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Der Feind im Osten

Vorabdruck. Der wiedererwachte Hass auf den "Iwan" hat in Deutschland eine lange Tradition. Besonders menschenverachtend war das Russlandbild zur Zeit des Faschismus

Von Manfred Weißbecker *

In den nächsten Tagen erscheint das neue Heft der Zweimonatszeitschrift Marxistische Blätter. Schwerpunkt der Nummer 3/2015 ist der 8. Mai 1945. junge Welt veröffentlicht daraus vorab in gekürzter Fassung den Aufsatz von Manfred Weißbecker, der dort unter dem Titel »Russlandbilder des deutschen Faschismus – auferstehend aus Ruinen?« erscheint. Der Text bildete die Grundlage für einen Vortrag bei der Veranstaltung der Marx-Engels-Stiftung am 18. April 2015 in Düsseldorf zum Thema »Der Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit den Tätern und Opfern des Naziregimes«. Die Marxistischen Blätter können unter info@neue-impulse-verlag.de bestellt werden. (jW)

Sich mit der langen Geschichte deutscher Russlandbilder zu befassen und dabei insbesondere die des deutschen Faschismus in Erinnerung zu rufen – das gebietet der kritische Blick auf einige neue Erscheinungen in den Krisen und Kriegen unserer Zeit sowie in der gegenwärtig betriebenen bundesdeutschen Außen- und Militärpolitik. Noch mehr scheint dies erforderlich zu sein, betrachtet man die sogenannte Erinnerungskultur der Bundesrepublik, deren Grundzüge sich auch im zwielichtigen, teils auch erschreckend niveaulosen Umgang mit dem »Tag der Befreiung« und seiner 70. Wiederkehr offenbaren. (…)

Vieles in den Auseinandersetzungen der Welt von heute rankt sich um den Platz, den Russland in ihr einnimmt oder einnehmen sollte. In diesem Zusammenhang lässt sich ein ängstigend hohes Maß an wiederkehrender Russophobie feststellen, eingebettet in ein teilweise irrationale Züge annehmendes Dämonisieren des russischen Präsidenten Wladimir Putin sowie in cholerische Frontstellungen zu denjenigen, die sich als sogenannte Putin-Versteher diffamiert sehen. (…)

Hier hat sich eine Wende vollzogen, die sich durchaus mit der Tatsache vergleichen lässt, dass auch am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die lange Tradition des regen Austauschs und Miteinanders auf geistig-kultureller und wissenschaftlicher Ebene vergessen, zumindest in den Hintergrund gedrängt und aus dem »Zeitgeist« verbannt zu sein schien. Alle Russophilie fiel im damaligen Deutschen Reich – kurz gesagt – imperialistischen Bestrebungen und den Kriegswilligen zum Opfer. Der angestrebte »Platz an der Sonne« ließ sich nur auf Kosten anderer erreichen, und der Spruch vom »deutschen Wesen«, an dem die Welt genesen solle, ließ einen sich terroristisch und rassistisch färbenden Nationalismus erkennen, gerichtet insbesondere gen Osten. (…) »Super-Versailles« Brest-Litowsk

