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Präsident Wladimir Putin: "Person des Jahres 2007"

Wie nah an der Macht bleibt Putin als Premierminister?

Wie kaum ein anderer Politiker setzte sich der russische Präsident Wladimir Putin im vergangenen Jahr weltpolitisch in Szene. Dies begann mit seiner berühmten Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz und endete mit seinem überraschenden Schachzug, einen Nachfolger für sein bisheriges Amt auszuwählen und sich selbst mit der Rolle des Regierungschefs zu begnügen.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti, die sich mit Putins Rolle in Russland und in der Welt befassen.



Menschen, Jahre, Putin...

Von Boris Kaimakow *

Das US-Magazin "Time" hat Wladimir Putin zur "Person des Jahres 2007" gekürt.

Die Menschen, denen Putin missfällt, betonten sofort, dass er dadurch in die Gesellschaft der abscheulichsten Diktatoren der neuesten Geschichte - Hitlers und Stalins - gerate. Diejenigen, denen Putin sympathisch ist, weisen dagegen auf die große Zahl von durchaus anständigen Menschen hinter seinem Rücken hin, die für den Frieden, gegen den Hunger gekämpft und einen gewichtigen Beitrag zur modernen Welteinrichtung geleistet haben. Ihr Name ist Legion, unter ihnen ist selbst der anonyme Computer-User zu finden.

Man sollte lieber gleich auf die Erörterung dessen verzichten, nach welchen Kriterien der Titel "Person des Jahres" verliehen wird. Sie sind nicht einfach anfechtbar, sie gibt es überhaupt nicht. Die offizielle Formulierung, Putin habe "bei der Leitung des Landes eine außerordentlich hohe Kunst gezeigt", ist höchstens auf die Ausführung von Kunstflugfiguren anwendbar. Gerade deshalb ist der im Magazin veröffentlichte Artikel über Wladimir Putins Tätigkeit auf dem Posten des Präsidenten äußerst widersprüchlich - gleich dieser Tätigkeit selbst.

Aber an sich ist das ein sehr bemerkenswerter und für Wladimir Wladimirowitsch sehr angenehmer Fakt. Das war mit bloßem Auge zu sehen, als er den "Time"-Journalisten vor der offiziellen Verleihung des prestigeträchtigen Titels das obligate Interview gewährte. Aber die Fragen der Amerikaner ärgerten Wladimir Putin schließlich so sehr, dass er zuerst von ihnen verlangte, die Namen und Treffs der russischen Korruptionäre zu nennen, und sie dann mit den Worten, das Gespräch sei zu Ende, überhaupt um den Nachtisch brachte. Allerdings dauerte das Interview über drei Stunden lang, so dass es den Kollegen, wenn sie an den Nachtisch auch dachten, im Voraus hätte einfallen müssen, dass die Freundlichkeit des Präsidenten und die russische Gastfreundschaft unterschiedliche Dinge sind.

Ich hege nicht die Illusion, die "Time" habe Putin den Titel aufgrund von Sympathien verliehen. Gewollt oder ungewollt, doch eher instinktmäßig kam die Zeitschrift zu der Erkenntnis der Rolle Russlands in der Weltordnung. Und so stellte sich plötzlich heraus, dass der Mann im Kreml nur zu verfügen braucht, einen Gashahn zuzudrehen, damit die halbe Welt halb in Ohnmacht liegt. Es ist zweierlei, ob man über Chodorkowski und darüber nachdenkt, wie die höchsten Juristen von Russland das Recht selektiv anwenden, um Quellen der Instabilität zu repressieren oder ob dein Gasherd kein Gas hat, wo du dir doch gerade deinen Morgenkaffee machen wolltest.

Ein Präsident, der sich eine solche Politik leisten kann, verdient höchste Aufmerksamkeit. Er rüttelt nicht nur die nach dem Verschwinden der sowjetischen Gefahr friedlich schlummernden westlichen Politiker auf, er veranlasst dazu, sich als einen recht ernsten Reizfaktor aufzufassen, und kommt dem Mann von der Straße vielleicht sogar als Gefahr vor.

