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Demokratie im Urnengrab

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Während Putins Gegner für Sonnabend (10. März) neue Proteste ankündigen, nehmen die Vorwürfe gegen den Ablauf der Präsidentenwahl zu.

Ja, es habe Manipulationen gegeben. Jedem einzelnen Vorwurf werde jedoch nachgegangen. Die Gesellschaft müsse wissen, dass alles unter Kontrolle sei. Als Wladimir Putin, der bei der russischen Präsidentenwahl am Sonntag (4. März) laut vorläufigem Ergebnis rund 64 Prozent aller Stimmen einsammelte, die großen Worte gelassen aussprach, wusste er offenbar noch nicht, dass ausgerechnet die Wahlleitung in seiner Heimatstadt St. Petersburg in akutem Erklärungsnotstand ist.

Gleich nach dem Votum hatten kritische Beobachter und die Zivilgesellschaft sich auf bloße Pauschalverurteilungen beschränkt. Tags darauf legten sie konkrete Fakten vor. Und die lassen auf flächendeckende Manipulation des Wählerwillens schließen.

Zwar fuhr Putin mit nur 58 Prozent in St. Petersburg ohnehin eines der landesweit schlechtesten Ergebnisse ein. Glaubt man der Darstellung der auf Wahlmonitoring spezialisierten nichtstaatlichen Organisation Golos, waren es noch weniger. So sammelte Putin im Stimmlokal 109 der Newa-Stadt laut offiziellem Ergebnis 554 Stimmen ein. So jedenfalls steht es in der beglaubigten Kopie des Zählprotokolls, die Beobachter der oppositionellen Jabloko-Partei bekamen. Bei Eingabe der Ergebnisse in das elektronische System der Zentralen Wahlkommission indes waren es bereits 966 Stimmen. Ein Zuwachs von 40 auf rund 70 Prozent. Erreicht wurde er durch Stimmenklau bei den anderen Kandidaten. Vor allem bei KP-Chef Gennadi Sjuganow. Dieser verlor auch im Wahllokal Nr. 145 bei der Eingabe in das zentrale System 217 Stimmen, sein Mitbewerber Michail Prochorow 216. Das macht zusammen 433 Stimmen, die Putin zugeschlagen wurden. Dieser kam dadurch von ursprünglich 64 Prozent auf 84. In anderen Petersburger Wahllokalen wurde laut Golos nach der Abstimmung der Löwenanteil nicht verwendeter Stimmzettel - landesweit schwänzten fast 35 Prozent die Wahlen - mit dem Kreuz in der Spalte »Putin« ausgefüllt und mitgezählt. Allein im Wahllokal Nr. 781 sollen es 581 gewesen sein. Putin konnte dadurch in diesem Stimmbezirk sein Ergebnis von 36 auf 70 Prozent »steigern«.

Offenbar kein Einzelfall. Überall dort, wo Putin die höchsten Zustimmungsraten einfuhr, habe es auch die meisten Manipulationen gegeben, rügte Oxana Dmitrijewa, die Frontfrau der Mitte-Links-Partei Gerechtes Russland.

Umwidmung der Stimmen für den Kandidaten des Kremls, so Maxim Resnik, Chef der Petersburger Organisation von Jabloko , sei zwar »ein alter Hut«. Seine Partei habe bei früheren Wahlen stets dagegen geklagt, trotz eindeutiger Beweise jedoch nicht einen Prozess gewonnen. Jetzt seien die Erfolgschancen noch geringer. Am Sonntag (4. März) hätten Beobachter in den Wahllokalen noch weniger beglaubigte Zählprotokolle als bisher bekommen. Ohne Protokolle aber können Gerichte Klagen einfach abweisen.

Sogar Altpräsident Michail Gorbatschow, dessen Kritik an Putin sonst eher maßvoll ausfällt, zeigte sich erschüttert.

