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Dynamische Doppelspitze oder ein Pakt der Oligarchen?

Russland hat einen neuen Präsidenten gewählt - Berichte, Analysen, Pressespiegel



Vor der Wahl:

Putins Vermächtnis

Präsidentenwahlen in Rußland

Von Werner Pirker


Bei den am Sonntag stattfindenden russischen Präsidentenwahlen ist Dimitri Medwedjew, dem vom Kreml ins Rennen geschickten Kandidaten, der Sieg gewiß. Auch sein kommunistischer Herausforderer Gennadi Sjuganow wird daran nichts ändern können. Das war nicht immer so. 1996 konnte sich Boris Jelzin gegen Sjuganow nur knapp durchsetzen. Wenn heute von Wettbewerbsverzerrung die Rede ist, so traf das damals nicht weniger zu. Jelzins Wiederwahl ging ein »Pakt der Oligarchen« voraus, in dem sich die reichsten Männer verpflichteten, unter Einsatz ihres Vermögens einen Umsturz der Vermögensvermögensverhältnisse zu verhindern. Was damals im Westen Genugtuung auslöste, die Konzentration aller Wahlkampfmittel auf den Kandidaten der Machtpartei, wird heute als Zerfallserscheinung der russischen Demokratie beklagt.

Es stellt sich aber auch die Frage, was aus Rußland geworden wäre, hätte damals Sjuganow gesiegt. Mit Sicherheit kann davon ausgegangen werden, daß der Sozialismus nicht wieder eingeführt worden wäre. Einen Präsidenten-Ukas, der solches vermöchte, gibt es nicht. Zwar wäre, wie das chinesische Beispiel zeigt, der Gedanke an einen Aufbau des Kapitalismus unter der führenden Rolle der Kommunistischen Partei gar nicht so abwegig gewesen. Doch die KP Chinas übt ihr politisches Monopol immer noch aus, während in Rußland die kommunistische Monopolstellung unwiederbringlich dahin ist. Eine Überwindung des selbstzerstörerischen Jelzin-Regimes konnte daher nur aus dem System selbst heraus erfolgen. Der Putinismus ist der Thermidor der russischen Konterrevolution.

Eine Fortsetzung des liberalen Entwicklungsmodells hätte geradewegs zum staatlichen Untergang geführt. In einem zerfallenden Rußland mögen nicht wenige Geostrategen ein gigantisches neokoloniales Aufmarschgebiet gesehen haben. In der Realität aber hätte der Niedergang des Großstaates eine Zivilisationskrise noch nicht dagewesenen Ausmaßes ausgelöst. Putins Konzept der »souveränen Demokratie« ist die Antwort auf die westliche Balkanisierungsstrategie. Zwar mag Rußlands souveräne Demokratie mehr souverän als demokratisch sein. Doch ohne Souveränität kann es auch keine Demokratie geben.

Es wäre eher unwahrscheinlich, würde der neue Präsident die ihm von der Verfassung eingeräumten immensen Vorteile gegenüber dem von seinem Vorgänger beanspruchten Amt des Premierministers nicht zu nutzen versuchen. Die im Lande herrschenden Widersprüche, verdichtet in der sozialen Polarisierung, werden neue Machtkämpfe auf die Tagesordnung setzen. Der Liberalismus der Jelzin-Ära ist zwar fürs erste gescheitert, aber er ist noch nicht besiegt. Die Oligarchie, die Putins »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) nur als vorübergehenden Rückzug vom Neoliberalismus zu akzeptieren bereit war, sinnt auf Revanche. Was indes nicht mehr so ohne weiteres rückgängig gemacht werden kann, ist Rußlands neue nationale Sicherheitsstrategie.

