshalb kaum ein Thema, das er öfter auf seiner tagespolitischen Agenda hatte. »Modernisierung«, »Hochtechnologie«, »effizientes Wirtschaften« waren vielbenutzte Vokabeln. Die mantrahafte Wiederholung weist auf ein Grundproblem hin: Die Schaffung einer zukunftsweisenden ökonomischen Basis ist keine Einmannshow, kein Einparteienspiel, kein bloßer Willensakt. Produktivkraftentwicklung verläuft als komplexer sozialökonomischer Prozeß, der von Einzelpersonen oder selbst größeren, dem Ziel verpflichteten Gruppen zwar bewußt konzipiert, aber kaum umfassend dirigiert werden kann.

Das Putinsche Kapitalismuskonzept wird dabei von zwei grundlegenden Gebrechen in der gesellschaftlichen Reproduktionssphäre konterkariert: Der (für modernen Kapitalismus) ungewöhnlich disproportionalen Eigentumsverteilung, einem Resultat ursprünglicher Akkumulation unter Präsident Boris Jelzin – umgangssprachlich »Oligarchenwirtschaft« genannt. Und einem Mangel bzw. einer fehlgeleiteten Stimulierung der individuellen Motivation der Hauptproduktivkraft Mensch.

Wer funktionierenden Kapitalismus haben will, braucht nicht in erster Linie einen Überfluß an materiellen Ressourcen, sondern hinreichend motivierte Produzenten/Konsumenten. Und dies geht nur, wenn die Ware Arbeitskraft »doppelt frei«, also mobil, flexibel und in ihrer individuellen Wahrnehmung eigenverantwortlich agieren kann. Solcherart Freizügigkeit – die oft als »Freiheit« deklariert wird, bedarf subtiler Herrschaftsinstrumente und ist je nach Kulturkreis schwer oder gar nicht mit einem Alleinherrschaftsanspruch jenseits ökonomischer Determiniertheit vereinbar. Nicht zuletzt Versuch und Irrtum, nicht nur in den Nachfolgestaaten der UdSSR haben gezeigt, daß Putin einen solchen Umbau des Machtgefüges in Angriff nehmen muß, will er Rußlands Wirtschaft tatsächlich voranbringen, um den Wohlstand aller und nicht nur den der Oligarchen und Mafiosi, Parteigänger und »Sinekuren« zu mehren. Sozialismus steht ja bekanntlich nicht auf der Agenda.

Allerdings dürfte es dem Präsidenten in den kommenden sechs Jahren schwerfallen, die bereits festgefahrenen Herrschaftsstrukturen aufzubrechen, um einem modernen Kapitalismus den Weg zu ebnen. Seine ersten Amtshandlungen erscheinen zwar toll, machen aber offensichtlich, wie es gerade nicht funktionieren wird. Wenige Stunden nach seiner Vereidigung hat Putin die Regierung beauftragt, bis 2020 landesweit 25 Millionen hochproduktive Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitsproduktivität soll schon bis zum Jahr 2018 um die Hälfte steigen. Das geht aus dem »Dekret über die langfristige staatliche Wirtschaftspolitik« hervor, das Putin am Montag unterzeichnete, wie der Kreml-Pressedienst mitteilte. Ist das nicht wieder eine Revolution per Ukas, oder tatsächlich doch ein Neubeginn? Vor allem der weithin verbreitete Subjektivismus – eine Reaktion auf die Entscheidungsgewalt weniger – dürfte weiter Bremsfaktor Nummer eins sein. Oder was heißt das konkret, wenn Putin die Regierung »beauftragt«, bis zum Jahr 2015 die Investitionen im Land auf mindestens 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu steigern? Erklärtes Ziel dabei ist eine Imageverbesserung, die Investoren anzieht. Demnach sollen die »Wirtschaftsbedingungen« verbessert werden, damit Rußland im Weltbank-Ranking der wirtschaftsfreundlichsten Staaten im Jahr 2015 auf die 50. und im Jahr 2018 auf die 20. Stelle vorrückt. Gegenwärtig hängt das Land beim Gradmesser kapitalistischenr Modernität auf Rang 120.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Mai 2012


Medwedjews Tauschwert sinkt

Als russischer Regierungschef könnte der Expräsident Putins Bauernopfer werden

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Die einfache Mehrheit - 226 Stimmen - genügte für die Betätigung des Regierungschefs durch die Duma und sie war Dmitri Medwedjew, den Wladimir Putin gleich nach seiner Vereidigung als Präsident am Montag für das Amt nominiert hatte, noch vor Beginn der Abstimmung am Dienstagnachmittag so sicher wie das Amen in der Kirche. 299 Stimmen bekam er schließlich.

