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Feuer löschen

Gabriele Krone-Schmalz setzt in ihrem neuen Buch »Russland verstehen« Vernunft gegen Hysterie

Von Tobias Riegel *

Im Zusammenhang mit dem Mord am russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow laufen viele deutsche Journalisten zur investigativen Hochform auf. Sie bezweifeln öffentliche Mitteilungen, wühlen nach Informanten und haben einen hochgradigen, gesunden Skeptizismus entwickelt. Wie man das von echten Journalisten erwartet, fordern sie lückenlose Aufklärung, misstrauen den schnellen, offiziellen Deutungsversuchen. Auch wenn hie und da etwas fatalistisch festgestellt wird, dass man einer Aufklärung, die nicht Putin als Auftraggeber feststellt, ohnehin nicht glauben wird - insgesamt ist dies genau das Verhalten, das man von Journalisten nach einem politischen Mord erwartet. Um so fragwürdiger erscheint angesichts dieses aufklärerischen Aktivismus die mediale Untätigkeit, wenn die »Verdächtigen« nicht in Moskau, sondern in Kiew sitzen - selbst wenn es um Dutzende Ermordete geht, wie etwa bei den Massakern vom Maidan oder wenig später in Odessa. Man stelle sich zudem den ungläubigen Aufschrei vor, wenn die Russen nur Stunden nach dem Attentat den Täter-Personalausweis und zwei tote »Schützen« präsentiert hätten. Die Behörden in Paris oder New York genießen einen Vertrauensvorschuss, von dem die russischen nur träumen können.

Diesem Vertrauens-Ungleichgewicht bei der Betrachtung »des Westens« bzw. Russlands versucht Gabriele Krone-Schmalz in ihrem neuen Buch beizukommen. Doch der Text wird viele enttäuschen - und ist gerade deshalb empfehlenswert. Denn »Russland verstehen - Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens« ist eben nicht »mit Feuer geschrieben«, wie die »Süddeutsche Zeitung« in ihrer Rezension sagt. Es ist - im Gegenteil - mit dem offensichtlichen Anspruch verfasst, Feuer aus dem Konflikt herauszunehmen. Jenes Feuer, das Politiker und allzu forsche Journalisten seit Monaten mit Verve schüren. Die langjährige ARD-Russlandkorrespondentin Krone-Schmalz erfüllt diesen eigenen Anspruch. Dem auf Emotionen zielenden Zündeln einiger Massenmedien setzt die selbst ernannte »Russlandversteherin« die Wissenschaft entgegen: die Geschichtswissenschaft. Und so werden sich auf den 170 Seiten keine der beiden Fronten der Maidan-Schlacht eins zu eins bestätigt fühlen - auch wenn die Autorin Russland als klar reagierend und nicht als den eigentlichen Aggressor in der Krise beschreibt.

Der Buchteil, der sich mit den tagesaktuellen Vorgängen im Ukraine-Krieg beschäftigt, ist kurz gehalten - was vielen Heißspornen beider Seiten ebenfalls nicht passen wird, die die Atemlosigkeit des Kriegsgeschehens für ihre unbewiesenen Behauptungen brauchen. Die Autorin zieht keine Folgerungen aus dem Nebel der NATO- oder Russen-Propaganda. Sie ist, welche Wohltat im Vergleich zur täglichen Ukraine-Berichterstattung, zurückhaltend mit Schuldzuweisungen - auch wenn sie die Fehler »des Westens« klar benennt und diese auch für eindeutig gravierender hält als die der russischen Seite. Der bescheinigt sie historisch hergeleitet das Recht auf Selbstverteidigung, hält sich aber auch mit Kritik an Putins Politik nicht zurück. Diese versucht sie zu verstehen. Dass das nicht gleichbedeutend mit »gutheißen« ist, ist selbstverständlich - muss in diesen verrückten Zeiten aber selbst in einem solch schmalen Band mehrmals betont werden.

Was will Putin wirklich? Die Lieblingsfrage der Russenfeinde wird hier teilweise beantwortet. Krone-Schmalz analysiert zumindest schlüssig, was Putin nicht will: Er will kein Milliardengrab in der Ostukraine annektieren, er will nicht nach Warschau marschieren, er möchte aber auch keine NATO-Truppen an der Landesgrenze. Die Autorin leugnet nicht die Unterstützung der Rebellen durch Russland. Aber sie sieht in der Ostukraine die Rebellen kämpfen, nicht die russische Armee. Und ist nicht jede Militärhilfe für den Osten eine Reaktion auf den von Kiew begonnenen Krieg? Die Bombardierung von Großstädten auf Befehl Petro Poroschenkos machte Verhandlungen über einen föderalen Status innerhalb der Ukraine unmöglich. Es ist fast in Vergessenheit geraten - aber bis zum »Anti-Terror«-Krieg wollten die »Separatisten« sich gar nicht »separieren«.

Ein zentraler Punkt im Ukraine-Konflikt, zum Verständnis der Kremlführung und so auch im Buch, ist die Einkreisung Russlands durch das feindliche Militärbündnis NATO. Die stetige Annäherung dieser größten Kriegsmaschine der Menschheitsgeschichte an Russland seit 1990 ist nach einem kurzen Blick auf die Landkarte nicht zu bestreiten. Dennoch wird ihre Bedeutung in vielen Medien bis zur Unkenntlichkeit relativiert. Viele Politiker stehen dieser unredlichen Praxis kaum nach - auch wenn die wahren Extremisten im Falle der Ukraine eher in den großen Redaktionen als in den Parlamenten zu finden sind. Ausnahmen wie Rebecca Harms, Elmar Brok oder einige ihrer US-Kollegen bestätigen diese Regel.

