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Wladimir Putin ruft an die Volksfront

Russlands Regierungschef geht im Wahlkampf in die Offensive

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Niemand kann mehr verkennen, dass in Russland Wahlen bevorstehen: Parlamentswahlen im Dezember, Präsidentschaftswahlen im kommenden März. Regierungschef Wladimir Putin selbst macht inzwischen Wahlkampf.

Beobachter der Moskauer Szene glaubten sicher sein zu können: Als Dmitri Medwedjew Mitte April deutlicher als je zuvor Ambitionen auf ein weitere Amtszeit als Präsident erkennen ließ und dabei das Wort »Tandem« nicht ein einziges Mal in den Mund nahm, hatte er sich in ihren Augen einen Vorsprung im Kampf um den Kreml verschafft, den Premier Wladimir Putin kaum noch aufholen würde. Dieses Urteil war offenbar voreilig, denn jetzt drängt der Regierungschef seinen politischen Ziehsohn zunehmend in die Defensive.

Gerade kündigte Putin die Gründung einer Staatsagentur für strategische Initiativen an, deren Aufgabe es sein soll, die Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Das Thema war bisher von Medwedjew besetzt. Am vergangenen Freitag hatte sich Putin in Wolgograd, wo er mit Aktivisten der Regierungspartei »Einiges Russland« aus dem Süden des Landes zusammentraf, bereits für eine »Gesamtrussische Volksfront« stark gemacht. Sie soll allen politischen Gruppierungen, gesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen, die seine Politik unterstützen, zum Beitritt offen stehen. Sogar 125 der insgesamt 600 Plätze auf der Kandidatenliste, mit der sich »Einiges Russland« Anfang Dezember um die 450 Sitze in der Staatsduma bewerben will, sollen an die neue Sammlungsbewegung gehen. Ein Gründungskomitee trat bereits am Wochenende zu seiner ersten Sitzung in Putins Residenz Nowo Ogarjowo bei Moskau zusammen. Juri Schuwalow, stellvertretender Generalsekretär der Einheitsrussen, wollte nicht einmal ausschließen, dass sich die Volksfront zur Partei mausert und das politische Erbe von »Einiges Russland« antritt.

Putin ist bekanntlich Vorsitzender dieser Partei, ohne deren Mitglied zu sein, und das war womöglich eine weise Entscheidung. Nur wenn seine Hausmacht ihre Zweidrittelmehrheit in der Duma behält und damit jede Vorlage der Exekutive problemlos durchwinkt, kann Putin in einer dritten Amtszeit seine Kompetenz als Staatschef voll ausreizen. »Einiges Russland« aber ist, wie die Regional- und Kommunalwahlen im März zeigten, von diesem Klassenziel weit entfernt. Schlimmer noch: Das ramponierte Ansehen der Einheitsrussen droht inzwischen sogar Putins eigene Zustimmungsraten zu vermasseln. Sogar staatsnahe Meinungsforscher bestätigten nicht nur seiner Partei, sondern auch ihm persönlich spürbaren Popularitätsverlust. Allerdings auch Medwedjew. Immerhin 30 Prozent aller Wähler sehnen sich demzufolge nach einer wirklichen Alternative in Gestalt eines dritten Bewerbers. Polittechnologen suchen daher nach »Varianten«, um den politischen Sprengsatz entschärfen zu können.

Unter der Marke »Volksfront«, glauben manche Beobachter, könne Putin Persönlichkeiten an sich binden, die für seine Partei unter keinen Umständen ins Rennen gehen würden. Künstler etwa oder Intellektuelle, also Menschen, die plausibel erklären können, was sie mit ihrem Mandat bewirken wollen. Viele der Einheitsrussen, ätzte Grigori Golossow vom Projektzentrum Teliks, seien dagegen Staatsbeamte, die weder reden wollten noch könnten. Neue Namen, glaubt er, gäben Putin auch die Möglichkeit, Ziele und Strategien neu zu definieren.

Das Projekt hat freilich seine Schönheitsfehler. Ob die neuen Namen auf der Liste von »Einiges Russland« für die Nation genug Strahlkraft haben, ist so sicher nicht. Dazu kommt, dass sich das Interesse bisher in Grenzen hält. Die drei anderen derzeit im Parlament vertretenen Parteien sehen in der Volksfront-Idee »noch so ein Ding, mit dem die Wähler im Dezember hinters Licht geführt werden sollen«, wie es der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow ausdrückte. Auch Nikolai Lewitschew, seit Kurzem Nachfolger Sergej Mironows als Vorsitzender der Partei »Gerechtes Russland«, glaubt nicht, dass sich seine Anhänger unter die Fahne des »Einigen Russlands« stellen.

Die außerparlamentarischen Putin-Gegner zogen sogar Parallelen zu 1937, als Stalin erstmals den Obersten Sowjet wählen ließ – mit einer einzigen Kandidatenliste, die die unverbrüchliche Einheit von Kommunisten und Parteilosen demonstrieren sollte.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Mai 2011


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