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"Der Sieg wirkt bis heute nach"

Gespräch. Mit Botschafter Wladimir Grinin. Über das Gedenken an die Befreiung Europas vom Faschismus im heutigen Russland und Versuche, die Geschichte umzuschreiben


Sie sind Jahrgang 1947, wurden also nach dem Sieg über den Faschismus geboren, der sich am 9. Mai zum 70. Mal jährt. Persönliche Erinnerungen an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion und seine Folgen können Sie somit nicht haben – aber über Ihre Familiengeschichte waren Sie wie die meisten Ihrer Landsleute indirekt betroffen. Haben Sie Verwandte in diesem Krieg verloren?

Zum Glück gab es im engsten Kreis keine Gefallenen oder Ermordeten. Aber mein Vater und mein Schwiegervater haben den ganzen Krieg durchgemacht. Mein Vater war die meiste Zeit über im Kaukasus, der Schwiegervater war zunächst in der Mongolei eingesetzt, sein Weg führte ihn dann über Stalingrad nach Wien. Meine Großmutter war zur Sicherung der Verteidigungsanlagen um Moskau herum einberufen worden – in Naro-Fominsk, wo sehr schwere Kämpfe stattgefunden haben. Sie hat uns immer erzählt, wie viele Leichen sie dort gesehen hat, sowohl sowjetische als auch deutsche Soldaten. Vom Krieg waren wir ziemlich stark betroffen.

Haben Ihre Eltern zu Hause in Moskau offen über dieses Thema gesprochen?

Ja, absolut. Besonders bei Familienfeiern, beim Essen in entspannter Atmosphäre wurden Erinnerungen an bestimmte Ereignisse ausgetauscht.

Wie hat der faschistische Überfall Ihr Deutschlandbild in Ihrer Kindheit und Jugend geprägt?

Bei uns war es so, dass selbst in der Schule und in der Berichterstattung in den Medien deutlich getrennt wurde zwischen den Nazis und den Deutschen. Man hat immer betont, dass die faschistische Ideologie absolut inakzeptabel ist und das mit entsprechenden Beispielen illustriert. Aber was das deutsche Volk betrifft und die früheren Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, so war die Darstellung immer positiv. Jeder wusste, dass Katharina die Große eine Deutsche war, dass es am Zarenhof viel Verwandtschaft mit Deutschen gab. Für uns war klar: Die Faschisten und die Deutschen sind nicht identisch.

Welche Bedeutung hat der 9. Mai heute in der Russischen Föderation?

Also dieser Tag ist für uns natürlich ein Feier- und zugleich ein Gedenktag. Wir haben 27 Millionen Menschen verloren. Das verpflichtet. Im April gab es in Berlin eine Buchpräsentation mit Paavo Lipponen. Er war von 1995 bis 2003 finnischer Premierminister und danach Parlamentspräsident bis 2007. Ich kenne ihn sehr gut aus der Zeit, als ich dort Botschafter war. In seinem Buch gibt es eine interessante Passage, in der es heißt: Der Große Vaterländische Krieg hat die russische Identität geprägt. Das stimmt. Tatsächlich hat der Sieg in diesem Krieg das Bewusstsein des Sowjetvolkes sehr stark geprägt. Und das wirkt bis heute nach.

Wie wird die Erinnerung an das historische Geschehen in Russland wachgehalten? Welche Rolle spielt das Gedenken im Schulunterricht?

Ich konnte leider nicht intensiv verfolgen, ob die Geschichte heute noch so behandelt wird, wie es früher der Fall gewesen ist. Es gibt derzeit in Russland kurioserweise kein einheitliches historisches Lehrbuch. Aber mein Eindruck ist, dass die Jugendlichen diesen Großen Vaterländischen Krieg nach wie vor in dem Sinne wahrnehmen, wie es früher der Fall war – obwohl natürlich die Kenntnisse geringer geworden sind. Leider.