Bei den Konsultationen, die Medwedjew seit Montag mit allen vier im Parlament vertretenen Parteien führte, hatten neben der Regierungspartei Einiges Russland - sie allein kontrolliert 238 Mandate - auch die Liberaldemokraten um den Nationalisten Wladimir Shirinowski seine Kandidatur unterstützt. Die Chefs von KPRF und Gerechtem Russland - Gennadi Sjuganow und Sergej Mironow - hatten dagegen die Mitglieder ihrer Fraktionen aufgerufen, »konsolidiert« gegen Medwedjew zu stimmen. Tatsächlich gab es 144 Gegenstimmen, wiewohl der Expräsident erklärt hatte, er werde »für den Dialog mit allen politischen Kräften offen sein«.

Kritische Beobachter sind allerdings skeptisch, was Medwedjews Verweildauer im neuen Amt angeht. Denn schon in nächster Zukunft stehen unpopuläre Maßnahmen auf dem Programm. Wie die regierungsnahe »Iswestija« schrieb, sollen die meisten Sozialprogramme - vor allem ihnen verdankt Putin sein gutes Abschneiden bei den Wahlen im März - dem Rotstift zum Opfer fallen. Denn trotz relativ hoher Weltmarktpreise für Öl und Gas ist der russische Staatshaushalt kein Gummiband. Bei den Ausgaben müssen daher Prioritäten gesetzt werden. Geplant ist laut »Iswestija« eine Umverteilung zugunsten der Rüstung. Putin, das machten bereits dessen erste Weisungen als Präsident an das Außenministerium klar, geht davon aus, dass bei den Verhandlungen mit den USA zu Raketenabwehrstellungen in Europa, durch die Moskau sich bedroht seht, kein Kompromiss erzielt wird. Auch drängt das Militär auf eine härtere Gangart gegenüber dem Westen.

Generalstabschef Nikolai Makarow drohte erst vergangene Woche erneut mit der Aufstellung von Kurzstreckenraketen des Typs Iskander an den West- und Südgrenzen und konnte sich sogar deren Einsatz bei einem Präventivschlag gegen die NATO-Raketenabwehr vorstellen.

Putin kann es sich nicht leisten, die Bedenken der Generalität zu ignorieren. Sie gehörte zwar in seinen ersten beiden Amtszeiten zu den verlässlichsten Machtstützen. Jetzt indes sollen Umfragen ergeben haben, dass das Offizierskorps ihm zu 80 Prozent »eher kritisch« gegenübersteht.

Von den 20 zivilen Zielprogrammen, die Medwedjew initiierte, sollen daher nur zwei übrig bleiben: Verbesserung der medizinischen Versorgung und Förderung der Regionen in Ostsibirien und im Fernen Osten.

Sogar traditionelle Empfänger von Transferleistungen wie die instabilen und strukturschwachen Regionen im Nordkaukasus könnten auf Nulldiät gesetzt werden. Als Sündenbock aber muss in Russland traditionell die Regierung herhalten. Und Putin könnte sich schon deshalb zu einem Bauernopfer gezwungen sehen, weil er bei Strafe des eigenen politischen Untergangs verhindern muss, dass Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit der amorphen Protestbewegung Massenzulauf verschaffen.

Hinzu kommt, dass der Rollentausch im Tandem das Machtgerangel der Einflussgruppen in deren Dunstkreis anheizt. Die liberale Minderheit um Medwedjew drängt auf Reformen, einschließlich Privatisierung von Staatseigentum, die konservative Mehrheit um Putin auf Erhaltung des Status quo. Aufschluss über den Etappensieger ist von der Kabinettsliste zu erwarten, die Präsident und Premier gemeinsam aushandeln wollen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Mai 2012


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