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"Warum schon wieder Putin?"

Boris Kagarlitzki über die falschen Prognosen der russischen Liberalen und die Strategie der Linken *


Die Moskauer Liberalen vermitteln im Westen nicht das reale Bild von Russland, sagt der Moskauer Politologe Boris Kagarlitzki, der als Analytiker weit über die russische Linke hinaus Anerkennung genießt. Die Rolle Wladimir Putins werde von den Liberalen überhöht, urteilt Kagarlitzki im Interview mit dem »neuen deutschland«.
Seine Unangepasstheit hatte den Politologen immer wieder in Konflikt mit der Macht gebracht: 1982 wurde er wegen »antisowjetischer Tätigkeit« verhaftet, 1993 wegen Unterstützung des Obersten Sowjets, der sich dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin entgegengestellt hatte. 1990 war Kagarlitzki in den Moskauer Stadtsowjet gewählt worden. Heute leitet der 54-Jährige das Moskauer Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen (IGSO) und die Internet-Zeitung Rabkor.ru. Für »nd« befragte ihn in Moskau Ulrich Heyden.


Wladimir Putin hat vor den Präsidentschaftswahlen 2012 Verbesserungen in der Sozialpolitik und Maßnahmen zur Modernisierung der Wirtschaft versprochen. Was ist aus diesem Versprechen geworden?

»Modernisierung der Wirtschaft«, das sind in Russland nicht mehr als schöne, aber leere Worte. Anstelle von Wissenschaft und Bildung tritt Innovation. Doch was bedeutet Innovation? Das sind kurzfristige Entscheidungen, die darauf zielen, auf dem Markt schnell Geld zu verdienen. Es gab von Putin vor und nach den Wahlen aber eine Reihe von Versprechungen, mit denen erreicht werden sollte, dass sich die Lage verschiedener Gruppen in der Gesellschaft nicht verschlechtert, sondern verbessert. Das betraf die Rentner, die Beschäftigten im Bildungs- und Gesundheitswesen und der Wohnungsbewirtschaftung.

Wie ernst war es ihm damit?

Putins Absicht war nicht nur, von den Menschen mit geringem Einkommen Wählerstimmen zu bekommen. Putins Politik entspricht dem keynesianischen Modell der Wirtschaftsstimulierung über den Konsum. Der Präsident und seine Umgebung sind davon ausgegangen, dass auch die russische Regierung in dieser Richtung arbeitet. Doch die Antikrisen-Maßnahmen wurden von der Regierung nicht ausgeführt.

Weil es in der Regierung andere politische Vorstellungen gibt?

Die Regierung weigerte sich, die Anordnungen auszuführen unter dem Vorwand, dass es kein Geld gibt. Doch das ist nicht wahr. Die russische Regierung setzt viel gespartes Geld aus dem Reservefonds auf den internationalen Finanzmärkten ein. Seit dem Frühjahr werden Krankenhäuser und Universitäten geschlossen, Ausbildungsprogramme an den Universitäten und Gehälter der Ärzte gekürzt.

Ihren Worten zufolge ist die Politik Putins gar nicht so schlecht. Worin besteht also die Kritik der Linken an Putin?

Putin ist so etwas wie ein gemäßigter rechter Keynesianer. Natürlich ist er kein Sozialdemokrat. Aber in seiner Umgebung wurden immerhin Überlegungen zur Entwicklung der nationalen Wirtschaft angestellt. Die Regierung von Dmitri Medwedjew macht dagegen eine harte, neoliberale Politik.

Und welche Linie setzt sich letztlich durch?

Putin ist zurzeit eine mehr symbolische Figur. Indem er vom Posten des Ministerpräsidenten wieder auf den des Präsidenten gewechselt ist, hat er direkte Einwirkungsmöglichkeiten aufgegeben.

Was seine Popularität betrifft, kommen Meinungsforschungsinstitute neuerdings zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Das vom Kreml unabhängige Lewada-Zentrum sagt, dass nur 26 Prozent der Russen Putin nach 2018 wieder als Präsidenten sehen wollen.

Aus den Fragen der liberalen Meinungsforscher kann man nur entnehmen, wie die Meinungsforscher selbst denken, aber nicht, wie die Menschen denken. Das ist ungefähr so, als wenn man den Leuten die Frage stellt: »Wie stellen Sie sich das Leben auf dem Mars vor?« Bekanntlich gibt es kein Leben auf dem Mars, sondern nur unsere Vorstellung davon. Und diese Vorstellung ist in unterschiedlichem Maße absurd.

Welchen Rückhalt hat Putin heute in der Gesellschaft?

Die Menschen denken nicht in diesen Kategorien. Sie denken nicht darüber nach, ob man den Präsidenten auswechseln kann oder nicht. Für sie ist der Präsident keine politische Figur. Die Gesellschaft nimmt Putin so hin wie gutes oder schlechtes Wetter. Wirkliche Bedeutung für das Leben der Menschen hat nicht Putin, sondern eher schon ein Gouverneur.