Im Blick darauf lassen sich Entwicklungstrends und Entfaltungslinien einer sich faschisierenden Russophobie erkennen. Als sich den Deutschen 1917/18 zudem Gelegenheit bot, in Brest-Litowsk dem besiegten und revolutionserschütterten Russland einen Frieden zu diktieren, machten sich unter deutschen Militärs und Politikern außerordentlich expansionistische und zugleich menschenfeindlich-unbarmherzige Herrschaftsgelüste breit. Russland verlor durch diesen Friedensvertrag 26 Prozent des damaligen europäischen Territoriums, 27 Prozent des anbaufähigen Landes, 26 Prozent des Eisenbahnnetzes, 33 der Textil- und 73 Prozent der Eisenindustrie sowie 73 Prozent der Kohlegruben. Alle abzutretenden Gebiete, die faktisch als deutsche Satellitenstaaten geformt und beherrscht wurden, umfassten insgesamt 1,42 Millionen Quadratkilometer, auf denen rund 60 Millionen Menschen lebten – mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung des einstigen Russischen Reichs. Die Dimensionen des im März 1918 abgeschlossenen Vertrags reichen übrigens weit hinaus über die des wesentlich bekannteren Versailler Vertrags, der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufgezwungen worden ist. Wenn eine These vieler Historiker lautet, der Versailles-Komplex habe dazu beigetragen, der NSDAP Massenanhang zu ermöglichen und sie an die Macht zu tragen, kann dem zugestimmt werden, vorausgesetzt man weiß um das »Super-Versailles« von Brest-Litowsk. Ludendorffs Pläne für das deutsche Friedensdiktat von 1917 umfassten sogar weit mehr als das schließlich Erreichte und zielten – vor Hitler also – auf ein deutsches Ostreich. Wäre sein Forderungskatalog durchsetzbar gewesen, hätte dies nach dem Urteil des Ludendorff-Biographen Manfred Nibelin nichts anderes »als die Errichtung der deutschen Herrschaft über Osteuropa« bedeutet.

Diese Ostpolitik jener Zeit offenbarte zudem noch anderes: Da wurde die sowjetrussische Forderung nach einem Frieden ohne Annexionen mit der These unterlaufen, es sei kein Landraub, würden sich russische Gebiete »freiwillig« dem Deutschen Reich anschließen. Ob aus eigenem Antrieb oder unter Zwang – das Verhalten gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten, insbesondere auch gegenüber den Juden blieb gleich. Was von deutschen Truppen in den damals als »Ober-Ost« bezeichneten Gebieten praktiziert worden ist – angestachelt auch durch antisemitische Äußerungen des deutschen Kaisers – gilt in vieler Hinsicht als ein »Vorspiel zum Holocaust«. Und ebenso entlarvend lautet die Begründung, mit denen ein Hindenburg 1917 die faktischen Annexionen rechtfertigte: Er sprach davon, sie seien notwendig, um »für den nächsten Krieg gegen Russland den Raum für die Bewegung des linken deutschen Flügels« sichern zu können.

»Deutsche Gutmütigkeit«

Das dieser Politik zugrunde liegende Russlandbild lässt sich nicht anders als präfaschistisch charakterisieren, in hohem Maße terroristisch und barbarisch-rassistisch. Daher verwundert es nicht, dass die NSDAP in den ersten Jahren ihrer Existenz den Vertrag von Brest-Litowsk als »vorbildlich« kennzeichnete. Es würde sich sogar, wie Hitler argumentierte, um einen Vertrag handeln, dessen Artikel alle »Liebe, Versöhnung und Verständigung« atme, erlangt dank »deutscher Gutmütigkeit«.

Solche Argumentation entsprang der Auffassung, man müsse hauptsächlich gegen das Versailler Diktat der Westmächte vorgehen. Daher konnten sich in der NSDAP kurzzeitig sogar sogenannte national-bolschewistische Stimmungen Gehör verschaffen. Es könne nicht oft genug betont werden, so tönte Joseph Goebbels Anfang 1926, dass »uns noch viel weniger mit dem westlichen Kapitalismus verbindet als mit dem östlichen Bolschewismus«. Russland sei »der uns von der Natur gegebene Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens«. Gregor Strasser hatte da schon eine Debatte zum Thema »Russland und wir« eröffnet und für eine prorussische Einstellung seiner Partei die Parole ausgegeben: »Das deutsche Mitteleuropa – im Kampf gegen den Westen, mit vorläufiger Unterstützung des Ostens!« Man beachte: Vorläufig. Und es ging keineswegs nur um Mitteleuropa – denn, so Goebbels im Originalton: »Ich bin Deutscher! Ich will, dass Deutschland die Welt ist.« Wohlgemerkt, das wurde Mitte der 1920er Jahre formuliert. Löst man in einem Gedankenexperiment alle Argumente jener Zeit von den Adjektiven kapitalistisch und kommunistisch, bleibt reinstes Großmachtbegehren und eine auf militärische Gewalt setzende Außenpolitik nach konkurrenzbestimmten und geostrategischen Prinzipien übrig.