* Aus: neues deutschland, 8. März 2012


Fünf Mythen über Putin

Von Dmitri Kossyrew, RIA Novosti **

Wladimir Putins Sieg bei der russischen Präsidentenwahl hat weltweit kaum für Aufregung gesorgt: Zwar sorgte diese Nachricht für Schlagzeilen, aber sie war alles andere als eine Sensation.

Wenn es im Westen in diesem Zusammenhang überhaupt eine Debatte gab, dann galt sie Russlands künftiger Außenpolitik. Europa und Amerika wollen wissen, ob sie es mit einem starken oder schwachen Russland zu tun haben.

Einer Seite zuhören

Zunächst sollte man etwas Offensichtliches einräumen: Außer Russland kommen auch aus anderen Teilen der Erde Nachrichten. Für Europa sind beispielsweise die Ereignisse in Syrien die Top-Nachrichten. In Japan beschäftigt man sich derzeit mit den Personen, die die Wahrheit über den Atomunfall in Fukushima nicht sagen wollten. In Indien fand am vergangenen Sonntag eine Parlamentswahl statt, der ein erbitterter Wahlkampf vorausgegangen war.

Den USA steht morgen der Super Tuesday bevor, an dem endgültig klar werden soll, ob Mitt Romney für die Republikaner an der Präsidentenwahl im November teilnehmen wird. Präsident Barack Obama trifft auf den israelischen Premier Benjamin Netanjahu, um ihm von einseitigen Militärschlägen gegen den Iran abzuraten.

Damit ist klar, dass die Welt auch ohne Russland genug Sorgen hat.

Was Russland angeht, so haben alle Meldungen der westlichen Medien aus Moskau eine Besonderheit: Sie enthalten eine Bewertung der Situation, die dann per Twitter oder andersweitig verbreitet wird.

So schrieb die britische Zeitung „Guardian“: „Wladimir Putin versucht, nach vier Jahren als Premier vor dem Hintergrund von Meldungen über Verstöße gegen die Wahlregeln und über Fälschungen der Wahlergebnisse in den Kreml zurückzukehren.“ Andere westliche Medien bewerten die Abstimmung in Russland in demselben Stil.

Nicht dass diese Meldungen unbegründet wären: Unabhängige Experten und Oppositionsaktivisten haben tatsächlich zahlreiche Beweise für Wahlmanipulationen. Im Westen wird die Position der Zentralen Wahlkommission (russ. Abk.: ZIK) jedoch verschwiegen, die von „im Voraus vorbereiteten Beschwerden über die Verletzung der Wahlnormen“ spricht, wobei diese Behauptungen „hauptsächlich unbewiesen geblieben sind.“ Schließlich gibt es noch zahlreiche Fotos von Anti-Putin-Demos sowie Personen, die auf Twitter zitiert werden.

So eigenartig folgt man heutzutage dem alten Journalistenprinzip „Höre beiden Seiten zu“. Fazit: Die Medien prägen die öffentliche Meinung, die Regierenden erklären dann, sie müssen diese Meinung berücksichtigen. Und haben dann Probleme.

So geschieht es in der Syrien-Frage: „Wir wissen nicht, wer die Waffen bekommt, wenn wir sie an die syrische Opposition liefern“, sagte US-Außenministerin Hillary Clinton im Kongress. Auch im August 2008 war für den Westen nicht ganz klar, wer wen in der südossetischen Hauptstadt Zchinwali in Wirklichkeit überfallen hatte… Das sind zwar Probleme des Westens, aber sie können für Russland schlimme Folgen haben.

Immer wieder die Russen

Nach den Protestdemonstrationen gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl im Dezember 2011 hatte ich bereits den Umstand hervorgehoben, dass die Berichterstatter über diese Ereignisse lauter Russen waren. Jetzt ist die Situation etwas anders: Die Berichterstatter sind inzwischen überwiegend Ausländer, aber viele Kommentare im Vorfeld der Abstimmung haben Russen wie der frühere Premier Michail Kasjanow in der „Japan Times“ oder der ehemalige Yukos-Chef Michail Chodorkowski in der "New York Times" geschrieben.

