Die Schlacht aller Schlachten
Stalingrad 1943: die Wende im deutschen Welteroberungskrieg – von Wirkungen und Nachleben
Von Kurt Pätzold *
Mit dem Ende der 6. deutschen
Armee in den Trümmern der Stadt
an der Wolga verbindet sich für
noch lebende Zeitgenossen hierzulande
auch die Erinnerung an
einen Umschwung in der Kriegsstimmung
der Deutschen. Irgendwie
spürten sie Anfang Februar
1943, dass sich mehr ereignet
hatte als eine von der Wehrmacht
verlorene Schlacht. Veränderungen
in der Haltung vieler »Volksgenossen
« zum Kriege und in deren
Urteil über dessen denkbaren
Ausgang waren indessen erheblich
älter. Sie verbanden sich schon mit
dem Balkanfeldzug im Frühjahr
1941. Da tauchten bereits an
Stammtischen Fragen auf wie jene,
ob Deutschland denn, was es erobert
hätte, beherrschen könnte.
Dann aber kam der 22. Juni
1941. Erste Enttäuschung brachte
die Tatsache, dass der Feldzug
vom »Nordkap bis zum Schwarzen
Meer«, so anfangs besungen, nicht
als weiterer »Blitzkrieg« verlief.
Stattdessen: Winterschlacht vor
Moskau mit Nachrichten über so
genannte Frontbegradigungen.
Zwar folgten 1942 wieder Sondermeldungen
von eroberten Städten,
deren Namen zuvor die meisten
Deutschen nie gehört hatten. Doch
in Feldpostbriefen wurde geschrieben
und selbst aus Wehrmachtsberichten
war herauszulesen,
dies sei ein »anderer Krieg«
als alle vorausgegangenen.
Was sich dann in der Steppe
westwärts von Stalingrad seit Oktober
1942 tat und in den Mauern
der Stadt ereignete, wurde den
Deutschen in Wehrmachtsberichten
in Wendungen mitgeteilt, die
genauere Vorstellungen nicht zuließen.
Der Name der Stadt fiel in
einem der täglichen Berichte aus
dem »Führerhauptquartier« letztmalig
am 3. Februar 1943. Gelogen
wurde, die Divisionen der 6.
Armee seien »bereits im neuen
Entstehen begriffen«.
Das Ende der Schlacht fiel mit
dem 10. Jahrestag der »Machtergreifung
«. der Naziclique zusammen.
Solche Gelegenheit hatte sich
Hitler bisher nie für einen Propagandaauftritt
entgehen lassen. Den
übertrug er diesmal Hermann Göring,
der die »Volksgenossen« aufrichten
sollte. Dies wäre dem
Reichsmarschall gelungen, meldeten
Informanten des Sicherheitsdienstes
am 1. Februar. Lediglich
seine Erklärung vom »letzten Aufgebot
« der Sowjets habe »keine
ungeteilte Zustimmung« gefunden.
Drei Tage später wurde unumwunden
geschrieben, die Gespräche
in der Bevölkerung würden um
die Frage »nach der Bedeutung
von Stalingrad im gesamten
Kriegsverlauf« kreisen und die
»labileren Volksgenossen« seien
geneigt, »in Stalingrad den Anfang
vom Ende zu sehen«.
Bedeutende Ereignisse im Dasein
der Völker, Nationen und
Staaten führen ein Nachleben. Das
gilt umso mehr für solche von
weltgeschichtlichem Rang. Stalingrad
gehört dazu. Seit Generationen
haben Schriftsteller, Künstler,
Wissenschaftler mit ihren Mitteln
an das Geschehen erinnert, Autoren
von Bühnendramen und Spielfilmen fanden darin ihr Sujet. Schon 1943 erschien in Moskau auch in deutscher Sprache
eine Sammlung sowjetischer Berichte über die Schlacht. Im
gleichen Jahr wurden in Moskau
Dichtungen Johannes R. Bechers
unter dem Titel »Dank an Stalingrad
« gedruckt. Ebenfalls 1943
publizierte die KP Großbritanniens
in London das Bändchen »The siege
of Stalingrad. Told in 52 pages
of pictures and text«.
Noch vor den Kriegsberichterstattern,
die sich bei den Stalingrad-
Armeen befunden hatten,
war es der deutsche Schriftsteller
Theodor Plivier, Emigrant in der
Sowjetunion, der sich dem großen
Thema in einer Mischung von Roman
und Bericht zuwandte. 1945
erschien sein »Stalingrad«
deutschsprachig im mexikanischen
Verlag El libro libre. Ostdeutsche
Zeitungen druckten ihn
nach der Befreiung in Fortsetzungen;
geschlossen herausgegeben
wurde er 1945 im Aufbau-Verlag.