Aus: junge Welt, 1. März 2008


Referendum über Russlands künftige Doppelspitze

Sorgen bereitet den Planern allenfalls die Wahlbeteiligung

Von Detlef D. Pries, Moskau


Schon die Dumawahlen vor drei Monaten waren zum Referendum über den Kurs Wladimir Putins erklärt worden. Jetzt aber stehen die »Hauptwahlen des Landes« bevor. Denn nicht in der Duma, im Kreml wird russische Politik gemacht. Die Wahl indes gleicht wieder einer Volksabstimmung, wieder über einen Plan Putins. 17.30 Uhr. Während sich der Feierabendverkehr durch Moskauer Straßen quält, debattieren auf einem der staatlichen Fernsehkanäle drei Herren über ihre Vorstellungen zum Problem der Wohnungswirtschaft, das vielen Russen auf den Nägeln brennt. Wladimir Shirinowski verspricht heftig gestikulierend, alle aufgelaufenen Schulden für Gas, Energie und kommunale Dienste zu streichen - wenn er Präsident wird. Gennadi Sjuganow, mit monotoner Bassstimme, garantiert jeder Familie ein Dach über den Kopf, für das sie nicht mehr als 10 Prozent ihres Einkommens entrichten müsse. Der lockenmähnige Andrej Bogdanow verspricht vor allem eins: Er werde die heillos zerstrittenen Demokraten Russlands vereinigen.

Eine halbe Stunde lang werben die Kandidaten um die Stimmen der Wähler. Shirinowski wettert schließlich noch dagegen, dass der ganze Staatsapparat für den vierten, abwesenden Kandidaten arbeite. Und Sjuganow schweige dazu, weil ihm der Kreml bereits den zweiten Platz versprochen habe. Tatsächlich sind eine Woche vor der Wahl die letzten Umfragen veröffentlicht worden. Das Institut WZIOM ermittelte, dass knapp 73 Prozent für Dmitri Medwedjew stimmen wollen, 15 für Sjuganow, 11 Prozent für Shirinowski und nur ein Prozent für Bogdanow.

Medwedjew hat es also gar nicht nötig, an solchen Fernsehdebatten teilzunehmen. Seine Amtsgeschäfte als Erster Vizepremier ließen ihm dafür keine Zeit, hatte er erklärt. Und Medwedjews Geschäfte sind derart wichtig, dass ihnen die staatlichen Fernsehkanäle in ihren Nachrichtensendungen zuletzt mehr Zeit eingeräumt haben als den Auftritten des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin.

Putin hätten die meisten Russen am liebsten auch ein drittes Mal gewählt. Putin, der dem Chaos der Jelzin-Jahre ein Ende bereitet hat, in dessen Amtszeit sich die Lebensverhältnisse vieler in bescheidenem, mancher in beträchtlichem Maße verbessert haben. Der Russland auf der internationalen Bühne respektiert wissen will. Doch entgegen aller Spekulationen einheimischer und ausländischer Kreml-Astrologen ließ Putin die Verfassung nicht zu seinen Gunsten ändern. Kurz nach den Dumawahlen im Dezember ernannte er Dmitri Medwedjew zu seinem Wunschnachfolger. Der revanchierte sich und verkündete, dass er den Kurs Putins fortsetzen und den bisherigen Präsidenten mit der Leitung der Regierung beauftragen werde. Russland wird künftig also eine Doppelspitze haben. Denn dass dieser »Plan Putins« gebilligt wird, bezweifelt niemand.

Was nicht heißt, dass die Spekulationen ein Ende hätten. Wessen Porträt wird künftig in den Amtszimmern der Gouverneure hängen? Waren Zeiten der Doppelherrschaft in Russland nicht immer verhängnisvoll? Ist Medwedjew nur eine Marionette Putins, ein »gelenkter Präsident«? Oder begleitet und stützt der Ältere den Unerfahrenen nur so lange, bis der auf eigenen Füßen steht? Vorerst versichern beide: Russland kann nur durch eine starke Präsidialmacht verwaltet werden, das einzige Machtzentrum bleibt der Kreml. Das Tandem Präsident-Premier werde in »völligem gegenseitigen Vertrauen« partnerschaftlich zusammenarbeiten.