Man hat den Eindruck, dass die sozialen Forderungen der Linken in jüngster Zeit in Russland mehr Beachtung finden. Dennoch ist die russische Linke immer noch sehr schwach.

In Russland sind alle politischen Kräfte – die Macht eingeschlossen – im Verhältnis zur Gesellschaft marginal. 1,5 bis zwei Prozent der Menschen in Russland interessieren sich für Politik.

Und was schlagen Sie der Linken vor? Wie sollte sie unter diesen Verhältnissen agieren?

Die Linke muss sich auf konkrete Bewegungen konzentrieren, die nicht ideologisch sind, sondern konkrete soziale Forderungen haben, die den Menschen verständlich sind. Und im Kampf für diese Forderungen muss die Linke den Leuten erklären, dass ihre Forderungen zum Programm der Linken gehören.

Putin fährt zurzeit einen harten Kurs gegen die Opposition …

Warum schon wieder Putin? Es ist eine Illusion, dass Putin irgendwelche Entscheidungen trifft. Die Entscheidungen trifft ein konkreter Beamter. Für viele Beamte ist der einfachste Weg, ein Problem zu beseitigen, eine bestimmte Person ins Gefängnis zu stecken.

Ein Beispiel: Vor einigen Wochen wurde Alexej Gaskarow verhaftet, ein bekannter linker Aktivist. Sein Rechtsanwalt sagt, der zuständige Mitarbeiter des Ermittlungskomitees verstehe nicht, warum Gaskarow festgenommen wurde, und dass es für die Inhaftierung juristisch keine Grundlage gibt. Auch das Zentrum zum Kampf gegen den Extremismus, hat keine Beweise, dass der Verhaftete bei der Demonstration gegen Putin am 6. Mai 2012 Gewalt angewendet hat. Aber sie haben durchgesetzt, dass Gaskarow hinter Gitter kam. Schon einmal haben sie erfolglos versucht, ihn ins Gefängnis zu werfen. Das war 2010 nach den Protesten gegen den Autobahnbau durch den Chimki-Wald. Putin hat mit der Verhaftung Gaskarows nichts zu tun. Für die zentrale Macht bringen solche Verhaftungen nur Scherereien.

Im Westen meint man dennoch, dass Putins erstes Amtsjahr ein Jahr verschärfter Repressionen war.

Das stimmt nicht. Das war »business as usual". Die Anti-Extremismus-Kampagne in Russland läuft schon seit vier Jahren. Die ganze Zeit über gab es politische Gefangene. Es ging los unter Präsident Medwedjew und nicht unter Präsident Putin. Der Unterschied zu früher ist, dass die Anklagen im Fall der Anti-Putin-Demonstration am 6. Mai 2012 zu einem Verfahren zusammengefasst werden.

Die Beweise in diesem Verfahren sind äußerst fragwürdig.

Es gibt seit vier Jahren eine Liste des Anti-Extremismus-Zentrums. Wenn Ermittler festgestellt haben, dass jemand von dieser Liste bei der Demonstration am Bolotnaja-Platz war und auf irgendeinem Video von der Demo zu sehen ist, bedeutet das, dass er wahrscheinlich verhaftet wird.

Worauf hoffen die Menschen, die sich vor eineinhalb Jahren an den ersten großen Protestdemonstrationen gegen Putin beteiligten?

Auf dem Bolotnaja-Platz waren sehr verschiedene Leute mit sehr verschiedenen Zielen. Die Bewegung hat sich aber erschöpft. Doch ich glaube, dass sich Russland an der Schwelle schwerer Erschütterungen befinde, denn die wirtschaftliche Lage wird schlechter und in der Führung Russlands gibt es keinen Konsens darüber, wie das Land geführt werden kann. Noch ist es so, dass die Teilnehmer sozialer Proteste ihre Aktionen nicht unbedingt als politisch begreifen, selbst wenn sie sich mit der Polizei schlagen, weil sie zum Beispiel keinen Lohn bekommen. Es gibt bereits Proteste von Ärzten und Lehrern.

Wie gut ist die deutsche Öffentlichkeit über die Vorgänge in Russland informiert?

Es gibt in Deutschland viele Vorurteile über Russland, die mit den realen Vorgängen nichts zu tun haben. Diese Stereotype werden von der Moskauer liberalen Intelligenz verbreitet. Das sind ein paar Tausend Menschen, die in Moskau leben und für die westliche Presse schreiben. Bisher hat sich noch keine der Prognosen dieser Leute bewahrheitet. Im Dezember 2011 erklärten sie, Putin werde nicht wieder zum Präsidenten gewählt. Und jetzt versprechen sie uns zehn Jahre Stagnation. Trotzdem vertraut man diesen Leuten im Westen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Mai 2013


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