Gerade dieses Groß- bzw. Weltmachtdenken, das wesentlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen hatte und auch nach der Niederlage in großen Teilen der deutschen Eliten dominierte, führte bei den Nazis zu der fatalen Symbiose von »Lebensraum«-Gewinnungszielen und einer Verteufelung Russlands. Das Bild von Russland, mit dessen Hilfe Hitler in dem langen Kapitel »Ostorientierung oder Ostpolitik« von »Mein Kampf« die Eroberung von Land im Osten rechtfertigte, ging von russophoben Vorstellungen aus, denen sich andere politische und ideologische Sichtweisen bloß bei-, wenn nicht gar unterordneten. Das von Hitler in seinem Buch und am 3. Februar 1933 vor deutschen Generälen formulierte Ziel einer Eroberung und Kolonisierung des Landes der Russen durch die Deutschen, prägte alle Russlandbilder des deutschen Faschismus, ebenso sein taktierendes und zeitweise friedensdemagogisches Verhalten gegenüber der als »jüdisch-bolschewistisch« charakterisierten Sowjetunion. Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nazis, sprach von Russland als einer Apfelsine, die zu verspeisen nur gelänge, wenn sie in einzelne Teile zerlegt würde. Ohne bereits den »Plan Barbarossa« im Auge zu haben, entfaltete sich frühzeitig das rassistisch-militante und antibolschewistische Russlandbild der Nazis als ein den künftigen Expansionskurs vorbereitendes Feindbild. Diejenigen, die Hitler auf den Kanzlerstuhl hoben, taten dies in Kenntnis des Konzepts, nicht in verlorener Unschuld, wie seitdem Konservative immer wieder behaupteten.

»Nährboden des Untermenschentums«

Nach dem 30. Januar 1933 standen zunächst realpolitische Belange über den ideologischen Prämissen der NSDAP, doch für die Indoktrination der Massen entstanden neue Instrumentarien. Da gab es die umfangreichen Aktivitäten des »Gesamtverbandes Deutscher antikommunistischer Vereinigungen«, der seit 1935 als »Antikomintern« und nach außen als privat firmierte. Tatsächlich unterstand er dem Goebbels-Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Die berüchtigten antibolschewistischen Parteitage von 1935, 1936 und 1937 wurden »gänzlich und allein mit dem Material der Antikomintern bestritten«, stellte deren Leiter Eberhard Taubert fest – dies allerdings erst nach 1945.

Der antibolschewistische Propagandakrieg der 1930er Jahre verknüpfte sich eng mit einer pejorativ auf den Volkscharakter bezogenen russophoben Argumentation. Da wurde die These von einer »rassisch-völkischen Bedingtheit der bolschewistischen Revolution« vertreten; da wurde behauptet, in Russland sei eine Vermischung von »nordisch bestimmte(m) Charakter« und »mongolisch-asiatischen Instinkten« vor sich gegangen, wodurch das Wesen des Russentums geprägt worden sei; da wurde von einer »Bastardisierung« der charakterschwach gewordenen Russen gefaselt usw. usf. Immer wieder tauchte auch das »Argument« auf, die Russen seien dank ihres »Zerstörerinstinkts« nicht zu staatenbildender Kraft in der Lage und lediglich bedeutsam geworden unter der Vorherrschaft von Normannen und Deutschen.

So absonderlich und abstrus dieser antibolschewistische Propagandakrieg auch gewesen sein mag, er drang tief in die Köpfe der meisten Deutschen ein. Der später geführte Vernichtungskrieg gegen Russland dürfte Antrieb und Untermauerung von diesen durch Aggressivität und nationalistisch-rassistischer Selbstüberhebung gekennzeichneten Feindbilder erhalten haben, die massenwirksam zu machen den Nazis gelungen ist.