Bisher allerdings waren die Regierungschefs oft genug Prügelknaben, wenn die Weisungen aus dem Kreml nicht die gewünschte Wirkung zeigten. Und an Mängeln und Problemen ist Russland nach wie vor reich. Wohl hat sich das Bruttosozialprodukt in acht Jahren unter Putin verfünffacht. Russland ist auf Platz 12 der Wirtschaftsnationen vorgerückt. Doch ist das Wachstum vor allem dem Anstieg der Öl- und Gaspreise zu danken. Die Energieträger machen fast zwei Drittel des russischen Exports aus. An weltmarktfähigen Industriegütern mangelt es empfindlich.

Und der Reichtum ist höchst ungleichmäßig verteilt. 27 000 Dollarmillionäre, wusste die »Iswestija«, leben allein in Moskau. Die Reichen drohten die Habenichtse aus der Stadt zu verdrängen. Eine ehrliche Einkommensverteilung im Interesse der »einfachen Leute« gehört denn auch - ebenso wie die Stärkung von Recht und Ordnung - zu den Erwartungen, die in Umfragen am häufigsten genannt werden. Nicht von ungefähr wurden Staatsangestellten und Militärangehörigen gerade die Gehälter erhöht. Auch die Rentner erhielten einen Aufschlag von 8,5 Prozent. Die Inflationsrate kletterte 2007 allerdings auf 12 Prozent.

Die größten Sorgen scheint Russlands Planern derzeit allerdings die Wahlbeteiligung zu bereiten. Wenn das Ergebnis ohnehin feststeht, wozu noch wählen, fragen sich viele. In manchen Gebieten wird das Wahlvolk mit Lotterien, Preisnachlässen im Handel und anderen Geschenken gelockt. Anders im unruhigen Inguschetien. Dort hatten sich an den Dumawahlen angeblich 99 Prozent beteiligt, was hinterher heftig bestritten wurde. Wahlleiter Wladimir Tschurow will die Republik diesmal besonders beobachten lassen - offenbar sorgt auch er sich um die Glaubwürdigkeit.

Aus: Neues Deutschland, 1. März 2008



Nach der Wahl:

Neuschnee und ein mürrischer Präsident

Hohe Beteiligung und ein klarer Favorit bei Wahlen in Russland - nur das Wetter spielte nicht mit

Von Irina Wolkowa, Moskau *


Rund 109 Millionen Stimmberechtigte waren gestern an die Urnen gerufen, um Russlands neuen Präsidenten zu wählen. Es galt als sicher, dass Dmitri Medwedjew, der Kandidat der Kremlpartei »Einiges Russland«, die bei den Parlamentswahlen im Dezember die Zweidrittelmehrheit in der Duma souverän verteidigen konnte, bereits im ersten Wahlgang das Rennen macht.

Bei den letzten Umfragen vor der Abstimmung kam Medwedjew auf Zustimmungsraten von über 70 Prozent. Das ist in etwa so viel, wie Wladimir Putin erhielt, als er im März 2004 bestätigt wurde. Bei den gestrigen Wahlen durfte Putin nicht mehr kandidieren. Russlands Verfassung begrenzt die Amtszeit des Präsidenten auf zwei aufeinander folgende Legislaturperioden.

Das vorläufige amtliche Ergebnis wird für den heutigen Mittag erwartet. Die ersten Hochrechnungen, die gleich nach der Schließung der letzten Wahllokale im Raum Kaliningrad - Russlands westlichster Region - einliefen, gaben lediglich die Ergebnisse im Fernen Osten und in Ostsibirien wieder, wo die Zeit jener in Moskau um mehrere Stunden voraus ist. Sie bestätigten jedoch, dass Medwedjew mit großem Abstand vor seinen drei Mitbewerbern führt: KP-Chef Gennadi Sjuganow, der »Liberaldemokrat« Wladimir Shirinowski und Andrej Bogdanow, der für die nahezu unbekannte Demokratische Partei kandidiert.

