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Hinter dem Polarkreis

Vom Versuch, die eigene Kultur trotz Angst und Arbeitslosigkeit zu erhalten: Begegnungen in der Metropole der russischen Samen. Eine Reportage

Von Alexandre Sladkevich *

Sie leben hinter dem Polarkreis nördlich des 66. Breitengrads. Dort, wo die Sonne in diesen Sommertagen rund um den 21. Juni herum nicht mehr untergeht, existieren sie seit Menschengedenken - jene Dutzende Ethnien, von denen allein in Rußland über 40 gezählt werden. Jakow Michailowitsch gehört zu ihnen, ein Karelier. Seine Frau Ljudmila, eine Komi-Ishemzin, auch. Das Paar wohnt auf dem ehemaligen Flughafengelände am Rande von Lowosero, der Hauptstadt der russischen Samen.

»In meiner Kindheit und Jugend war alles anders: Damals konnten wir frei jagen, angeln und der Sammlertätigkeit nachgehen. Wir konnten jeden Winkel der Tundra betreten und unsere Tschums (Feuerzelte) aufstellen. Unsere Rentiere konnten überall weiden«, erzählt Jakow Mihailowitsch. »Nun ist es alles anderes geworden: Angeln lohnt sich nicht mehr. Man braucht eine teure, zudem zeitlich begrenzte Erlaubnis, die nur für eine bestimmte Anzahl von Fischen gilt. Der Verkauf der Tiere, die ich fange, bringt weniger ein als die Fanggenehmigung kostet.«

Der Mann nennt die Gründe der Misere. »Die Neureichen aus Moskau kommen hierher und erwerben riesige Grundstücke entlang der Flüsse - das beste Land. Es gehörte einst unseren Vorfahren. Nun wird der Zugang zum Wasser blockiert - und dann stellen die neuen Besitzer Rechen und Netze auf, um zu verhindern, daß unser wichtigster Fisch, der Lachs, die Territorien verläßt.« Es entstünden zudem Safariparks, wo andere Betuchte jagen, angeln und Motorschlitten fahren können. »Und wir müssen noch aufpassen, daß wir ihre Privatgrundstücke nicht betreten«, meint Jakow Michailowitsch.

Ljudmila schweigt fast die ganze Zeit und nickt traurig, derweil Jakow fortfährt: »In den neunziger Jahren bin ich auf der Suche nach der Wahrheit nach Moskau gefahren. Dort habe ich eine Journalistin kennengelernt, die eine Reportage über unsere Probleme machen wollte. Das fiel dann aus, weil sie Angst bekam.« Einen Gesprächstermin bei Parlamentsabgeordneten erhielt er auch nicht. Schließlich wurde ihm gesagt, er solle sich »zum Teufel in die Tundra scheren«. Seitdem seien er und andere - trotz der drohenden hohen Geldstrafen und Gefängnis - gezwungen zu wildern. »Und das machen alle, um zu überleben.«

Verzeichnis der Völker

Viele Völker des Nordens sind im »Einheitlichen Register indigener kleiner Völker Rußlands« verzeichnet und sollten demnach über spezielle Rechte und einen privilegierten Zugang zu den natürlichen Ressourcen - Wald, Wildtiere und Fischvorkommen - verfügen. Doch das steht auf dem Papier, was wiederum bekanntlich geduldig ist. Andere Eth­nien sind zwar in genanntem Register nicht erwähnt, werden aber von der ­RAIPON (Russian Association of Indigenous Peoples of the North) anerkannt. Die Organisation mit Sitz in Moskau vertritt die Interessen von etwa 40 bis 50 indigenen Völkern. Deren wichtigste Forderung ist die Umsetzung verbriefter Landrechte in Gestalt von »Territorien zur traditionellen Naturnutzung«. So oder so, ob registriert oder nicht: Alle Völkergruppen klagen. Nicht nur Gesetzesmängel erschweren ihre traditionelle Lebensweise oder machen sie gar unmöglich. Auch zerstört die Willkür einer Schicht von in jüngster Zeit zu großem Reichtum gekommenen Auswärtigen, »Neue Russen« genannt, ihre Wirtschaft.

