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Schulzelte für die Arktisnomaden

Um ihre Kultur vor dem Aussterben zu retten, sollen die Ewenken lernen, sich auf ihre Identität zu besinnen

Irina Wolkowa, Moskau *

Der Tschum - das Nomadenzelt der Bewohner der russischen Arktis - muss in maximal vierzig Minuten am neuen Weideplatz aufgebaut sein. Kaum, dass die Bretter für den Boden verlegt sind, wird darauf der Kanonenofen aufgestellt und befeuert, noch bevor mehrere Lagen von Rentierfellen an den Tragestangen befestigt werden. Zumindest im Winter, wenn der Schneesturm heult und die Temperaturen auf unter minus vierzig Grad sinken.

Der Tschum dient den meisten Nomaden des Hohen Nordens seit eh und je als Behausung und unterscheidet sich bei den einzelnen Völkern nur in Nuancen. Neu ist, dass jetzt im Tschum auch Unterricht abgehalten wird. Allerdings nur bei den Ewenken in der Region Krasnojarsk und vorerst auch dort nur in einer einzigen Rentierzüchterbrigade. Es ist ein Pilotprojekt, das den oft nur noch wenige Hundert Seelen zählenden Völkern, die in der Tundra und am Nordrand der Taiga leben, helfen soll, ihre vom Aussterben bedrohten Sprachen und Kulturen zu retten. Vor allem aber soll es sie dazu befähigen, zur traditionellen Lebensweise zurückzukehren und sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen.

Derzeit lernen die Kinder in den zu Sowjetzeiten eingeführten Internatsschulen, sagt die wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für ethnokulturelle Entwicklung der kleinen Völker des Hohen Nordens, Sinaida Pikunowa, die selbst Ewenkin ist und eine der wenigen, die sich mit einem Doktortitel schmücken. Ihre Eltern sähen die Kinder nur in den Sommerferien. Allein dadurch seien die traditionell engen Familienbande - Basis für kollektive Wirtschaftsführung der Tundranomaden - zerstört. Vor allem: In den Internaten mühsam »zivilisiert«, lernten die Kinder der Nomaden dort weder mit den Rentierherden umzugehen noch verstünden sie sich auf Fischfang oder Pelztierjagd.

Die meisten seien daher nach der Schule in den Siedlungen geblieben und müssten sich dort mit gering qualifizierten Gelegenheitsjobs durchschlagen. Nur wenige hätten es länger bei der schweren Arbeit in Bergwerken ausgehalten. Viele seien depressiv und trunksüchtig geworden. Weil den Menschen im Hohen Norden Russlands wie anderen Asiaten auch das Enzym fehlt, das Alkohol im Körper abbaut, hätten sich Missgeburten gehäuft.

Zwar gehören die Ewenken, die es allein in Sibirien auf rund 35 000 Seelen bringen - fast noch mal so viel leben in der Mongolei und in Nordchina - zu den Größten der Kleinen. Doch die UNESCO setzte Ewenkisch, das erst nach 1930 eine auf dem kyrillischen Alphabet basierende Schrift bekam, und andere Idioms der Völker des Hohen Nordens, bereits auf die Rote Liste. »Damit«, sagt Frau Pikunowa, »stirbt auch unsere einmalige Kultur. Es ist fünf vor zwölf«. Einziger Ausweg aus dem Dilemma sind ihrer Meinung nach die Schul-Tschums. Sie pendeln zusammen mit den Herden zwischen Sommer- und Winterweide. Berufspädagogen mit Ewenkisch als Muttersprache unterrichten dort die ersten vier Klassen. Auf dem Lehrplan stehen auch Märchen und Gedichte in ewenkisch. Die praktischen Fähigkeiten für das Nomadenleben vermitteln Eltern und Verwandte der Kinder. Nur wer sich früh an das harte Leben gewöhnt, glaubt Pikunowa, halte durch.

Fischen und Jagen gehören zu den leichteren Beschäftigungen. Die Zucht von Rentieren dagegen ist die ultimative Herausforderung. Nur oberflächlich domestiziert geben die scheuen Tiere die Richtung und die Zeit der Wanderung vor. Die Menschen können ihnen nur folgen und darauf achten, dass die meist mehrere Tausend Tiere zählenden Herden nicht zu weit auseinanderlaufen.

Ab der fünften Klasse müssen die Kinder dennoch in die Internatsschule. Die meisten, glaubt Frau Pikunowa, kommen trotzdem in die Tundra zurück. Denen, die in den Siedlungen bleiben, würde die Tschum-Schule jedoch helfen, sich im Leben zwischen den Kulturen besser zurechtzufinden. »Wenn ihnen früh die Liebe zu eigener Sprache und Kultur eingepflanzt wird, werden sie diese auch als Arzt, Schlosser oder Ingenieur bewahren.«

* Aus: neues deutschland, 4. Januar 2012


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