Wie Wladimir Tschurow, der Chef der Zentralen Wahlkommission, am Sonntag (2. März) mitteilte, lag die Beteiligung schon gegen Mittag mit 16 Prozent landesweit erheblich höher als bei den letzten Präsidentenwahlen und am vergangenen 2. Dezember, als die 450 Duma-Mandate neu vergeben wurden. Mehrere Dörfer auf der Eismeerhalbinsel Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands schlossen sogar vorfristig, weil alle Stimmberechtigten schon gegen 14 Uhr Ortszeit ihrer »Bürgerpflicht« nachgekommen waren.

Sehr hohe Wahlbeteiligungen meldeten auch die nationalen Teilrepubliken im Nordkaukasus. Ramzan Kadyrow, der Präsident Tschetscheniens, sprach Medien gegenüber bereits von einer »mindestens 95-prozentigen Wahlbeteiligung«, noch bevor in der Republik der erste Stimmzettel in der Urne landete. Sehr viel geringer war dagegen die Wahlbeteiligung in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg. Vermutlich auch wegen des Wetters. Der über Nacht reichlich gefallene Neuschnee ging am Morgen in Regen über. Zwar waren über 7000 Räumfahrzeuge auf den Fahrbahnen im Einsatz, die Gehsteige dagegen waren spiegelglatt.

In St. Petersburg hatten daher gegen Mittag erst drei Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, in Moskau fünf. Darunter auch Dmitri Medwedjew. Er traf im Wahllokal Nr. 118 bereits gegen 10 Uhr Ortszeit ein und gehörte damit dort zu den ersten Wählern. Begleitet wurde er von Ehefrau Swetlana, die sich bei ihm eingehängt hatte und nach allen Seiten freundlich lächelte. Eine Geste, die die Nation an den ersten Damen des Landes zu bewundern bisher wenig Gelegenheit hatte. Neu war auch, dass die künftige Präsidentengattin statt im Pelz in einem einfachen dunklen Kapuzenmantel erschien.

Auf die Frage eines Korrespondenten der halbamtlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti nach seiner Stimmung, sagte Medwedjew, sie sei gut, der Frühling bereits im Anzug. Wladimir Putin, der zwei Stunden später in einem zum Wahllokal umfunktionierten Institut der Akademie der Wissenschaften mit Ehefrau Ljudmila zur Urne schritt, ließ sich dagegen nicht einmal zu Belanglosigkeiten irgendwelche Äußerungen entlocken. Er winkte lediglich einem Ehepaar mit Kind zu und stieg dann in die wartende Limousine. Auf den Bildern des Staatssenders RTR wirkte er ausgesprochen missmutig und müde.

Putin bleibt bis zur feierlichen Amtseinführung des neuen Präsidenten am 7. Mai amtierender Präsident. Der gegenwärtige Premier, Viktor Subkow, und dessen Regierung müssen pro forma erst unmittelbar vor der Vereidigung von Medwedjew zurücktreten, der dann ein neues Kabinett bildet. Der gegenwärtige Kreml-Chef ist jedoch für überraschende Personalentscheidungen bekannt und könnte gleich nach Verkündung des amtlichen Endergebnisses, das für Freitag erwartet wird, eine größere Kabinettsumbildung vornehmen.

* Aus: Neues Deutschland, 3. März 2008


Doppelführung

Medwedew zum Präsidenten gewählt Von Werner Pirker **

Die russische Bevölkerung hat die vom scheidenden Präsidenten Wladimir Putin getroffene Wahl seines Nachfolgers bestätigt. Ob der Stimmenanteil von mehr als 70 Prozent für den Kandidaten der Machtpartei dem tatsächlichen Wählerwillen entspricht, wird ein von der Macht gehütetes Geheimnis bleiben. Der für die Kommunisten zum dritten Mal ins Rennen gegangene Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow sprach von Wahlbetrug »in einer neuen Dimension«. Die ihm offiziell zuerkannten 17 Prozent stellen unter Bedingungen einer von der »Machtvertikale« völlig beherrschten Wahlkampagne durchaus einen Achtungserfolg dar. Es ist den Kommunisten gelungen, sich als Partei der sozialen Option wieder nachhaltig in Erinnerung zu rufen.