Da störten auch nicht jene Verwirrungen und Dissonanzen, die es in Deutschland rund zwei Jahre nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 gab. Von einem Tag zum anderen brach für Mitglieder und Anhänger der NSDAP zwar ein Weltbild zusammen, doch es wurde nicht durch ein anderes ersetzt. Goebbels notierte tags darauf in sein Tagebuch, die Frage des Bolschewismus sei »im Augenblick von untergeordneter Bedeutung«, man sei in der Not und fresse »des Teufels Fliegen«. Rosenbergs Beamte mahnten im November 1939, es sei nicht nötig, antibolschewistische Literatur »voreilig aus dem Buchhandel zurückzuziehen oder sie sogar einstampfen zu lassen«.

Arroganz und Selbstüberhebung ließen allerdings in der Zeit des »Russen-Vertrags«, d. h. auch in der Zeit der Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR, kein wirklichkeitsnahes Bild von Russland zu. Forderungen nach einer »zuverlässigen« Berichterstattung wurden nach wie vor abgeblockt. Das, was im »Dritten Reich« als »Sowjetforschung« betrieben wurde, verbaute der Naziführung jeden einigermaßen realistischen Blick auf Russland. Manches sollte sich bekanntlich rächen.

Der am 22. Juni 1941 begonnene Krieg war gleichsam die Nagelprobe auf das faschistische Russlandbild. Im berüchtigten »Generalplan Ost« wurde es in die Praxis umgesetzt. »Beute«-Pläne entstanden in großer Zahl, hatte doch Hitler am 16. Juli 1941 erklärt, es komme nun darauf an, den »riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können«. Rosenberg, im November 1941 zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt, verwahrte sich gegen Vorstellungen, man führe einen Kreuzzug gegen den Bolschewismus und wolle die Russen von diesem befreien. Nein, man sei angetreten, »um deutsche Weltpolitik zu treiben« und werde »nicht mehr aus diesem Raum herausgehen«. Im Kampf gegen Russland, so erklärte Goebbels im Sommer 1942, handele es sich um einen »Krieg für Getreide und Brot, für einen vollgedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch, (…) um Gummi, um Eisen und Erze«.

Das in den ersten Jahren des Krieges gegen die Sowjetunion verbreitete Russlandbild war ein in den schwärzesten Farben gemaltes. Es lag der großen NSDAP-Propagandaausstellung »Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten zugrunde und ebenso den zahllos veröffentlichten Feldpostbriefen aus dem Osten. Die faschistisch-rassistische Deutung trat in den Vordergrund. Das ging sogar so weit, dass der Völkische Beobachter am 19. Juli 1941 verkündete, es gäbe keine »Russen im eigentlichen Sinne« mehr. Es sei mit dem »Sowjetmenschen« eine neue Rasse entstanden. Von Rosenberg stammt die Einschätzung, Deutschland »steht die Steppe plus Slawe plus europäischer Technik gegenüber, der berittene Mongole und der motorisierte Untermensch«. In einem Schulungsmaterial der NSDAP hieß es, der Osten sei ganz und gar ein »Nährboden und Ausfallstor des Untermenschentums«. Dies schlug bis in jene Stammtischniveau ausweisende Unmenschlichkeit durch, die der Ausspruch eines Kreisobmannes der Nazis belegt: »Ich sehe jedenfalls ein unterernährtes rachitisches Russenkind lieber als ein gutgenährtes gesundes, vollbusiges Russenweib.«