Die Münchner Rede von Wladimir Putin zeigte, dass auch Russland im Westen bereits nicht einen Partner, sondern eine Gefahr für die eigene Sicherheit sieht. Die Rede löste einen Schock aus. Zuerst schien es, dass es sich einfach um einen Gefühlsausbruch handelte, als aber die Flüge der Fernfliegerkräfte wieder aufgenommen, als erfolgreiche demonstrative Raketenstarts veranstaltet wurden und Russland seinen Ausstieg aus dem KSE-Vertrag bekannt gab, wurde klar: Dieser Präsident will ernst genommen werden. Klar wurde auch, dass die Sicherheitsinteressen Russlands mit denen des Westens praktisch nicht zusammenfallen. Auf jeden Fall hat er diesen Eindruck gewonnen, trotz all dem freundschaftlichen Umgang mit seinen Kollegen.

Also: Das Magazin "Time" beschreibt den russischen Präsidenten als eine höchst widerspruchsvolle Persönlichkeit. Innerlich kalt, mit einem unbeweglichen Blick, keine Opposition im Lande duldend, hat er zugleich besser als viele andere in Russland erkannt, dass das Land gerade ihn, Wladimir Putin, braucht. Dazu braucht, um Tschetschenien zum Frieden zu zwingen, dazu, um den Oligarchen, zumindest öffentlich, auch nur den Gedanken an einen möglichen Einfluss auf den Kreml auszutreiben, schließlich dazu, dem elendsarmen Russland das Gefühl des Stolzes auf die Heimat zurückzugeben. Und hier ist Wladimir Putin aufrichtig wie sonst keiner. "Wie die Zeit, so der Messias" - das könnte sein Slogan sein. Euch passt das Fehlen der Redefreiheit und der Demokratie nicht, mir aber passt nicht die verschleppte Auszahlung von Löhnen und Renten. Ich kann nicht das Eine und das Andere gleichzeitig geben, und überhaupt verstehe ich Stabilität nur dann, wenn es mir gelingt, die Machtvertikale mit beiden Händen zu halten. Wie sich dabei die demokratischen Schakale an die ausländischen Botschaften heranzuschleichen suchen, ist ihre Sache.

Es geht nicht darum, Wladimir Wladimirowitschs Blick zu erhaschen. Es gilt, nach den Wurzeln zu forschen. "Time" tat das. Mag sein, dass sich das Magazin bei der Wahl des Anwärters auf den Titel "Person des Jahres 2007" geirrt hat. Dass aber Russland den Beginn seiner Wiedergeburt erlebt, die mit Wladimir Putins Präsidentschaft zusammenfällt, ist kein Irrtum, das stimmt.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur, 21. Dezember 2007


Höhere Mathematik oder Relativitätstheorie?

Von Andrej Wawra **

Putin ist einverstanden, Premier zu werden!
Das ganze Jahr über haben wir hin und her geraten, welchen Posten Putin wohl wählen wird, um die reale Macht nicht abtreten zu müssen.
Ein superzuverlässiger Nachfolger?
Die dritte Amtszeit?
Der nationale Führer?
Chef der Union Russlands und Weißruusslands?
Vorsitzender des Parlaments, das die Legislative kontrolliert?
Ministerpräsident?

Dieses Letzte - der zweite Mann im Staat - steht, wie es scheint, formell der Macht doch am nächsten. Doch wurde das Angebot an Putin, Premier zu werden, von allen einfach als Signal betrachtet, dass der heutige Präsident seine mächtigste Ressource weiterhin verteilt: an jene Personen und Strukturen, die nach seinem Rücktritt aktiv eingesetzt werden sollen. Gestern war es "Geeintes Russland", und alles hat ausgezeichnet geklappt. Heute ist es Medwedew. Denn morgen werden alle, die zu den Präsidentenwahlen kommen, glauben: Wenn sie für Medwedew stimmen, wird - auf dem Posten des Premiers - auch Putin selbst an der Macht erhalten bleiben. Sie werden das glauben und dafür stimmen. Und dann wird Putin sagen: Das Angebot, das mir Medwedew vor drei Monaten machte, will ich nicht annehmen. Denn ich kann, nachdem ich das Vertrauen des Volkes bekommen habe, die Macht über meinen Status als "nationaler Führer" kontrollieren.

Kurzum, alle nahmen an, dass die Variante "Premier Putin" nach dem Rücktritt des zweiten Präsidenten von Russland mit der realen Konfiguration der politischen Macht in keiner Beziehung steht. Die Partei hat gesiegt, der Nachfolger wird siegen. Was will man noch mehr? Endlich volle Klarheit. Sollte man meinen.

Aber in der ganzen Zeit seit der Bekanntgabe der Kandidatur des Nachfolgers und seit dessen Angebots an Putin, Ministerpräsident zu werden, blieb irgendwo tief im Unterbewusstsein eine Unstimmigkeit stecken: Bisher hat noch niemand erraten können, was der Präsident tun wird, und hier - wird es hier tatsächlich ohne Überraschungen zugehen?

