Der letzte Tropfen
Anfangs nur Gast, am Ende ZK-Mitglied
Von Alexander Busgalin *
Der 28. Parteitag der KPdSU war voller unerwarteter Initiativen - und
doch vorher entschieden. Demokratisch wie nie zuvor - und doch
manipuliert. Herrlich in seiner Polemik - und tragisch in seiner
Ausweglosigkeit. Mich selbst machte er vom Opponenten bürokratischer
Entstellungen, vom »politikfernen« Hochschuldozenten zum Mitglied des
ZK, der »Nomenklatura«, die man heute »politische Elite« nennen würde.
1985 - zu Beginn der Perestroika - war die KPdSU noch eine einheitliche,
aber schon von gewaltigen Widersprüchen durchdrungene Organisation. Nach
dem Dahinsiechen Leonid Breshnews, dem Ableben Juri Andropows und
Konstantin Tschernenkos schien Michail Gorbatschow die Hoffnung auf
einen Ausweg aus der Sackgasse zu sein. Aber er war es nicht.
An der Spitze der 19-Millionen-Partei zeigten sich bereits sehr
unterschiedliche Tendenzen. Da waren die konservativ-traditionellen
Kommunisten, die ihre aufrichtige Überzeugung von der Gerechtigkeit der
»Sache des Sozialismus« und den Vorzügen des Sowjetsystems mit
gemäßigtem russischen Chauvinismus und heimlicher Sehnsucht nach
strenger Unterordnung bei gleichzeitigem persönlichen Aufstieg verbanden.
Auf der anderen Flanke kämpfte ein Kreis relativ junger Vertreter der
unteren und mittleren Parteinomenklatur. Absolventen von
Eliteinstituten, mit dem Westen vertraut, verwöhnt durch die Privilegien
ihrer Väter und Großväter, bejubelten diese künftigen »Yuppies« der
KPdSU Gorbatschow am lautesten - im Vorgeschmack auf ein ganz anderes
Ergebnis als das von Gorbatschow erstrebte.
Vorherbestimmt wurde das Resultat der Führungstätigkeit Gorbatschows
indes durch die amorphe Masse der mittleren Nomenklatur, die keine klare
ideologische Orientierung hatte. Ihr Credo war der persönliche
Wohlstand, den zu erlangen es in der UdSSR eben einer Parteikarriere
bedurfte.
Auch unter den »einfachen« Parteimitgliedern gab es treue Kommunisten,
die den Fortschritt des Landes als Lebensaufgabe ansahen. Andere waren
»wie alle« in der Partei und verrichteten ehrlich ihre Arbeit. Und es
gab Karrieristen, die nur des Aufstiegs wegen eingetreten waren. 1990
hatte sich die Mehrheit, zumindest aber eine starke Minderheit der
Mitglieder, bereits der einen oder anderen Tendenz angeschlossen, aus
denen die »Plattformen« erwuchsen.
Die erste und größte war die »Demokratische Plattform«, deren Aktivisten
zwar noch über eine Reform des Sozialismus sprachen, die
parlamentarische kapitalistische Ordnung aber bereits für das Modell der
Zukunft hielten. Während des Parteitags spaltete sich diese Plattform:
Leute wie Boris Jelzin traten demonstrativ aus der Partei aus,
schwenkten scharf nach rechts und bildeten nach dem Zerfall der UdSSR
neoliberale politische Strukturen. Andere blieben in der KPdSU -
gleichsam als Urbilder der unbestimmbaren postsowjetischen
Sozialdemokraten, von denen einige heute in der Partei »Gerechtes
Russland« sind.
Gorbatschow und seine Vertrauten bezogen Positionen, die weitgehend mit
denen des linken Flügels der »Demokratischen Plattform« übereinstimmten
- nur dass ihr wichtigstes Interesse im Machterhalt bestand. Wichtig für
Gorbatschow war sein »Rating« - in der UdSSR, aber auch im Westen.
Den Gegenpol bildeten konservativ-kommunistische Delegierte und Gäste,
die zuvor den »Leningrader Initiativparteitag« veranstaltet hatten. Ihre
Kritik an Gorbatschows Kurs, der zum Kollaps der UdSSR und des
Sozialismus führen würde, war durchaus begründet. Aber damit standen sie
nicht allein.
