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Stimmungswandel in Rußland

Verluste für Regierungspartei bei Regional- und Kommunalwahlen

In Rußland waren am Sonntag (14. März) rund 32 Millionen Menschen aufgerufen, die Regionalparlamente sowie in mehreren Städten die Bürgermeister und Gemeinderäte neu zu wählen. Dabei mußte die Regierungspartei »Einiges Rußland« deutliche Einbußen hinnehmen. Trotzdem erreichte die Partei von Ministerpräsident Wladimir Putin nach Angaben der Wahlkommission in den Regionen zwischen 40 und 86 Prozent der Stimmen. Insgesamt zweitstärkste Kraft wurde mit Ergebnissen zwischen 18 und 24 Prozent die Kommunistische Partei (KPRF), die im sibirischen Irkutsk den Bürgermeisterposten erobern konnte. Ihr Kandidat Viktor Kondraschow erhielt hier 62 Prozent der Stimmen, während der Vertreter der Kremlpartei, Sergej Serebrennikow, auf 27 Prozent kam. Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow zeigte sich entsprechend zufrieden mit den Ergebnissen: »Die Wähler haben uns erhört und uns aktiv unterstützt«, sagte er der russischen Nachrichtenagentur Interfax. »Das Bewußtsein rückt nach links, die Stimmung wird rot.«

Auch der Politologe Alexander Kynew hält die Ergebnisse von Irkutsk nicht für einen lokalen Fall. »Das ist ein Trend«, sagte er dem Internetportal Gazeta.ru. Die Wahlen hätten gezeigt, daß sich ein Stimmungswandel vollziehe: »Die Gesellschaft erwacht aus dem Tiefschlaf«.

Drittstärkste Kraft wurde insgesamt die nationalistische Liberal-Demokratische Partei (LDPR) mit Ergebnissen von sechs bis 16 Prozent der Stimmen. Ihr folgte die Partei »Gerechtes Rußland«, die sich mit ihrem Ergebnis ebenfalls zufrieden zeigte. »Wir haben in allen acht Regionen, wo gewählt wurde, Mandate bekommen«, betonte ihr Duma-Frak­tionschef Nikolai Lewitschew.

In Moskau gestand Parlamentspräsident Boris Gryslow von »Einiges Rußland« die Probleme seiner Partei bei den Wahlen ein: »Wir brauchen die Verluste auf der regionalen Ebene, damit wir die Gründe dafür verstehen und korrigieren können«, sagte er. Politologe Kynew bezeichnete die Ergebnisse der Regierungspartei hingegen im Rundfunk als »katastrophal«. In der Partei herrsche »Panikstimmung«.

In den vergangenen Wochen war es in Rußland zu wachsendem Unmut über die Politik der Regierung gekommen. So waren Ende Februar aus Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten im Norden des Landes 1500 Menschen auf die Straße gegangen. Ende Januar demonstrierten rund 10000 Menschen in Kaliningrad.

* Aus: junge Welt, 16. März 2010


Russlands Presse: Böses Erwachen für Kreml-Partei bei Regionalwahlen **

Die Ergebnisse der Regional- und Kommunalwahlen in vielen Teilen Russlands vom Sonntag könnten zu einer Überraschung werden, schreiben russische Zeitungen vom Sonntag und Montag (14. und 15. März).

Die Kreml-Partei Geeintes Russland hat bei den Bürgermeisterwahlen in der ostsibirischen Stadt Irkutsk stark an Boden verloren. In den acht Regionen, in denen die Regionalparlamente gewählt wurden, liegen die Vertreter der Kreml-Partei zwar vorne, doch die meisten erreichen nicht einmal 50 Prozent. Bei Geeintes Russland betrachtet man die Ergebnisse als einen Erfolg, während unabhängige Experten von einem Scheitern der "Partei der Macht" sprechen.

Am vergangenen Sonntag (14. März) fanden in 76 Subjekten der Russischen Föderation über 6000 Referenden und Wahlen verschiedener Ebene statt. Die sensationellste Meldung kam also aus Irkutsk. Dort sammelte der Kommunist Viktor Kondraschow beinahe doppelt soviel Stimmen wie der Kandidat von Geeintes Russland, Sergej Serebrennikow.

In dieser Stadt ist die Opposition auch sonst sehr aktiv. In erster Linie wird gegen die Wiederaufnahme der Produktion des Papier- und Zellstoffkombinats am Baikalsee protestiert, in den das Unternehmen seine Abwässer ablässt. Premier Wladimir Putin hatte die Wiedereröffnung der Papierfabrik am Anfang der Wahlkampagne beschlossen. Die Ökologie des Baikalsees war eines der Schlüsselthemen im Wahlkampf. v Die führenden Vertreter von Geeintes Russland rechneten damit, dass die Partei bei den Parlamentswahlen in allen acht Regionen über 50 Prozent erhalten werde. Die ersten Ergebnisse lieferten jedoch ein anderes Bild. Eine Quelle in der Parteispitze von Geeintes Russland sagte der Zeitung "Kommersant", die vorläufigen Ergebnisse "wirken wie eine Welle einer Protestwahl, weil man vor allem gegen die Regierung votiert".

Unabhängige Experten bezeichnen die Ergebnisse von Geeintes Russland bereits als ein Fiasko. "Im Vergleich zur hysterischen Kampagne von Geeintes Russland sind die Ergebnisse beklagenswert", zitiert die Internetzeitung "Gazeta.Ru" Alexander Kynew, Chef der Regionalprogramme des "Fonds zur Entwicklung der Informationspolitik". Die Wahlen hätten gezeigt, dass sich zurzeit in den Stimmungen in der Gesellschaft ein Wandel vollziehe: "Die Gesellschaft erwacht aus dem Tiefschlaf", sagte er.

Das Beispiel Irkutsk erscheint dem Politologen in dieser Hinsicht typisch. "Das ist kein lokaler Fall", betont Kynew. "Das ist ein Trend. Solche Ergebnisse werden ein starkes Signal darstellen, das die Eliten und jene, die Geeintes Russland wider besseres Wissen mit zusammengebissenen Zähnen unterstützt haben, nicht überhören werden."

"In Russland reift die Zeit von politischen Systemveränderungen heran", kommentierte der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr in der Zeitung "Gaseta" die Wahlen. "Geeintes Russland, das unter einen starken Druck (darunter seitens des Präsidenten) geraten ist, muss jetzt wirklich gegen erstarkende Konkurrenten kämpfen. Es wird für Medwedew und Putin nämlich sehr wichtig sein, zu sehen, wie sich die Sympathien der Bevölkerung verteilen: in Richtung auf eine eher autoritäre und konservative - oder in Richtung auf eine liberale Modernisierung."

Quellen: "Gazeta.Ru" vom 14.03.10, "Kommersant" vom 15.03.10, "RBC Daily" vom 15.03.10.

**Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. März 2010; http://de.rian.ru


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