Und da plötzlich: Putin der Ministerpräsident!

Wieder haben wir es nicht erraten. Die Doppelherrschaft, die nach Putins Rücktritt sowieso angenommen wurde, hat nach seinem Ja zum Premier eine paradoxe Form angenommen. Nicht etwa der nationale Führer, der im Grunde die letzte Instanz vor Gott ist, sondern ein Beamter, wenn auch der höchste im Staate, aber ein Beamter eben, der sich für die Inflation, die rechtzeitige Auszahlung der Renten, das Vorhandensein von vergünstigten Medikamenten, den Aufstieg der Landwirtschaft usw. usf. zu verantworten hat. Ja, schließlich auch für die Ölpreise, von denen der pralle Zustand des russischen Haushalts abhängt.

Zwar ohne eine Neuverteilung der Machtbefugnisse zwischen dem Institut Präsident und der Regierung selbst, doch ein ganz anderer Ministerpräsident, nicht ein Fradkow oder ein Subkow. Ein "nationaler Führer", der jedoch ernannt wird und (laut Verfassung) höchst rechenschaftspflichtig ist. Die Macht, die über den juristischen Aspekt jeder beliebigen Frage stets aufmerksam wacht, ist auch hier formell tadellos: Hat da jemand etwas von Putins dritter Amtszeit gesagt?

Offenbar ist etwas hinter all der äußeren Eintracht und Schönheit in der Macht verborgen, weshalb Putin es als notwendig erachtet, seine Präsenz im politischen System zu formalisieren. Was bewegt ihn: die Sorge um den Nachfolger? Die Befürchtung, dass die "Silowiki" (Hardliner aus Militär und Geheimdienste) ihn „zerreißen“? Oder die Oligarchen ihn niedertreten? Dass sich die regionalen Machthaber der Kontrolle entziehen? Oder beunruhigt ihn, dass das aufgebaute System einen ausgesprochen personengebundenen Charakter hat? Bei uns sind ja nicht die Machtinstitute am wichtigsten, sondern die darin vertretenen (oder auch ganz beiseite stehenden) Menschen und die Beziehungen zwischen ihnen.

Kurz und gut: Wir wissen überhaupt nicht, was all das bedeutet. Aber aussehen tut das wie das Zugeben der Zerbrechlichkeit des von der eigenen Hand geschaffenen politischen Systems. In welchem nur ein - konkreter - Mensch der Garant seiner Effektivität, des abgestimmten Zusammenwirkens, ja der elementaren Handlungsfähigkeit ist. In welchem nicht ein beliebiger Präsident das Hauptglied im System ist, sondern eben Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Im Übrigen war die Zerbrechlichkeit auch früher zu bemerken. Denn die Situation ist überall eindeutig: entweder Wahlen oder deren Fehlen. Bei uns aber ist es ein nicht enden wollendes Herumrätseln: In welcher Form will sich die Macht für alle Zeiten erhalten, und dies unter Wahrung aller formellen juristischen Normen? Vermittels welcher Instrumente, mit Hilfe welcher Institutionen und Gesetze? Und in welcher überraschenden Variante soll uns das serviert werden?

Übrigens ist Putin in seinem neuen Amt nicht zu beneiden. Er unterzieht sich der Aufgabe, für die verwundbarste Komponente dieser Konstruktion die Verantwortung zu tragen. Denn die Weltwirtschaft, die mit Russlands Wirtschaft verbunden ist, hat einen zyklischen Entwicklungscharakter. Alles scheint gut zu gehen, aber dann, plötzlich und unerwartet... Peng! Da ist zum Beispiel der Preisanstieg bei den Lebensmitteln - ein für uns unerwarteter und ernster Schlag. Wie, wenn plötzlich der Dollar oder die weltweiten Erdölpreise sinken? Was wird dann aus den endlosen Sozialverpflichtungen, den Rentenproblemen, den steigenden Kommunalgebühren und der Angleichung der Inlands- und Weltpreise für die Energieträger? Für all das trägt der Ministerpräsident die Verantwortung.

A propos. Ich musste immer wieder daran denken, wie Putin gegenüber Medwedew wohl Rechenschaft legen wird. Und dann hatte ich es! Das ist ja gar nicht Putins Problem, vielmehr das Problem von Medwedew.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur, 21. Dezember 2007


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