Die Erde hat fast 200 Länder. Da gibt es aber ein großes Problem: Die meisten von ihnen denken merkwürdigerweise, dass vollwertiger Journalismus zu teuer ist, so dass sie sich diesen „Spaß“ nicht leisten können. Deshalb werden in der Welt im Grunde immer dieselben Meldungen verbreitet, deren Sinn in der quasi-rechtswidrigen Machtübernahme durch Wladimir Putin besteht.

Es gibt aber auch Ausnahmen. In der indischen Zeitung „Daily Pioneer“ gehen die Meinungen der Kommmentatoren über die Wahlen in Russland auseinander, so dass ihre Leser die Möglichkeit haben, Vergleiche zu ziehen.

Ganz anders ist die Situation in Großbritannien, wo die russische Diaspora inzwischen eine halbe Million Menschen zählt und immer größer wird. Das bestimmt auch den Ton der Aussagen über die Ereignisse in Russland. So schreibt beispielsweise der Unternehmer Jewgeni Tschitschwarkin, der in Russland verfolgt wird, im „Guardian“, dass immer mehr „interessante“ Menschen nach „Moskau an der Themse“ kommen. Die Publizistin Masha Gessen erzählt ihrerseits über ihre aktuelle Reise durch die USA, wo sie ihr neues Buch präsentiert und den Amerikanern beweisen will, dass die sozialen Proteste in Russland weit über die Mittelklasse hinaus gehen.

Dieser „russische Triumph an der Themse“ erinnert an die Zeit nach der iranischen Revolution 1979: Die Amerikaner reagieren nicht immer adäquat auf alles, was mit dem Iran verbunden ist, nicht weil sie immer den Israelis zustimmen. Aber damals waren viele Revolutionsverlierer um Schah Mohammad Reza Pahlavi nach Amerika ausgewandert. Jetzt bereitet die iranische Diaspora Washington Kopfschmerzen, wenn es die Spannungen mit Teheran abbauen will.

„Wir werden es mit ihm zu tun haben“

Aber zurück zum Anfang des Artikels. „Egal wie, aber Russland wacht morgen mit dem neuen bzw. alten Präsidenten Putin an der Spitze auf; die Moskauer gehen zu den Kundgebungen für bzw. gegen Putin… Wie wird aber Putin selbst mit seinen Vollmachten umgehen? Sehen wir etwa einen zum Pluralismus neigenden Putin?“

Das sieht schon wie ein ernstes Gespräch für seriöse Leser auf den Seiten des US-amerikanischen Fachmagazins "Foreign Affairs" aus. Andrew Weiss, früher Mitarbeiter der Administration Bill Clintons und heute Experte der RAND Corporation, will in der "Washington Post" die „fünf Mythen über Putin“ zerstreuen.

Mythos Nummer eins: Putin will lebenslang Präsident bleiben. Mythos Nummer zwei: Putin wird Russlands Naturressourcen als Waffen einsetzen. Mythos Nummer drei: Putin will die Sowjetunion wiederherstellen. Mythos Nummer vier: Putins Sieg bei der Präsidentenwahl ist ein Schlag für die demokratischen Kräfte. Mythos Nummer fünf: Putins anti-amerikanische Einstellung wird die russisch-amerikanischen Beziehungen völlig blockieren. Es ist nun einmal so, dass die Amerikaner es jetzt mit ihm zu tun haben werden, weil er gewählt worden ist.

Das Aufräumen mit diesen „Mythen“ ist dem Experten durchaus gelungen. Weiss’ Artikel stimmt grundsätzlich mit einem anderen überein, der in derselben Ausgabe von "Foreign Affairs" veröffentlicht wurde und dessen Autor behauptete, dass Putin trotz seines scharfen Tons im Umgang mit Amerika immer an einem Einvernehmen mit den USA interessiert gewesen sei. Der Autor heißt Dmitri Trenin, Leiter des Moskauer Carnegie Centers, der mit der russischen Regierung nichts zu tun hat. Schon wieder also ein Russe im Ausland…

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 5. März 2012;


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