Es gibt ein Dekret aus dem Jahr 2009, erlassen noch unter Präsident Dmitri Medwedew, das die historische Wahrheit, unter anderem über den Zweiten Weltkrieg, gegen Fälschungen verteidigen soll. Findet es Anwendung?

Durchaus. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Etablierung eines anderen politischen Systems in der Russischen Föderation und in anderen Ländern gibt es eine wesentlich größere Meinungsvielfalt als zuvor. Es tauchten plötzlich Geschichtsschreiber auf, die ein vollkommen anderes Bild vermitteln wollten. Ich kann mich an ganz konkrete Persönlichkeiten erinnern, mit denen sehr intensiv in der Öffentlichkeit debattiert wurde. Um sie ist es inzwischen viel stiller geworden. Die dominierenden Positionen zur Kriegsgeschichte sind jetzt ungefähr diejenigen der Sowjetunion. Wenn man sie wirklich las, konnte man feststellen, dass die Geschichtsbücher in der UdSSR sich nicht auf ein einheitliches Konzept konzentrierten. Da gab es mitunter recht unterschiedliche Meinungen, auch in den Autobiographien berühmter Armeeführer, von Baghramjan bis Schukow.

Noch einmal zu den Veteranen, den Überlebenden des Kriegsgeschehens. Von ihnen leben heute in der Föderation noch über 2,5 Millionen. Deren prekäre materielle Lage war eine Zeitlang Thema in den westlichen Medien ...

In den neunziger Jahren waren alle sehr stark getroffen von der schlechten ökonomischen Situation, und die Veteranen bildeten da keine Ausnahme. Das ist heute vollkommen anders. Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen und Zufällen, die es immer gibt, kann ich sagen, dass sich ihre Lage sehr verbessert hat. Die Veteranen bekommen zusätzliche Auszahlungen zu ihren Renten, können kostenlos öffentliche Transportmittel benutzen. Und zu den großen Feiertagen wie dem 70. Jahrestag des Sieges werden sie mit Medaillen und Orden geehrt und erhalten eine einmalige Sonderzahlung. Meine Mutter rief mich an und erzählte mir erfreut von ihrer Prämie.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gedenkpolitik zwischen der Russischen Föderation und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion?

Da sind in jüngster Zeit manche Traditionen wiederbelebt worden. Man hat beispielsweise ein gemeinsames Konzept, einen Plan für die Feierlichkeiten am 9. Mai ausgearbeitet. In Deutschland haben sich alle Botschafter der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, zusammengetan und einheitliche Einladungen zu den Kranzniederlegungen und zum Empfang in der Botschaft Russlands versandt.

Die Liste umfasst allerdings nicht alle Länder der Sowjetunion, es fehlen die Ukraine und Georgien, aber auch die baltischen Staaten.

Ja, das stimmt. Die Gründe brauche ich, aus meiner Sicht, kaum zu erklären.

Sie haben den politischen Umbruch 1989/90 in Berlin erlebt, wo Sie als Botschaftsrat tätig waren. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Als ich 1986 das Botschaftsgebäude verließ und Richtung Bahnhof Friedrichstraße ging, standen auf der anderen Seite der Spree noch Kriegsruinen. Ein Jahr später verschwanden die dann zur 750-Jahr-Feier Berlins, dazu hat man noch das Nikolaiviertel und anderes gebaut. Als es in der Sowjetunion mit der Perestroika begonnen hat, fand das hier ein gewisses Echo. Ich kann mich an sehr große Demonstrationen in Berlin erinnern. Man hat damals mehr Demokratie in der DDR gefordert. Und bald darauf gab es riesige Kundgebungen im Zentrum der Stadt. Dort hat man aber, wenn ich mich richtig erinnere, nicht die Wiedervereinigung, sondern eine Demokratisierung der DDR gefordert, die parallele Existenz beider deutscher Staaten. Erst später kam es zu den Demonstrationen in Leipzig, wo dann anderes gefordert wurde …

… wo aus »Wir sind das Volk« die Parole »Wir sind ein Volk« wurde und die Währungsdebatte aufkam ...