Zentrum der Samen

Zum Beispiel Lowosero. Der am Fluß Wirma gelegene Ort wurde urkundlich erstmals 1574 erwähnt. Die Entfernung nach Murmansk in die Gebietshauptstadt beträgt etwa 160 Kilometer in nordwestlicher Richtung. Zuletzt wurden etwa 1500 Sami in Lowosero gezählt, von denen die meisten Kildinsamisch als Umgangssprache benutzen. Doch insgesamt schrumpft die Einwohnerzahl - seit Sowjetzeiten von knapp 4000 auf nunmehr etwa 3100.

Petr und Tatjana Galkiny, ein Ehepaar, sind hier die Ältesten. Sie glauben nicht mehr, daß es noch einmal besser wird. Froh sind sie nur darüber, daß ihre Kinder norwegische Samen geheiratet haben und auswandern konnten. »Viele versuchen, nach Finnland und Norwegen zu gehen. Dort kann man problemlos Lachs angeln, und wenn jemand auf der Straße ein Ren überfährt, bekommt der Besitzer eine Entschädigung vom Staat«, schwärmt Peter Galkin und meint: »Wir dagegen haben kaum noch das Recht auf unser Eigentum.« Viele Menschen suchten ihr Heil im Alkohol, würden abhängig davon und litten darunter.

Wie Vera Koslowa und ihr Freund Wassili. Sie schämen sich für ihre Krankheit, versuchen, sich trotzdem durchzuschlagen, sehen aber keinen Ausweg. Vera verdient gelegentlich Geld mit traditioneller Strickerei, ab und zu arbeitet sie auch in einem winzigen Hotel als Portiersfrau. Immerhin hat sie jüngst ein kleines Zimmer zur Untermiete gefunden - in ihrer ehemaligen Wohnung waren die Fenster undicht und die Heizung defekt, selbst mehrere Bettdecken halfen nicht gegen die Kälte der langen Polarwinter.

Wassili ist arbeitslos. Er lebt zusammen mit seiner alten Mutter Matrjona und dem kranken Bruder. Seine Tochter studiert, wie manche junge Samen, im Ausland. »Uns wurde alles weggenommen. Dafür bekamen wir Alkohol. Das Land unserer Vorfahren gehört uns nicht mehr, wir haben Wohnungen in der Stadt bekommen, aber Arbeit gibt es dort nicht.« Über die Hälfte der Ureinwohner in der Region ist arbeitslos. Sie erzählen von Rentierschlitten, Wettbewerben, in denen Wassili früher Preise als schnellster und geschicktester Rentierführer bekam; von der Erde, die ihnen einmal gehörte, und von der endlosen Tundra, wo man ohne Kompaß den Weg fand. Und sie sind bedrückt, wenn sie Lebensmittelgeschenke entgegennehmen.

Der Stolz blieb ihnen, und die Haustür der Familie Galkiny steht immer offen. »Bevor die Russen hierher kamen, haben die Samen nie die Tür verschlossen, damit keiner in einem Schneesturm ausgesperrt bleibt. Wir pflegen diese Tradition weiter.«

In Murmansk

Ortswechsel. Swetlana Matrechina ist die Leiterin der samischen Gemeinde »Tschigar« in Murmansk, der Metropole nahe der Barentsee, und Gründerin der »Samen Farm«, ein samisches Freilichtmuseum in Loparskaja. Ihr war bekannt, daß Parlamentsabgeordnete den Samen das Leben schwer machten und Gelder unterschlugen. Sie wußte, um wen es sich handelte. Also kämpfte sie und veröffentlichte die Fakten. »Die indigenen Völker haben zwar Privilegien, in manchen Schulen kann man sogar die Sprache wieder lernen. An den Universitäten gibt es Quoten. Doch generell gilt in der Gesellschaft die Orientierung am Profit.« Frau Matrechina spricht von Gasleitungen die zum Teil mitten durch Rentierreviere oder an deren Rändern gebaut werden. Die scheuen Tiere fliehen. Wege, auf denen die Rentiere immer zogen, ändern sich; große, ökologisch wichtige Flächen werden zerstört.

Mit ihrem Museum, so Swetlana Matrechina, wollte sie die samische Lebensweise »zum Anfassen« darbieten und Traditionen bewahren. Eine Rentierherde gehörte dazu. Doch eines Nachts wurden alle Tiere abgeschlachtet. Der Skandal ging kurz durch die Medien, die Täter wurden nie gefaßt. Swetlana hatte zwar einen starken Verdacht, schwieg aber und erklärte schließlich: »Das waren wildernde Hunde.«

* Aus: junge Welt, 3. Juli 2010


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