Eine dritte Tendenz, die »Marxistische Plattform«, war erst drei Monate
zuvor durch die Abspaltung linker kommunistischer Demokraten von der
»Demokratischen Plattform« und die Vereinigung mit Kommunisten
informeller linker Strukturen entstanden. Zu ihren Initiatoren gehörte
auch ich. Wir verbanden die Ideen von Kommunismus und Demokratie auf
»nicht-gorbatschowsche« Art. Wir wollten keine Konvergenz von »realem
Sozialismus« und »realem Kapitalismus«, sondern den Bruch mit der
bürokratischen Verfasstheit der UdSSR und deren Ablösung durch
Selbstverwaltung und Selbstorganisation.
Die Medien konzentrierten sich während des Parteitags auf den Kampf der
»Großen«: Gorbatschow, Jakowlew, Ligatschow, Jelzin ... Das waren indes
Äußerlichkeiten. Noch weniger bedeutsam waren die Abschlussdokumente -
voller unklarer Kompromisse. Genauso unklar wie die Zusammensetzung des
neuen Zentralkomitees, in das auch je drei Vertreter jeder Plattform
gewählt wurden. Für mich, eigentlich nur Gast des Parteitags, war die
Wahl ins ZK eine riesige Überraschung, eine zwiespältige überdies: Sie
nährte die Hoffnung, diese Stellung irgendwie nutzen zu können (was sich
als unrealistisch erwies), aber auch die Befürchtung, von der Maschine
verschlungen zu werden (die zerfiel jedoch bereits). Bedeutsam war der
Parteitag wahrscheinlich nur, weil er die Widersprüche der KPdSU klar
offenbarte.
Widerspruch 1: Just da sich in der KPdSU Demokratie und Freiheit des
Wortes durchzusetzen begannen, war die Partei geschwächt wie nie zuvor.
Ihr Tod ließ nicht mehr lange auf sich warten. Viele Kritiker der
Perestroika folgern daraus, dass die Demokratisierung der Tod der KPdSU
und des ganzen Landes war. Tatsächlich aber war die bürokratische
Entartung der KPdSU 1990 bereits so weit fortgeschritten, dass partielle
Reformen von oben nicht mehr halfen. Notwendig wären radikale
Veränderungen der Partei und des ganzen Gesellschaftssystems gewesen.
Widerspruch 2: Formal streng zentralisiert und »geschlossen«,
erwies sich die KPdSU 1990 real als Konglomerat entgegengesetzter
Interessengruppen und Ideologien.
Widerspruch 3: Die Geschichte der KPdSU nach Lenin war durch die
Unterordnung der »einfachen« Kommunisten unter die Führung geprägt.
Diese nahm unter Stalin, Nikita Chruschtschow, Breshnew unterschiedliche
Formen an, blieb im Wesen jedoch unverändert. Die Perestroika brachte
diese Pyramide ins Wanken. Die »unteren Schichten« waren zu
selbstständigen Aktionen nicht fähig und bereit, es fehlte ihnen am
Bewusstsein ihrer grundlegenden Interessen. Vor allem diesen Widerspruch
zwischen dem Wunsch eines bedeutenden Teils der Parteimitglieder, das
Leben zum Besseren (Sozialistischen!) zu verändern, und der fehlenden
Bereitschaft zu gemeinsamen Aktionen brachte der Parteitag ans
Tageslicht. Doch lösen konnte er ihn nicht. Als es zum
organisatorisch-politischen Kampf kam, ordneten sich alle - wie früher -
der Führung unter, die das Schicksal des Landes in den Wandelgängen
entschied.
* Der Autor ist Professor am Lehrstuhl für politische Ökonomie der
Moskauer Universität und Chefredakteur des Journals »Alternatiwy«
(www.alternativy.ru).
Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2010
ZEITungs-Schau 1990
Es ging um Sein oder Nichtsein der UdSSR
Der 28. Parteitag der KPdSU sollte sich als ihr letzter erweisen **
Vom 2. bis 13. Juli 1990 tagte im Kongresspalast des Moskauer Kreml der
28. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Es
sollte der letzte in der Reihe der Kongresse werden, deren Zählung mit
dem Gründungsparteitag der SDAPR 1898 begonnen hatte.