Die russischen Präsidentenwahlen 2008 waren weitgehend auf ihren symbolisch-deklamatorischen Charakter beschränkt. Sie gestalteten sich als Referendum über die Fortsetzung des Putin-Kurses. Stabilisierung und Kontinuität sowie die Rückgewinnung einer respektablen Stellung Rußlands in der Welt sind nach dem Jelzin-Jahrzehnt der Wirren zu Eckpunkten des russischen Wertesystems geworden, denen selbst der soziale Gerechtigkeitsgedanke untergeordnet ist. Weder die liberale noch die kommunistische Opposition hat gegenwärtig eine realpolitische Chance, eine Änderung der Diskursrichtung herbeizuführen. Die Liberalen nicht, weil sie unter Jelzin selbst die Grundlagen des autoritären Staatsaufbaus schufen, und die Kommunisten nicht, weil sie unter Gorbatschow den Zerfall des von ihnen geschaffenen Staates selbst ausgelöst haben.

Der Kampf um Rußlands künftige Entwicklungsrichtung wird nicht zwischen dem Putin-Lager und der Opposition entschieden, sondern innerhalb des herrschenden Blocks. Da mag Dimitri Medwedew noch so viele Schwüre, Putins Weg niemals zu verlassen, ablegen. Das personelle Machtgefüge – Medwedew als Präsident und Putin als dessen Premier – bewirkt eine anormale Situation. Die russische Verfassung räumt dem Präsidenten fast absolutistische Machtbefugnisse ein. Auf Dauer wird der Neue nicht so tun können und auch nicht wollen, als ob er bloß zum Schein Präsident wäre. Und Putin wird als Regierungschef nicht so tun können und auch nicht wollen, als wäre er nur ein Vollzugsbeamter des Kreml. Somit ist an der Spitze der russischen Machtpyramide die Situation einer Doppelführung entstanden. Das gab es in Rußland nur zu Zeiten, als Minderjährige auf dem Zarenthron saßen. Dimitri Anatoljewitsch Medwedew ist aber schon 42 Jahre alt.

Der programmierte Machtkampf ist weniger subjektiver als objektiver Natur. Rußland hat einen besonders zügellosen Kapitalismus hervorgebracht und gleichzeitig ein dem Nihilismus des Kapitals entgegenwirkendes Ordnungssystem. Der Westen reagiert gewohnt intrigant: Medwedew sieht sich als Putins Doppelgänger gedemütigt und gleichzeitig als liberaler Hoffnungsträger hofiert.

** Aus: junge Welt, 4. März 2008


Medwedjew will Präsident aller Russen sein

KP-Chef Sjuganow spricht von Betrug und wird die Wahl anfechten

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Die Politologen und Medien lagen fast richtig, als sie Dmitri Medwedjew, dem Favoriten der russischen Präsidentenwahlen, vorab 70 Prozent aller Stimmen prophezeiten.

Laut vorläufigem Endergebnis, das Wladimir Tschurow, der Chef der Zentralen Wahlkommission, gestern Mittag verkündete, nachdem 99,5 der Stimmen ausgezählt waren, erreichte Medwedjew 70,23 Prozent. Für den Zweitplatzierten und KP-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow votierten demzufolge 17,76 Prozent, für den Nationalisten Wladimir Shirinowski 9,37 und für Andrej Bogdanow 1,29 Prozent. Der freute sich dennoch wie ein Schneekönig: 86 Prozent der Bürger Russlands würden jetzt seinen Namen und seine Partei kennen. Das sei eine gute Grundlage, um alle demokratischen Kräfte in einer neuen Partei zu vereinigen.

Die beiden anderen Konkurrenten Medwedjews sahen das weit weniger entspannt. Vor allem Sjuganow, der am Sonntag das bisher schlechteste Ergebnis bei Präsidentenwahlen einfuhr. Das Land sei erneut betrogen worden. So viel Dreistigkeit beim Umgang mit dem Wählerwillen, ließ er gleich nach Eingang der ersten Hochrechnungen am Sonntagabend wissen, habe es bisher nicht gegeben. KP-Sekretär Waleri Raschkin kündigte bereits an, seine Partei werde das Ergebnis vor Gericht anfechten. Ursprünglich wollte sich auch Shirinowski der Klage anschließen, später erklärte er jedoch, das sei sinnlos angesichts der abhängigen Justiz. Dass es Unregelmäßigkeiten gab, musste gestern auch Russlands oberster Wahlleiter einräumen. Insgesamt, so Tschurow, seien bei der Zentralen Wahlkommission bisher 324 Beschwerden eingegangen, allein von den Kommunisten 147.