Ja. Und es war die sowjetische Führung, die diese Vereinigung in gewissem Sinne erst ermöglicht hat. Hätte Gorbatschow damals nein gesagt, wäre es dazu nicht gekommen. Aber uns war wichtig, dass das im Rahmen der Schaffung einer neuen europäischen Ordnung geschieht. Nach dem Ende des Kalten Krieges wollten wir ein System der unteilbaren Sicherheit in Europa etablieren, das all seinen Mitgliedern, darunter auch der damaligen Sowjetunion, gleiche Rechte in Sachen Sicherheit garantierte, Konfrontationen und Krieg ausschloss. Das war unser Ziel. Die Vereinigung Deutschlands sollte in dieses Konzept eingebunden sein, möglicherweise zunächst in Gestalt einer Konföderation, die dann in ein gemeinsames Gebilde hinüberwächst – allerdings am Ende des Prozesses der Schaffung eines neuen Sicherheitssystems.

Entsprechendes wurde vom Westen ja auch mehrfach in Aussicht gestellt. Da gab es etwa im Juni 1990 das NATO-Außenministertreffen im schottischen Turnberry mit dem Ergebnis eines Neun-Punkte-Programms für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – und weiterer Versprechen. Das ist heute in Vergessenheit geraten. Jetzt heißt es, die Osterweiterung der NATO sei kein Thema gewesen, jedenfalls wurde das nicht in Verträgen fixiert.

Das ist zugegebenermaßen nicht passiert, zumindest nicht schriftlich. Mit Ausnahme des Zwei-plus-vier-Vertrages, wo diese Verpflichtungen indirekt festgelegt wurden. Sie existieren allerdings als Gesprächsnotizen. In Archiven sind sie erhalten, ich habe dort selbst dazu recherchiert. Und man hat uns wirklich versprochen, die NATO nicht zu erweitern. Man wollte das Bündnis zwar nicht auflösen, aber umbilden, neu strukturieren. Aber dazu ist es ebenfalls nicht gekommen.

Im Zwei-plus-vier-Vertrag über die »abschließende Regelung in bezug auf Deutschland« steht geschrieben, dass es keine größere Konzentration der Streitkräfte in den östlichen Bundesländern geben darf. Das ist dort festgehalten, mehr nicht. Damals hat man überhaupt nicht daran gedacht, dass Polen oder andere Staaten den Warschauer Vertrag verlassen und Mitglieder der NATO werden.

Am 9. November 1990 wurde ein Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion über gutnachbarschaftliche Beziehungen, Partnerschaft und Zusammenarbeit geschlossen. Wie beurteilen Sie vom heutigen Standpunkt, was aus den damaligen Vereinbarungen geworden ist?

Als ich 2010 wieder nach Deutschland kam, war ich erfreut über den Stand der Beziehungen, den wir erreicht hatten. Es ging wirklich um Partnerschaft, sogar um eine strategische. Man wollte dann ein »Modernisierungsbündnis« ausbauen und so weiter. Aber Ende 2013 ist leider alles zum Stillstand gekommen, und 2014 hat man begonnen, das zu ruinieren, was aufgebaut worden war. Nach der Einführung der Sanktionen hat man all die Strukturen eingefroren, die diese Partnerschaft verkörperten oder sie stimulierten. Vor allem solche Dinge wie die Regierungskonsultationen, die alljährlich unter Beteiligung der russischen und deutschen Staatsführung stattfanden. Es gab strategische Arbeitsgruppen, von denen eine sich mit Sicherheitspolitik beschäftigte, die andere mit Wirtschaft und Finanzen. Beide sind auf Eis gelegt und funktionieren nicht mehr. Besonders im ökonomischen Bereich tauchen sehr viele Fragen auf, auch solche, die sehr wichtig oder problematisch sind für deutsche Unternehmen, die auf dem russischen Markt aktiv sind.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bleibt den Feiern zum 70. Jahrestag des Weltkriegsendes am 9. Mai in Moskau wegen der Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt fern. Welches politische Signal geht Ihrer Meinung nach von dieser Entscheidung aus?