Das Moskauer Kaufmannshaus aus dem 19. Jahrhundert, in Weiß und hellem
Türkis getüncht, duckt sich unter der sengenden Sonne. Drinnen ist es so
gemütlich wie in einem Tiefkühlfach. Gennadi Selesnjow, einer der
Delegierten des historischen 28. Parteitags der KPdSU, später
Parlamentschef und jetzt Aufsichtsratsvorsitzender der MOSOBLBANK, hat
die Klimaanlage aufgedreht und anfangs Mühe, sich an »diese weit
zurückliegenden Zeiten« zu erinnern.
»Es war der stürmischste Parteitag, den wir je hatten«, sagt er dann. Am
deutlichsten habe sich ihm der Schlagabtausch zwischen Michail
Gorbatschow, dem Architekten von Perestroika und Glasnost, und Jegor
Ligatschow, Wortführer des konservativen Flügels, eingeprägt: »Nie zuvor
sind sich Politbüromitglieder öffentlich an die Gurgel gegangen. Auf dem
Parteitag dagegen...« Beide hätten zwar auf persönliche Beleidigungen
verzichtet, in der Sache dem anderen aber nichts erspart. »Nur darum
drehte sich auch die Diskussion auf den Korridoren und in den
Raucherecken. Alle waren gespannt, wer daraus als Sieger hervorgehen
wird«, erinnert sich Selesnjow. Zwar habe Gorbatschow schon bei der
Auswahl der Delegierten Vorsorge getroffen: Die meisten waren junge
Leute wie Selesnjow, die an Gorbatschow und den Erfolg seiner Reformen
glaubten. Ligatschow dagegen habe auf die kampferprobte alte Garde
gesetzt - und verloren.
Rechte Freude kam bei den Siegern dennoch nicht auf. »Die Zukunft hing
wie eine Gewitterwolke über uns«, sagt Selesnjow. In der Tat:
Gorbatschow sah die Partei »vor schwersten Aufgaben«, lösbar nur durch
die Perestroika, die er eine »zweite Oktoberrevolution« nannte. Eben
deren Ergebnisse, argwöhnten die Konservativen, sollten kassiert werden.
Durch Demokratie und Marktwirtschaft, wenn auch mit sozialer Komponente.
Komsomolfunktionäre wie Michail Chodorkowski durften in Kooperativen
schon Kapitalismus spielen.
Schlangen vor den Zeitungskiosken
Die fünf Jahre Umbau, die dem Parteitag vorausgegangen waren, seien die
schönsten, zugleich aber die tragischsten in der Geschichte der
Sowjetunion gewesen, erinnert sich Alexander Busgalin, damals
Mitbegründer der »Marxistischen Plattform«, einer der Fraktionen, die
sich in der KPdSU gebildet hatten. Selesnjow will sich keiner davon
angeschlossen haben, er habe sie lieber beobachtet und versucht, »sie
alle ausführlich zu Wort kommen zu lassen«. Denn er war bis 1988
Chefredakteur der »Komsomolskaja Prawda«, einer Vorreiterin von Glasnost
und Perestroika. »Wir schrieben über alles und redeten über alles. Offen
und ohne Tabus.«
Trotz Rekordauflage war seine »Komsomolka« stets schnell vergriffen.
»Wenn die Kioske früh um sechs aufmachten, standen die Leute schon
Schlange.«
Schlangen standen auch vor den Lebensmittelgeschäften. Der Verfall der
Erdölpreise hatte die Sowjetunion in eine schwere Wirtschaftskrise
gestürzt. Selesnjow glaubte dennoch lange an Gorbatschow und die neuen
Ideen. »Wir lebten in Euphorie und glaubten, dass alles möglich sei.