Er, so Wahlsieger Medwedjew auf seiner ersten Pressekonferenz als neuer Präsident in der Nacht zu Montag, werde die Interessen aller Wähler berücksichtigen, wie es in einer demokratischen Gesellschaft üblich sei. Die Stimmenverteilung habe gezeigt, dass nicht zu allen Problemen ein Konsens besteht. Das sei jedoch »kein Drama und für die Macht eher ein Ansporn«, notwendige Veränderungen auf den Weg zu bringen.

Wie Senatspräsident Sergej Mironow bei einem Besuch in Sofia erklärte, zeige das Wahlergebnis, dass Russland sich für Stabilität und politische Kontinuität entschieden habe. Ähnlich äußerten sich auch andere Politiker aus dem Regierungslager. Medwedjews Sieg sei logisch und das »Unterpfand« für die Fortführung des erfolgreichen und pragmatischen Kurses, den »unser nationaler Führer Wladimir Putin« in den letzten acht Jahren realisiert habe, sagte Murat Sjasikow, der Präsident der Teilrepublik Inguschetien - wo für Medwedjew über 90 Prozent der Wähler stimmten.

Seinen souveränen Sieg, so auch hiesige Politologen in seltener Einmütigkeit, verdanke Medwedjew in erster Linie Amtsvorgänger Wladimir Putin und dessen hohen persönlichen Zustimmungsraten. Der neue Präsident werde seinen Kurs fortsetzen. Größere Verwerfungen und personelle Veränderungen erwartet die Mehrheit der Zunft daher nicht. Zumindest nicht in der ersten Hälfte von Medwedjews vierjähriger Amtszeit. Der außenpolitische Kurs werde ebenfalls konstant bleiben. Dafür spricht auch die Entwicklung an Russlands Börsen. Die reagierten gestern nicht auf die Präsidentenwahlen, sondern auf den anhaltenden Negativtrend an westlichen Handelsplätzen.

Beobachter versuchen unterdesden, die künftige Konfiguration von Regierung und Präsidentenamt zu entschlüsseln. Garry Minch, der Chef der Rechtsabteilung in Medwedjews Wahlkampfteam, sagte dazu gestern lediglich, das Kabinett werde, wie von der Verfassung gefordert, am 7. Mai, dem Tag der Vereidigung des neuen Präsidenten, zurücktreten. Auch seien größere Veränderungen im Präsidentenamt möglich. Die Kompetenzen der Beamten dort würden automatisch mit der Legislaturperiode des alten Präsidenten enden.

*** Aus: Neues Deutschland, 4. März 2008

Präsidentenwahl in Russland im Spiegel der europäischen Presse

Die Präsidentenwahl in Russland stößt in der europäischen Presse auf geteilte Meinungen. Westliche Experten und Journalisten sehen die Wahl als Referendum für den Putin-Nachfolger Dmitri Medwedew und stellen Fragen zum künftigen Machtgefüge.

Die deutsche STUTTGARTER ZEITUNG sieht zunächst viele offene Fragen:
„Niemand im Westen weiß, was Putin und Medwedew vorhaben. Bleibt Putin der geistige Führer? Kann sich Medwedew emanzipieren, wenn er erst einmal als Präsident im Kreml sitzt und nach der Verfassung fast allmächtig ist? Eine Verfassung, die Putin so heilig ist, dass er sie nicht geändert hat, obwohl er sonst ohne Bedenken fast alle Grundrechte mit Füßen tritt. Es wäre ihm leichtgefallen, sich selbst eine dritte und eine vierte Amtszeit durch eine Verfassungsänderung zu sichern. Aber er hat darauf verzichtet und gibt nun aller Welt Gelegenheit, Zeuge eines einzigartigen Machtschauspiels zu werden.“

