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Im Kampf um die "russische Seele"

Der Wiedereinzug in den Moskauer Kreml scheint Wladimir Putin sicher zu sein

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Am 4. März wählt Russland einen neuen Präsidenten, erstmals für sechs Jahre. Fünf Kandidaten stellen sich den Wählern, doch gibt es wenig Zweifel daran, dass Wladimir Putin nach vierjähriger Pause in den Kreml zurückkehren wird. Dem Wahltag ging jedoch eine Protestbewegung voraus, wie sie Russland lange nicht mehr erlebt hat.

Eines muss man Russlands außerparlamentarischer Opposition lassen: Die Massenproteste nach den umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember haben Wladimir Putin, der bei den Präsidentenwahlen am Sonntag für eine dritte Amtszeit kandidiert, gezwungen, um die Seele jedes einzelnen Wählers zu ringen. Das Beste war ihm dazu gerade gut genug: Er selbst.

Verbissen wie einst für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi kämpfte er bei der Kundgebung am 23. Februar im Moskauer Lushniki-Stadion. Nur kam der bekennende Konservative dort moderner und lockerer daher als 2006 auf der IOC-Tagung in Guatemala.

Nicht nur das Outfit - schwarzer Anorak und beiger Pullover - auch die rhetorischen Fragen an die Menge, die nur eine Antwort zuließen, erinnerten an den Wahlkampf Barack Obamas: »Ja!« Und wie der Amerikaner verabschiedete sich Putin von den 130 000 Menschen, die gekommen waren, mit dem V-Zeichen. In der Fußballarena, das geben selbst notorische Nörgler innerhalb der Prophetenzunft zu, die mit den Protestlern sympathisieren oder sich sogar mit ihnen engagieren, habe Putin Gegner und Herausforderer gleichermaßen demoralisiert.

Die Meinungsforscher sind sich einig

Noch zu Jahresbeginn ließ eine Stichwahl, die fällig wird, wenn im ersten Wahlgang keiner der Bewerber 50 Prozent plus eine Stimme bekommt, Kommentatoren zu Hochform auflaufen. Ende vergangener Woche dagegen, als die großen Meinungsforschungsinstitute ihre letzten Umfrageergebnisse vorstellten, kam Putin sogar beim kremlkritischen Lewada-Zentrum auf bis zu 68 Prozent. Die staatsnahen Konkurrenzinstitute WZIOM und FOM attestierten ihm ähnliche Zustimmungsraten.

Anfang Januar sah das noch anders aus. Maximal 38 Prozent wollten für den Mann stimmen, der bei seiner ersten Wiederwahl 2004 über 70 Prozent eingefahren hatte. Deutlich ging inzwischen auch der Anteil potenzieller Nichtwähler - in jedem Wahlkampf der Hauptfeind des jeweiligen Favoriten - zurück. Anfang Januar wollten 40 Prozent zu Hause bleiben, inzwischen weniger als 25. An die Urnen treiben dürfte sie auch ein angeblich vereitelter Anschlag auf Putin, glaubt der unabhängige Politikwissenschaftler Dmitri Oreschkin.

Protestbewegung hat an Fahrt verloren

Zwar hat Wladimir Ryshkow, einer der rechtsliberalen Oppositionsführer, nicht ganz Unrecht, wenn er behauptet, die Wahl sei illegitim, noch bevor der erste Stimmzettel in die Urne fliegt. Weil die Zentrale Wahlkommission den sozialliberalen Grigori Jawlinski disqualifizierte. Von den Unterschriften zur Unterstützung seiner Kandidatur war angeblich jede vierte ungültig, weil nur kopiert. Tatsächlich gilt es geradezu als unmöglich, binnen kurzer Frist zwei Millionen Unterstützerunterschriften zu sammeln. Und der Ermessensspielraum für die Anerkennung einer Unterschrift als gültig oder ungültig ist sehr weit. Parlamentarische und außerparlamentarische Opposition glauben daher, Jawlinski sei gesperrt worden, weil seine maximal zehn Prozent Putin die absolute Mehrheit kosten könnten.

