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Sorgen um Rechtsextremismus in Russland

Gedenkmarsch für Markelow und Baburowa

Von Irina Wolkowa, Moskau *

»Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen!« Unter dieser Losung erinnerten russische Linke und Liberale in Moskau am Donnerstagabend an die Ermordung zweier Menschenrechtler vor drei Jahren.

Um Stanislaw Markelows und Anastasia Baburowas zu gedenken, die vor drei Jahren auf offener Straße und am hellen Tag erschossen wurden, kamen allein in Moskau etwa 1000 Menschen zusammen. Gerechnet hatten die Organisatoren mit ganzen 300. An dem Marsch und dem anschließenden Meeting auf dem Puschkin-Platz beteiligten sich vor allem linke Bürgerrechtler und liberale Intellektuelle. Viele hatten weiße Bänder an den Jacken. Sie stehen für Gewaltlosigkeit und sind seit Dezember auch Erkennungszeichen der Teilnehmer an Protesten gegen Fälschungen der Dumawahlen am 4. Dezember. »Keine Chance für Neonazismus und Fremdenhass« forderten die Demonstranten mit Sprechchören und Transparenten. Viele hielten Bilder der Toten hoch.

Der Anwalt Markelow hatte auch Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verteidigt. Die zur Tatzeit erst 24-jährige Journalistin Baburowa hatte für die kritische »Nowaja Gaseta« gearbeitet und dort vor allem über die rechtsextreme Szene geschrieben.

Die Täter - Nikita Tichonow und dessen Lebensgefährtin Jewgenia Chassis, Mitglieder einer verbotenen rechtsextremistischen Gruppe - wurden ermittelt und im vergangenen Jahr zu lebenslanger Haft (Tichonow) und achtzehn Jahren Straflager (Chassis) verurteilt. Bürgerrechtler kritisieren allerdings, dass Spuren, die zu möglichen Hintermännern und Auftraggebern führen könnten, nicht konsequent genug verfolgt wurden. Nicht überzeugend ist aus ihrer Sicht auch die Urteilsbegründung, wonach nur der Mord an dem Anwalt politisch motiviert war. Baburowa, die zusammen mit Markelow von einer Pressekonferenz kam, sei dagegen »zufälliges Opfer«, hieß es dort.

Die Gedenkmärsche waren für die Zivilgesellschaft auch Anlass, sich erneut kritisch mit dem Phänomen Rechtsextremismus auseinanderzusetzen. Zur Entwarnung sieht Lidia Grafowa, Chefin eines Forums von Einwandererorganisationen, keinen Anlass, obwohl die Zahl einschlägiger Verbrechen 2011 laut Statistik leicht rückläufig war. Die Szene, glaubt Lidia Grafowa, habe sich weiter radikalisiert. Einer der Gründe sei mangelnde Toleranz des Staates gegenüber Andersdenkenden: Politiker, die Toleranz nicht selbst vorleben, könnten nicht erwarten, dass die Gesellschaft gegenüber Migranten toleranter wird.

Ähnlich sieht das Alexander Werchowski von »Sowa« (Eule), einer Organisation, die sich auf die Beobachtung neonazistischer und fremdenfeindlicher Umtriebe spezialisiert hat. Er erklärt den Rückgang rechtsextremistischer Straftaten vor allem damit, dass die Arbeit der Rechtschutzorgane besser geworden sei. Auch weil Präsident Dmitri Medwedjew und Premier Wladimir Putin dringenden Handlungsbedarf sahen. Besorgt äußerte sich Werchowski darüber, dass ausgerechnet die Massenproteste nach den Wahlen auch Rechtsextremisten eine Tribüne bieten. Missfallen darüber würde nur hinter vorgehaltener Hand geäußert, weil Basisdemokratie mit Zensur der Rednerliste unvereinbar sei. Das, sagte Werchowski bei einer Talkshow, sei »nur eines der vielen Probleme, die die junge Protestbewegung hat und die sie angreifbar machen«.

* Aus: neues deutschland, 21. Januar 2012


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