POSTIMEES aus Estland hat Fragen zur russischen Außenpolitik:
„Für den Westen und für Estland ist es wichtig, wie sich das Machtverhältnis zwischen Putin und Medwedew und damit auch die Beziehungen zu Russland entwickeln. Als Jelzin Gorbatschow folgte, änderte sich nicht viel, da die Beziehungen einigermaßen in Ordnung waren. Aber seit dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 haben sich die Beziehungen deutlich abgekühlt. Dass Medwedew als liberaler als Putin gilt, muss nicht allzu viel bedeuten. Von einem Durchbruch in unseren Beziehungen zu Russland kann nicht die Rede sein.“

Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG aus Deutschland zieht eine demokratische Bilanz der Ära Putin:
„Putin hinterlässt ein Russland, das nur formal einer Demokratie ähnelt. Opposition existiert nur auf dem Papier, Militär und Geheimdienste bestimmen die Politik. So wahr, so unvollständig. Denn das Russland von heute ist kein Ergebnis eines von oben ausgeführten Putsches, der Putin und nun Medwedew als Diktatoren an die Macht gebracht hätte. Die antiliberale Politik des Kreml einschließlich der bestellten Präsidentschaftswahl wird in Russland von der Mehrheit der Bürger goutiert, weil sie Ordnung für ein höheres Prinzip als politische Freiheit hält.“

OPEN DEMOCRACY aus Großbritannien erinnert an Putins Politik in den 90er Jahren:
„Wiedererrichtung einer Zentralmacht, Schaffung eines 'einzigen Rechtsraums' und Unterstützung der einheimischen Wirtschaft [...]: Das war das Fundament für eine unabhängige Außenpolitik. In all diesen Fragen war Medwedew nicht nur mit Putins Ansätzen einverstanden, er hat vielmehr eine zentrale Rolle bei deren Ausarbeitung gespielt. Nun, da sich die Lage im Lande stabilisiert hat, hat Medwedew den Eindruck, es sei an der Zeit, sich weniger auf die Konsolidierung, sondern stattdessen mehr auf die Liberalisierung zu konzentrieren... Damals wie heute ist Medwedews Losung 'Flexibilität' und 'Pragmatimus'. Wenn man das bedenkt, muss man an der konventionellen Sicht auf Medwedew zweifeln, er sei nur ein Lakai, der Putins Gebote blind befolgt. Fraglich ist allerdings auch die Auffassung, dass er eine Politik entwickeln wird, die mit der von ihm in den vergangenen sieben Jahren betriebenen bricht.“

Die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG stellt fest:
„Medwedew hat erst einmal freiwillig die Rolle in Putins Schatten angenommen. Die entscheidende Frage für die Zukunft ist, ob er sich auf Dauer damit bescheidet, oder ob er irgendwann aus diesem Schatten heraustreten will - auch wenn das schwer ist. Der neue Chef hat im Kreml keine Hausmacht. Und die schon untereinander rivalisierenden Clans, in denen vorwiegend Geheimdienstler um Einfluss kämpfen, können und werden dem Mann ohne Agentenkarriere das Leben schwer machen. Sie kontrollieren große Teile der Wirtschaft. Das soll aus ihrer Sicht auch so bleiben. Ihr Garant dafür ist Putin - als Medwedews Aufpasser. Versucht Medwedew aber sich zu emanzipieren, läuft alles auf einen Machtkampf hinaus.“

Eine ähnliche Position vertritt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG:
„Sollte der neue Präsident tatsächlich eine Öffnung riskieren, Politiker aus den Aufsichtsräten abziehen, die Korruption bekämpfen, Widerspruch dulden, würde er sich gefährliche Feinde machen. Die Falken im Kreml haben bereits seine Kandidatur als Provokation empfunden. Das von Putin ausbalancierte Machtgefüge rivalisierender Gruppen ist in Schwingung geraten. Nach acht Jahren der lukrativen Verschmelzung von Wirtschaft und Politik steht für Russlands Mächtige viel auf dem Spiel.“