Zu mehr als mattem Protest gegen die Willkür rafften sich Putins Gegner jedoch nicht auf. Und auch sonst, glaubt der Direktor des Zentrums für politische Information, Alexei Muchin, hätten sie das politische Kapital, das sie bei den Dumawahlen und kurz danach angehäuft hatten, bereits wieder verspielt.

Die Protestbewegung hat denn auch erheblich an Fahrt verloren. Knapp 30 000 beteiligten sich am vergangenen Sonntag an der Menschenkette rund um die Moskauer Innenstadt. Und im Antrag für die Kundgebung nach den Wahlen am Montag ist von ganzen 10 000 die Rede. Ihre politischen Differenzen haben Liberale, Linke und Nationalisten noch immer nicht in den Griff bekommen. Nach wie vor fehlen ein schlüssiges politisches Programm und eine Strategie für die Zeit nach der Wahl. Dazu kommen Putins programmatische Aufsätze zu den wichtigsten Themen russischer Innen- und Außenpolitik in den überregionalen Zeitungen. Sie, sagt Muchin, hätten Experten, die die öffentliche Meinung machen, zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Inhalten gezwungen. Einer durchaus kritischen, aber Kritik sei besser als das Schweigen, mit dem die Zunft auf die Wahlkampfmanifeste von Putins Herausforderern reagierte.

Weder KPRF-Chef Gennadi Sjuganow noch der Nationalist Wladimir Shirinowski hätten etwas Neues geboten. Bei den Fernsehduellen hätten sie lediglich die übliche Pflichtkür abgeliefert. Weil ihnen der eigentliche Gegner fehlte: Putin, der sich hinter dem vollen Terminkalender des Regierungschefs verschanzte und bevollmächtigte Vertreter schickte. Der Wähler stimmte per Fernbedienung ab. Sjuganow sehen Meinungsforscher bei maximal 15 Prozent, Shirinowski bei acht, den Multimillionär Michail Prochorow und Sergej Mironow von der Mitte-Links-Partei »Gerechtes Russland« bei jeweils sechs Prozent.

Nur kosmetische Korrekturen?

Entsprechend gering ist bei diesen Mehrheiten auch der Reformdruck, der auf Kreml und Regierung lastet. Die dazu von Noch-Präsident Dmitri Medwedjew eingebrachten Gesetze, die die Duma am Dienstag in erster Lesung verabschiedete, sind kaum mehr als kosmetische Korrekturen des derzeitigen Standes. Und die Webkameras, mit denen auf Putins Anweisung alle Wahllokale ausgerüstet wurden, sind keine Garantie für eine faire Abstimmung. Die meisten Fälschungen, sagt die Opposition, passierten bei der Datenübermittlung an die nächsthöhere Ebene. Wichtig sei nicht, wie gewählt, sondern wie gezählt wird.

* Aus: neues deutschland, 3. März 2012


Kommt nach den Protesten ein anderer Putin?

Alexander Busgalin über Strömungen und Stimmungen in der russischen Wählerschaft **

Prof. Dr. habil Alexander Busgalin (57) lehrt und forscht an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität. Er gehörte 1989/90 zu den Gründern der Marxistischen Plattform in der KPdSU und wurde 1990 in das ZK der Partei gewählt. Heute ist er Chefredakteur der parteiunabhängigen linken Zeitschrift »Alternatiwy« und Koordinator der gleichnamigen globalisierungskritischen Bewegung. »nd«-Redakteur Detlef D. Pries befragte ihn.


nd: Jahrelang hatte Wladimir Putin die höchsten Zustimmungswerte. Plötzlich erlebt Russland ungeahnte Proteste gegen eben diesen Putin. Können Sie das erklären?