»Wildheit der Steppe«

Indessen dauerte der Krieg länger als geplant. Es gab Niederlagen, Frontlinien mussten »begradigt« werden, zunehmend fehlten der Rüstungsindustrie Arbeitskräfte. Den schlichten russlandpolitischen Negativklischees stand spätestens seit der verlorenen Schlacht um Stalingrad 1942/43 die militärische Realität gegenüber. Darüber hinaus hatten viele Deutsche entgegengesetzte Erfahrungen im Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen und mit den nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern gemacht. Die parteioffiziellen Darstellungen wurden an den Realitäten gemessen und in Frage gestellt. Angesichts dessen brach in der Partei Streit aus. Neue Konzepte wurden gesucht. Doch zunächst hielt alle Russophobie ungeschmälert an. So wollte Rosenberg das Russlandbild der NSDAP zwar neu bearbeitet sehen und »vollständiger« machen, beließ es aber bei der Erklärung, die »Wildheit der Steppe« trete in »neuer Form« in Erscheinung. Festzustellen sei »ein pervertierter Neu-Messianismus des Ostens« und ein »in Auswertung primitiver Heimatgefühle hochgezüchteter Fanatismus«.

Neben dem strikten Beharren auf der totalen Ausplünderung der besetzten Gebiete und auf der Vernichtungspolitik gegenüber der russischen Bevölkerung wurde zugleich nach veränderten Sichtweisen gesucht. Denkschriften kursierten, deren Autoren die Frage aufwarfen, ob man die Russen nicht besser als »Helfer« gewinnen solle, statt sie weiter als »Heloten« zu behandeln. Die einzelnen Antworten und Vorschläge lassen ein breites Spektrum erkennen. Innerhalb der Reichspropagandaleitung hieß es u. a., es dürfe nicht länger »von Sumpfmenschen, Barbaren, Bestien und Kolonialpolitik geredet werden«. Geplant war eine »Proklamation an die Ostvölker«. In ihr sollte verkündet werden, Deutschland würde sich für deren »Gleichberechtigung (…) in der europäischen Völkerfamilie« einsetzen. Zu einer Veröffentlichung dieser Proklamation kam es nicht. Hitler bezeichnete in seiner Rede zum 10. Jahrestag seiner Erhebung zum Reichskanzler ganz im Stile der bislang geführten »Bestien«-Kampagne die Russen statt dessen als »Halbaffen auf Panzern«.

1943/44 häuften sich unter den Deutschen Zweifel am vorgegebenen Bild von den Russen, wiedergegeben in den Berichten des Sicherheitsdienstes der SS: Woher rühre die überraschende Tapferkeit und Zähigkeit der Russen, weshalb wiesen ihre Waffen so hohe Qualität auf, wieso zeigten sich in den Betrieben die »Ostarbeiter« als intelligent und lernfähig usw.? Auch mit solchen der Realität geschuldeten Überlegungen sah sich Grundsätzliches der Naziideologie in Frage gestellt. Dies berücksichtigend wurde Abkehr von den bekannten Gleichsetzungen gesucht: Russe gleich jüdischer Bolschewist, gleich Untermensch und Bestie. An der faschistischen Propaganda änderte sich indessen kaum etwas, allerdings nahm man pragmatische Lösungen vor: So kam es nach langem Zögern und Hinhalten zur Formierung der Wlassow-Armee, in der antikommunistische und nationalistisch denkende sowjetische Kriegsgefangene an der Seite von Wehrmacht und SS kämpften. Doch selbst in den kriegsbedingt als »nützlich« betrachteten Kollaborateuren sahen viele nach wie vor nur die politisch, geistig und rassisch minderwertigen »Heloten«.