Die italienische LA REPUBBLICA schreibt:
„Russland wird zum ersten Mal seit der bolschewistischen Revolution ein ganz anderes Staatsoberhaupt haben. Medwedew ist kein Berufsrevolutionär, kein Mann der Partei und er kommt nicht aus dem Staatsapparat. Er ist auch kein Ex-KGB- oder Armee-Chef. Angesichts seiner Ausbildung und seiner Wirtschaftskenntnisse könnte man ihn für einen verantwortungsvollen westlichen Politiker halten. Doch er verdankt seine gesamte Karriere allein Putin. Wird er unabhängig handeln können? [...] Es ist zu früh, um das zu beurteilen. Wir können nur feststellen, dass er weder Putins Allüren noch dessen Dünkel besitzt. Gewiss darf man keine Vermutungen aufgrund der äußeren Erscheinung eines Menschen anstellen. Aber eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen ist denkbar.“

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD), hat sich im DEUTSCHLANDFUNK vorsichtig optimistisch über den Wahlsieg von Dmitri Medwedew geäußert und sieht den neuen Präsidenten als eine Chance für Europa:
“Ja, er ist eine Chance." Schließlich habe Medwedew mit Blick auf sein Vorhaben, die Gesellschaft und die Wirtschaft in Russland zu modernisieren, festgestellt: "Ich brauche die Europäische Union, ich brauche auch den Partner Deutschland.“

Die ungarische NEPSZABADSAG rechnet mit Neuerungen im russischen Machtspiel:
„Die Regierung war seit dem Zerfall der Sowjetunion ein bürokratisches Gebilde. Geld und Einfluss konnte man sich nicht durch die Regierung, sondern nur außerhalb davon verschaffen... Nun steht aber mit Wladimir Putin jemand an der Spitze der Regierung, der kein Bürokrat ist, sondern die Macht selbst verkörpert. Es wird also interessant sein zu beobachten, wie sich Medwedews Unabhängigkeitsversuche an einem Hindernis stoßen werden, das es bislang nicht gegeben hat: an der Regierung.“

BELGISCHE LA LIBRE BELGIQE fragt, "was sich am Sonntag in Moskau beobachten ließ?":
„Nichts. Wir erlebten das traurige Schauspiel eines (theoretisch) europäischen Landes, das eine demokratische Farce aufführte. In den acht Jahren seiner Präsidentschaft hat es Putin bis zu einem gewissen Grad zumindest geschafft, die gekränkte Ehre einer Nation wiederherzustellen, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Enttäuschungen der Jelzin-Ära ziemlich gedemütigt fühlte, während parallel die soziale Armut und mafiöse Strukturen wuchsen. Inzwischen hat Russland zu seiner Rolle als überlegene Großmacht zurückgefunden. Es verbreitet wieder Angst, ohne dass man es zugleich bewundern wollte.“

Im DEUTSCHLANDRADIO KULTUR kritisierte der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Alexander Rahr, den Westen für seine Urteile über die Wahl in Russland.
Der Westen reagiere sehr scharf, wenn er die Wahlen als Farce bezeichne, und bemühe sich nicht, die „russischen Befindlichkeiten“ zu studieren. Den Russen sei die Stabilität ihres Landes wichtiger als Kritik an demokratischen Defiziten. „Die Opposition kann sich nicht nur deshalb nicht entwickeln, weil sie vom Kreml drangsaliert wird, sondern auch, weil sie der Politik Putins nichts entgegenzusetzen hat“, sagte Rahr.
Laut Rahr wird es ein „hochinteressanter Vorgang“ sein, wenn die Kremladministration und die Regierung praktisch ihre Rollen tauschten und der Premierminister für die eigentlichen Machtstrukturen verantwortlich, während der Präsident für die Wirtschaft zuständig sei.

Quelle: Presseübersicht zusammengestellt von Michail Logvinov für die Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 4. März 2008




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