Busgalin: Die Zustimmungswerte für Putin als Person waren stets höher als die für seine Politik. Putin hatte sich in gewissem Maß als Fortsetzer der positiven Züge der Sowjetunion dargestellt. Deshalb bejahten bis zu 70 Prozent die Frage, ob sie Putin unterstützen. Aber seine Reden unterscheiden sich von seiner realen Politik. Und nicht zum ersten Mal hat sich dagegen Protest erhoben. Schon 2005 haben Zehntausende im ganzen Land sogar Straßen blockiert und Amtsgebäude zu besetzen versucht, weil Vergünstigungen und Ermäßigungen für Rentner, Veteranen, Lehrer, Ärzte und andere zum Nachteil der Betroffenen in Geld verrechnet werden sollten. Die Gesamtzahl der Protestierenden war damals nicht geringer als jetzt. Nur wurde im Westen viel weniger darüber berichtet.

Zu Putins Gunsten wirkte sich aber auch aus, dass er eine gewisse Stabilität versprach. Die Leute waren nach der Jelzin-Ära der ständigen Umbrüche müde.

Und warum ist das jetzt nicht mehr so?

Irgendwann sucht sich der Dampf aus einem geschlossenen Kessel seinen Weg. Russlands Bürger haben es satt, von Bürokraten erniedrigt und gedemütigt zu werden, die über das Land und seine Reichtümer wie die Gutsbesitzer verfügen. Durch das freche Wechselspiel von Putin und Medwedjew und durch die Manipulation der Dumawahl sahen sie ihre Würde als Staatsbürger mit Füßen getreten. Es gab ein sehr charakteristisches Plakat auf einer der Kundgebungen. Da stand: »Ich habe nicht für diese Lumpen gestimmt.« Daneben war das Logo des »Einigen Russlands« abgebildet. »Ich habe für diese Lumpen gestimmt.« Es folgten die Logos anderer Parteien. »Warum wollt ihr nicht wenigstens meine Stimme richtig zählen?« Die Mehrheit der Demonstranten war »gegen alle«, aber diese Rubrik gab es auf den Stimmzetteln nicht mehr.

Es waren also nicht soziale Nöte, die den Protest befeuert haben?

Die soziale Lage ist für die Mehrheit nicht katastrophal. Es stimmt, 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, aber für die Mehrheit ist die Lage nicht kritisch, was Essen und Kleidung angeht. Schon gar nicht in Moskau, wo der Lebensstandard drei- bis viermal höher ist als im russischen Durchschnitt. Die Teilnehmer der Kundgebungen in Moskau leben zu einem Großteil in gesicherten Verhältnissen. In den Regionen ist das etwas anders.

Voraussetzung für eine Abwahl Putins wäre aber doch wohl die Einigung der Protestierenden auf einen gemeinsamen Kandidaten gewesen. Warum gibt es den nicht?

Den konnte und kann es nicht geben. Dazu war das Publikum viel zu polarisiert. Der Anteil verschiedener Linker lag etwa bei 10 bis 15 Prozent, die Nationalisten stellten vielleicht auch 10 bis 15 Prozent. Da gibt es - ine neue Erscheinung - Leute, die auf befremdliche Weise die Idee des russischen Großmachtchauvinismus mit prowestlichem Liberalismus verbinden. Der Blogger Alexej Nawalny ist einer davon. Die Hälfte oder mehr waren Leute mit abstrakten demokratischen Ideen, ohne besondere Neigungen für eine Partei.

Dennoch hieß es zu Jahresbeginn, Putin werde einen zweiten Wahlgang brauchen. Jetzt sprechen alle Prognosen für seinen Sieg in der ersten Runde. Wie kommt es zu diesem Wandel?