Das Russlandbild der NSDAP stellt sich dar als ein diffuses Gemenge aus bestimmenden Grundkonstanten und zahlreichen variabel einsetzbaren Bildelementen. Es handelte sich gleichsam um ein »Schüttelbild«, genauer: um ein vielgestaltiges Zerrbild, das seine Erscheinungsformen je nach konkreter Situation und politischem Bedürfnis, je nach Adressat und innerparteilichem Kräfteverhältnis verändern konnte. Es handelt sich um ein Feindbildkonglomerat, um ein großmachtbesessenes Gemisch, das sich in erbarmungsloser Konsequenz gleichermaßen gegen »slawische Untermenschen« und »asiatische Horden« sowie gegen den »jüdischen Bolschewismus« richtete. Im nazistischen Russlandbild radikalisierten und bündelten sich alle in der Gesellschaft vorhandenen ideologischen Quellen und rassistischen Traditionen zu einem hasserfüllten, total destruktiven Fremden- und Feindbild. Seine Handhabung und propagandistische Rechtfertigung führten zu einer qualitativ neuen Stufe in der allgemeinen Geschichte des Denkens über andere Länder und andere Völker. Sowohl die erzeugte Furcht vor den Russen als auch ein vor Überlegenheitsgefühlen strotzendes Selbstbild ließen im »Dritten Reich« allein die Worte »Russland« oder »Russen« als völlig negativ besetzt erscheinen.

Diese Russlandbilder der deutschen Faschisten gehören zu einem Abschnitt der deutschen Geschichte, der mit der Befreiung der Völker vom Joch faschistischer Herrschaft und Kriegführung endete. Zwar geriet die Niederlage der Aggressoren total, doch eine totale Überwindung der hier behandelten russophoben Denkschemata scheint bis heute noch nicht erfolgt zu sein. Nach wie vor sprudeln aus den vom Vormachtstreben in Europa geprägten Quellen neue antirussische Feindbilder, darunter auch solche, die gleichsam aus »Ruinen auferstehen«. (…)

»Asiatisches Heidentum«

Viele dieser »Ruinen« spielten in der Geschichte der BRD eine konstitutive Rolle. Antikommunismus stellte sich als Antisowjetismus und Russenhass dar. Von einer Befreiung des deutschen Volkes war bis 1985 offiziell nie die Rede; lange galt, was Konrad Adenauer und Theodor Heuß in einem Vieraugengespräch am 18. März 1955 zu ihrem Prinzip im Umgang mit der Erinnerung an den 8. Mai 1945 erhoben: »Dass dieser Tag möglichst geräuschlos vorübergehe«. Selbst das rassistische Moment blieb nicht ungenutzt. So erklärte der Bundeskanzler auf dem Karlsruher CDU-Parteitag von 1951: »Wir müssen uns entscheiden für asiatisches Heidentum oder für europäisches Christentum.«

Von den »Ruinen« – um in dem gewählten Bild zu bleiben – scheint nach meiner Auffassung gegenwärtig relativ wenig »auferstanden« zu sein. Hinzuzufügen wäre indessen das Wort »noch«. Denn was einmal in der Welt war, existiert weiter, oft unterschwellig oder heuchelnd überdeckt. Es lässt sich indessen – bei geänderten Verhältnissen und zugunsten entsprechender Zielsetzungen – relativ leicht erneut an den Tag befördern. Abhängig ist dies von den Möglichkeiten, die politischen Verhältnisse nach rechts zu verschieben, abhängig auch von der Relation zwischen großmachtpolitischen Nah- und Fernzielen, abhängig ebenso von jeweiligen Nützlichkeitserwägungen zu passgerechter Funktionalisierung ideologischer Rechtfertigungsargumente im Sinne jeweiliger wirtschaftlicher, politischer und geostrategischer Interessen.

Da wo Putin oder das »System Putin« – ob mit Recht oder zu Unrecht kritisiert, bleibt in diesem Zusammenhang völlig unerheblich – als Erscheinungsbild des Russen, seines Charakters, seiner Lebensweise usw. gewertet wird, lässt sich eine erhebliche Nähe zu den früheren Deutungen vermuten und in manchen Fällen auch nachweisen. Erneut wird zu untersuchen sein, welche Wegbereiterfunktionen die latent durchaus vorhandene Russophobie für den »faktisch geführten Krieg gegen Russland«, so Eugen Ruge in Die Zeit vom 8. Mai 2014, wahrnehmen sowie für die bereits begonnene Um- und Aufrüstung der Bundeswehr nutzbar gemacht werden kann. (…)

* Aus: junge Welt, Montag, 20. April 2015


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