Auch Modernisierung und Erneuerung des Systems, nicht nur des Überbaus,
sondern der Basis. Wir waren technologisch weit zurückgeblieben,
geforscht und entwickelt aber wurde vor allem für die Verteidigung. Und
die gibt dem Staatshaushalt nichts, sie nimmt nur.«
Gesprochen habe niemand von Krise, »aber jeder spürte sie und ahnte,
dass es nur eine Möglichkeit gibt: Umverteilung der Ressourcen, was auch
eine andere Außen- und Sicherheitspolitik erfordert hätte. Über
Absichtserklärungen kam die Partei damals jedoch nicht hinaus. Genauso
wie heute Dmitri Medwedjew mit seinen Plänen, Russland zu modernisieren
und zum Land der Träume zu machen.«
Hat die Demokratisierung die KPdSU zerstört? Sie war 1990 bereits ein
Sammelbecken höchst unterschiedlicher Strömungen. Bei Versuchen, aus dem
Sammelbecken einen Schmelztiegel zu machen, scheiterte die Parteiführung
jedoch. Die Folge: Der Parteitag konnte sich nur zu amorphen
Abschlussdokumenten aufraffen, aus denen sich jeder das Passende
heraussuchte. Und im neuen Zentralkomitee, dem auch Selesnjow angehörte,
sorgte der Flügelkampf für eine Pattsituation. Gorbatschow, meint
Selesnjow, sei nicht nur an objektiven Zwängen, sondern auch an seiner
Umgebung gescheitert. »Umbau bedeutet immer auch Teilabriss, und das
wollten viele nicht«. Weil sie sich komfortabel eingerichtet hatten und
den Verlust von Amt und Pfründen fürchteten. »Es gab daher eine mächtige
Fraktion, die seine Wiederwahl verhindern wollte.« Von »Sabotage« würde
er jedoch nicht reden wollen. »Eher von Unverständnis für das Wesen von
Gorbatschows Plänen und für den Ernst der Lage.«
Diskussionen über den Führungsanspruch
Zur Diskussion stand nicht mehr nur die Abschaffung der Planwirtschaft,
die Selesnjow unter Verweis auf Japans Erfolge ohnehin für überflüssig
hielt, sondern Sein oder Nichtsein der UdSSR. Schon damals, ein Jahr vor
dem neuen Unionsvertrag, mit dem Gorbatschow die UdSSR retten wollte,
für deren Erhalt sich im März 1991 eine große Mehrheit per Referendum
aussprach, sei eine Konföderation diskutiert worden, deren Zentrum nur
noch ein Minimum an Kompetenzen haben sollte, sagt Selesnjow. Damit
seien »im Prinzip« sogar die baltischen Republiken einverstanden
gewesen. Gorbatschow habe jedoch bei vielen Delegierten »Unverständnis
oder gar unverhüllte Ablehnung« geerntet.
Ähnlich brannte die Luft, als es um die Modifizierung von Artikel 6 der
Verfassung ging, der die führende Rolle der KPdSU festschrieb. Die
Partei, so Gorbatschow, dürfe der Gesellschaft ihre Avantgarderolle
nicht aufzwingen, sondern müsse sie sich erkämpfen. »Viele hatten
dennoch Angst, dass die Partei im Konkurrenzkampf mit anderen Kräften
untergeht und die Union mit sich reißt«, sagt Selesnjow. Auch viele
einfache Menschen, die in der KPdSU die Garantie für ihren bescheidenen
Wohlstand sahen, erklärten sich steigende Preise oder Verzögerungen bei
der Zahlung von Löhnen und Renten mit der Schwächung der Partei. Die
Massen, formuliert der Marxist Busgalin, seien damals nicht bereit
gewesen, »jene aktive Rolle zu übernehmen, die für das Gelingen
radikaler Reformen unerlässlich gewese wäre«. Der Parteitag habe die
Widersprüche nicht lösen können.
An ihnen krankt auch die russische Nachfolgerin der Partei, die
Kommunistische Partei der Russischen Föderation, in der Gennadi Sjuganow
»die Macht usurpiert hat« und Reformer wie Selesnjow 2002 ausschloss.
Damit habe auch die »ideologische Degradierung« begonnen: »Ein Schritt
zurück, ein viertel Schritt nach vorn und jede Menge Ausweichmanöver
nach links und rechts. Wer gestalten will, muss jedoch in den Zug der
Zeit einsteigen und darf nicht auf dem Trittbrett mitfahren. Sonst kommt
er unter die Räder. Solange Sjuganow Chef ist, hat diese Partei keine
Perspektive, weil sie Junge entweder verschreckt oder verbiegt«, glaubt
Selesnjow.
Dessen Bemühungen um die Gründung einer neuen Linken aber scheiterten.
Vor allem an den rigiden Zulassungsbedingungen für Parteien. Derzeit,
sagt er, sei »kein aktives politische Leben in Russland möglich. Daher
habe ich eine Auszeit genommen. Poka!« Das Wort bedeutet zweierlei:
»Tschüss« und »Bis auf Weiteres«.
Wir danken RIA Nowosti für die Unterstützung bei der Kontaktaufnahme
mit Gennadi Selesnjow.
** Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2010
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