1946 kam Victor Nekrassows
»In den Schützengräben von Stalingrad
« auf den sowjetischen
Buchmarkt (1954 auf den ostdeutschen).
Im gleichen Jahr publizierte
Konstantin Simonow »Tage
und Nächte«, im Jahr darauf erschien
die deutsche Ausgabe in der
sowjetischen Besatzungszone.
1950 veröffentliche Wassili Grossmann
sein »Stalingrad« (später: »Die
gerechte Sache«). Jeder dieser Autoren
kannte die Schlacht aus
eigenem Erleben. Jedes dieser Bücher
war und blieb ein Denkmal für
die Soldaten der Roten Armee.
In eine andere Reihe gehört die
1965 erschienene Autobiografie
des 1. Adjutanten der 6. Armee,
General Wilhelm Adam, der sich
am Ende der Schlacht mit Friedrich
Paulus in sowjetische Kriegsgefangenschaft
begeben und dort
dem Nationalkomitee Freies
Deutschland angeschlossen hatte.
Generalsmemoiren waren bis dahin
auf dem Buchmarkt der DDR
nicht anzutreffen. Adams Bericht
»Der schwere Entschluss« wurde
so etwas wie ein Bestseller und bot
eine überzeugende Widerrede gegen
die Flut rechtfertigender Erinnerungen,
die Generäle in der
Bundesrepublik veröffentlichten.
Dort wurde in ganz anderen Tönen
erinnert. Erich von Manstein, der
einstige Oberbefehlshaber der
Heeresgruppe, zu der die 6. Armee
gehört hatte, schrieb beispielsweise,
es »bleibt doch diese Tapferkeit,
diese Treue, diese Pflichterfüllung
ein Hohelied deutschen
Soldatentums«. Und 1962 hieß es
in den Bundeswehr-»Informationen
für die Truppe«, empfohlen
von Generalsinspekteur Friedrich
Foertsch, auch ein einstiger
Wehrmachtsgeneral: »Den fast sicheren
Untergang vor Augen, die
Sinnlosigkeit des Auftrags wenigstens
ahnend, taten Soldaten und
Offiziere ihre Pflicht bis an die
Grenze der Leistungs- und Leidensfähigkeit
– oft darüber hinaus.
Daran sollten gerade wir Soldaten
denken.« Stalingrad wurde verklärend
ins Traditionsbild der
Bundeswehr eingepasst.
Denkmäler sind den sowjetischen
Stalingrad-Kämpfern auch
in Filmen gesetzt worden. So in
dem 1967 uraufgeführten »Man
wird nicht als Soldat geboren«. Der
gleichnamige Roman von Konstantin
Simonow war im Jahr zuvor
erschienen, die deutschsprachige
Filmfassung lag in der DDR 1970
vor. Andere Produktionen kamen
in die Kinos der Bundesrepublik:
1959 »Hunde, wollt ihr ewig leben
«, mit Preisen gehrt, jedoch von
der Kritik begleitet, das Geschehen
wäre gesellschaftlich und historisch
nicht recht eingeordnet. Derlei
Angebote gehören nicht der
Vergangenheit an. Sie erreichten
2001 mit dem Film »Duell. Enemy
on the Gates« einen skandalösen
Tiefpunkt. Dessen Autoren stellten
das Schlachtgeschehen im Westernstil
als Zweikampf zweier
Scharfschützen dar. Schon bei der
Premiere in Berlin gab es Buh-Rufe.
Dazu passt als Beispiel aus den
Printmedien »BILD«; die Zeitung
verfälschte das Ereignis 2012 als
einen Kampf des braunen gegen
den roten Diktator. Dass sich zwischen
Don und Wolga die Wende
im deutschen »Welteroberungskrieg
« (Thomas Mann) vollzog, ein
Faktum, über das Historiker nicht
mehr streiten, kommt manchen
Journalisten hierzulande noch immer
nicht aus dem Computer.
Bewahrt wird das Gedenken an
Sieger und Opfer der Schlacht vielerorts.
Gewaltig ragt auf dem Mamajew-
Hügel an der Wolga das
Denkmal der zum Befreiungskampf
rufenden »Mutter Heimat«
gen Himmel. In Paris gibt es seit
1946 einen Place de la Bataille-de-
Stalingrad und eine U-Bahn-Station,
die nach der Stadt benannt ist.
Im westdeutschen Limburg hingegen
errichtete der (inzwischen
aufgelöste) Bund ehemaliger Stalingradkämpfer
e. V. 1964 ein
»Ehrenmal«. Im Kreis dieser alten
Kameraden gab es nicht die Spur
von Unrechtsbewusstsein, in ein
friedliches Land eingefallen und
dessen Bewohner in namenloses
Elend gestürzt zu haben.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 02. Februar 2013
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