Auf den Tribünen der Protestmeetings fielen vor allem rechtsliberale Politiker auf. Leute wie Boris Nemzow, Vizepremier zu Jelzins Zeiten, Alexej Kudrin, der als Finanzminister unter Putin einen harten antisozialen Kurs verfolgt hat, und ähnliche Personen. Das rief bei vielen - vor allem in den Regionen - das Gefühl hervor, dass es unter diesen Leuten noch schlimmer käme als unter Putin. Die würden nicht nur eine liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben, sondern Russland auch noch an die Amerikaner verkaufen. Putin, sagen sich viele, sichert wenigstens die Existenz des russischen Staates. So entstand eine neue Strömung: Man darf das Boot nicht ins Schlingern bringen.

Werden diese Präsidentenwahlen also »ehrlich« sein?

Ich denke, es wird weniger Fälschungen geben. Weil sie einfach nicht gebraucht werden. Auch wenn westliche Medien und die Opposition sagen, die Wahlen seien wieder gefälscht worden - wenn die Leute nicht mit eigenen Augen sehen, dass man sie frech belügt, werden die Proteste weniger enthusiastisch ausfallen.

Putin in seiner dritten Amtszeit werde ein anderer sein, er werde - auch wegen der Proteste - das System verändern müssen, sagen manche Experten voraus.

Putin verkauft das, was die Leute hören wollen. Er hat es schon bei seiner ersten Wahl verstanden, sich alle Losungen und Forderungen der Opposition zu eigen zu machen, ohne sie letzten Endes zu verwirklichen. Jetzt sagt er, dass es eine neue Welle der Industrialisierung geben müsse, dass es wieder eine Ehre werden müsse, Arbeiter zu sein, das Bildungswesen werde verbessert ... Das ist reine Demagogie. Dazu bedürfte es langfristiger Planungen und Programme, dazu müsste man die Ergebnisse der Privatisierung überprüfen. Das wiederum würde radikal die Interessen derer beeinträchtigen, die das Kapital und die Macht besitzen. Und darauf gehen Putin und seine Unterstützer nicht ein.

Die Machtpyramide, auf die sich Putin stützt, ist an das existierende System gebunden. Wenn es zu Reformen kommt, werden das kosmetische Veränderungen sein, neue Bezeichnungen, zivilisiertere Erscheinungsformen eines halbautoritären Systems.

Sie sagte, dass sich ein gewisser Antiamerikanismus in der russischen Bevölkerung zu Gunsten Putins auswirkt. Auch in Teilen der westlichen Linken gilt der ehemalige und künftige Präsident als Verbündeter im Kampf gegen die globale Hegemonie der USA. Können Sie das akzeptieren?

Leider ist die Situation nicht eindeutig. Putin schafft sich in der Tat das Image des Widerständlers gegen die USA-Hegemonie. Aber das ist vor allem Schein. Sein Protest ist in den meisten Fällen schwach, ohne praktische Bedeutung. Meiner Meinung nach kann man auf die Putin-Karte nur in der Beziehung setzen, dass Nemzow oder Kudrin noch schlimmer wären. Aber hinter denen steht in Russland derzeit nur eine Minderheit, freilich auch ein Teil der Oligarchen. Wer tatsächlich in Russland ein Gegengewicht zu den USA sehen will, der muss eine in breit gefasstem Sinne linke Opposition unterstützen.

Und wie heißt deren Kandidat?

Das ist ein schmerzhaftes Kapitel. Es gäbe durchaus »neutrale« sozial orientierte Kandidaten, die nicht nur für Anhänger der KPRF und des »Gerechten Russlands«, sondern auch für die große Mehrheit der »abstrakten Demokraten« und sogar für liberale Demokraten wählbar wären. Aber bei einer solchen Kandidatur würde der Einfluss Sjuganows und Mironows und ihrer entsprechenden Apparate jäh schwinden. Und deshalb gibt es diesen gemeinsamen Kandidaten nicht.

Ich frage Sie jetzt nicht ...

Aber ich verrate es Ihnen: Ich werde Sjuganow wählen, obwohl mir vieles an ihm nicht gefällt, was ich ihm auch persönlich sage. Ich wähle ihn, damit weniger Stimmen auf Putin entfallen.

* Aus: neues deutschland, 3. März 2012


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