Zum gemeinsamen Gedenken mit dem russischen Präsidenten kommt die Bundeskanzlerin am 10. Mai nach Moskau. Diese Entscheidung respektieren wir.

In der deutschen Politik hört man immer wieder Äußerungen wie: Wenn überhaupt von Befreiung die Rede ist, dann sei sie für die Ostdeutschen 1990 gekommen. Wie bewerten Sie diese Art der Geschichtsbetrachtung?

Bedauerlicherweise handelt es sich dabei bei weitem nicht um das einzige Beispiel dafür, wie man versucht, die Geschichte umzuschreiben und für bestimmte politische Kalküle zu instrumentalisieren.

In der Ukraine sitzen Faschisten im Nationalparlament, in baltischen Ländern werden SS-Veteranen als Helden gefeiert und dürfen, vom Staat geschützt, durch die Straßen der Hauptstädte Riga, Vilnius und Tallin marschieren. Sehen Sie die Gefahr, dass es auch in Westeuropa zu ähnlichen Entwicklungen kommen kann?

Ich maße es mir nicht an zu sagen, dass eine solche Gefahr dem westlichen Europa droht. An dieser Stelle komme ich aber nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass Westeuropa einfach die Augen verschließt vor all dem, was – wie Sie zu Recht auf den Punkt brachten – in der Ukraine und den baltischen Ländern geschieht. Hinzufügen kann ich, dass in den baltischen Staaten, besonders in Estland und Lettland, sehr viele Russen leben, die zum großen Teil um ganz normale Menschenrechte gebracht und nach wie vor als »Nichtbürger« bezeichnet werden. Fühlen Sie sich dadurch nicht an etwas erinnert? Auch das spricht niemand im Westen an. Dafür werden durch die eigene und zugunsten jener Regierungen arbeitende Propaganda Gerüchte gestreut, der Kreml beabsichtige, mit Hilfe der russischen Diaspora diese Länder zu destabilisieren. Nun seien sie »Frontstaaten«. Dank einer solchen Propaganda haben sie sich von ihrer marginalen Position in der EU und der NATO verabschiedet und genießen nun die Fürsorge und den Zuspruch ihrer westlichen Gönner.

Im März lud die Rodina-Partei Vertreter vom äußersten rechten Rand aus ganz Europa zu einer Konferenz nach Petersburg. Wie bewerten Sie dieses Treffen, und wie konnte es überhaupt zustande kommen?

Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Forum in keinerlei Verbindung mit dem Kreml gebracht werden kann. Russland ist eine pluralistische Gesellschaft. Wenn jemand glaubt, jede Konferenz brauche eine Genehmigung aus Moskau, dann kann ich dieser Einschränkung von Freiheiten, die das bedeutete, schwer zustimmen.

Zu jenem Forum kamen Vertreter legaler politischer Parteien der jeweiligen Länder zusammen. Mit ihnen haben wir es mit einem Produkt des demokratischen Systems zu tun, das diese Art von politischen Kräften in den USA, Europa oder Russland möglich macht. Und was den Inhalt der Tagung anbelangt, so würde ich sie persönlich als eine Antwort auf ultraliberale Übergriffe der letzten Zeit betrachten. Das Forum hat stattgefunden. Manche haben dort Gleichgesinnte gefunden, manche haben eingesehen, dass dieses Spektrum ihnen fremd ist.

Wladimir Grinin ist seit Juli 2010 Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik. Seit 1971 im diplomatischen Dienst, zeitweise in der DDR, hatte er dieses Amt in Österreich (1996 bis 2000), Finnland (2003 bis 2006) und Polen (2006­ bis 2010) inne. Von 2000 bis 2003 war er Generalsekretär des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation. Grinin stammt aus Moskau und studierte dort am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO).

Interview: Stefan Huth

* Aus: junge Welt, Samstag, 9. Mai 2015


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