Dass es möglich ist, historische Fakten wie die auf Wortbruch basierende NATO-Osterweiterung durch eine emotional-ideologische Rhetorik zu verschleiern, macht Krone-Schmalz’ Buch so wichtig. Nicht nur ruft sie den eindeutigen Expansions-Verzicht der NATO in Erinnerung. Sie zeichnet zudem detailliert und ohne jedes »Feuer« jene Umbrüche nach, die das Riesenland seit 1990 durchgeschüttelt haben, und die der Grund für viele heutige Defizite sind. »Drei Revolutionen« beschreibt sie: von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, von der Diktatur der Kommunistischen Partei zu rechtsstaatlichen Strukturen, von der Sowjetunion zum Nationalstaat. Sie erwähnt die Doppelstandards. Was »der Westen« bei Jelzin bejubelte, wird bei Putin zum Verbrechen. Entwicklungen, für die sich westliche Gesellschaften einige Jahrzehnte Zeit nahmen, setzten deren Führer in Russland mit Hilfe von IWF-Erpressungen praktisch über Nacht durch. Was auf dem Maidan noch bejubelt wurde, wird in der Ostukraine mit Panzern bekämpft. Länder, die noch gestern das Völkerrecht mit Füßen traten, weinen nun Krokodilstränen wegen der Krim.

»Die Ukraine brauchte Geld, der Westen redete von Werten.« So kurz und einfach kann praktische Geopolitik ausgedrückt werden. Krone-Schmalz bringt die Sollbruchstelle der Ukraine auf den Punkt: Wer sich die Bevölkerungsstruktur der Ukraine und die symbolische und militärische Bedeutung der Krim für Russland bewusst machte, den können die furchtbaren Folgen der massiven westlichen Einmischung nicht überrascht haben. »Was Putin auf der Krim getan hat, war Notwehr unter Zeitdruck.« Das ist noch so ein Krone-Schmalz-Satz mit Durchschlagskraft. Die Autorin ruft zudem in Erinnerung, was heute keiner mehr sagt: Janukowitsch hat das EU-Abkommen nicht verweigert - die EU hat in letzter Sekunde Extraforderungen wie die Freilassung Timoschenkos gestellt, erst dann hat der gewählte Präsident eines souveränen Staates von dem Vertrag Abstand genommen. Das inzwischen angenommene EU-Abkommen zwingt die Ukraine zu massivem Sozialabbau - das russische Angebot enthielt solche Zwänge nicht, sondern bot der Ukraine fast bedingungslos 15 Milliarden Dollar.

Ohne den Maidan-Putsch wäre die Ukraine jetzt also ein funktionierender, zahlungsfähiger Staat. Kein Mensch wäre gestorben. Die Renten würden nicht gekürzt, die privaten Energiepreise nicht durch EU-Zwang vervielfacht, das Land stünde nicht unter IWF-Diktat. Reguläre Wahlen hätten mittlerweile stattgefunden. Die EU-Freunde hätten aber in diesem Wahlkampf für ihre Sache (Sozialabbau und Privatisierung) werben müssen. Stattdessen griffen sie zum Knüppel - und weckten dadurch in der Ostukraine echte Ängste. Wer diese Ängste als reinen Propaganda-Spuk abtut, hat nicht die maskierten Schläger auf dem Maidan gesehen, der hat nichts vom niedergebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa gehört. »Es geht völlig an der Realität vorbei, wenn man behauptet, der Aufstand in der Ostukraine sei ausschließlich das Werk russischer Agenten, die eine ansonsten einige Ukraine von außen destabilisiert hätten«, so Krone-Schmalz.

Die Autorin schaut genau hin, um nicht zu sagen penibel - eben so, wie das eine Journalistin tun sollte, und wie es die westlichen Kollegen aktuell in Moskau tun. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass einige der größtenteils wütenden und polemischen Rezensenten Krone-Schmalz Erbsenzählerei vorwerfen: »Akribisch verzeichnet sie, in welcher Ausgabe der ›Tagesschau‹ welchen Datums von ›prorussischem Mob‹ die Rede war«, beschwert sich etwa der »Deutschlandfunk« über eine Tugend, die doch eigentlich Berufsvoraussetzung ist.

»Medien sollen Politik erklären und keine machen«, ist Krone-Schmalz’ Credo. Doch so erholsam ihr redlicher, zurückhaltender Stil auch ist. Es ist zu fragen, ob dies die Art Buch für die Zeit ist. Denn die Autorin fordert mit dem Florett bewaffnet »sprachliche Präzision« ein - während um sie herum mit der verbalen Panzerfaust operiert wird. Sie hält sich an die Fakten oder stellt Fragen - in Zeiten, in denen Tatsachen zur Nachrichtenproduktion oft nicht mehr nötig scheinen. Zeiten, in denen die »Welt« auf Krone-Schmalz’ Zweifel am demokratischen Charakter des Maidan-Aufstands antwortet: »So wurde Janukowitsch nicht gestürzt, sondern er war mit seinem Milliardenvermögen nach Russland geflohen.«

Doch selbst wenn ihre Vernunft an der russenfeindlichen Brandmauer vieler Journalisten abprallt - Krone-Schmalz beweist durch das Buch und das Hinabsteigen in Talkshows mit Titeln wie »Zar Wladimir I. - Was will Putin wirklich?« Mut zur eigenen Meinung. Das findet hoffentlich Nachahmer. Denn die Kritik an der herbeigehetzten Konfrontation mit Russland braucht noch mehr solcher Kronzeugen von Format.

Gabriele Krone-Schmalz: »Russland verstehen - Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens«, C. H. Beck, 176 S., brosch., 14,95 €.

*Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. März 2015


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