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Unmoralische Angebote

Partnerschaft statt Unterwerfung: Moskaus EU-Botschafter wirbt in Brüssel für Zusammenarbeit mit der neugegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion

Von Rainer Rupp *

Die Wirtschafts- und Finanzblockade des Westens gegen Russland geht nach hinten los. Langsam, aber sicher beginnt man das in der EU herauszufinden. Während dies den Deutschen spät dämmerte – zum ersten Mal wurde derartiges gegen Ende 2014 zaghaft geäußert, als auch die hiesige Wirtschaft wieder einen Schwächeanfall zeigte und drohte, in die Rezession abzugleiten –, hatten die Vertreter anderer Länder bessere Sicht. Und nicht nur das, sondern auch weniger Angst als die Merkel-Regierung, dies offen auszusprechen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Interview von Romano Prodi in der Tageszeitung Il Messaggero. Darin stellt der ehemalige italienische Regierungschef und Expräsident der Europäischen Kommission fest, dass »die schwächere russische Wirtschaft für Italien äußerst kostspielig ist«.

Der Preissturz an den internationalen Energiemärkten habe zwar den positiven Effekt, dass italienische Verbraucher weniger für Kraftstoffe zahlten, aber dieser werde nur kurzfristig sein, so Prodi. Langfristig sei der Konjunktureinbruch in den energieerzeugenden Ländern, vor allem in Russland, äußerst unrentabel für Italien. »Durch die Senkung der Öl- und Gaspreise in Kombination mit den Sanktionen wegen der ukrainische Krise wird das russische BIP (Wirtschaftsleistung/Bruttoinlandsprodukt) um fünf Prozent pro Jahr sinken, was dazu führen wird, dass die italienischen Exporte um etwa 50 Prozent einbrechen«, sagte der Politiker und fügte hinzu: »Abgesehen von der Nutzlosigkeit der Sanktionen, sollte man die Aufmerksamkeit auf eine klare Schräglage richten: Unabhängig vom Rubelkurs, der gegenüber dem Dollar um fast die Hälfte gefallen ist, wachsen die amerikanischen Export nach Russland, während die europäischen Exporte schrumpfen.«

Seit Krisenbeginn 2008 ist in allen hochentwickelten westlichen Staaten die Geldpolitik verkommen. Die Zentralbanken kaufen jeden »Schrott« und Staatsanleihen egal welcher Bonität an, um alljährlich mit Billionen von frischgedruckten Dollar, Pfund, Yen und Euro die Finanzmärkte zu überfluten. Damit ist es den Herrschenden teils erfolgreich gelungen, »wirtschaftliche Erholung« vorzutäuschen, auch wenn sich die Maßnahmen nur in einer Explosion der Preise auf den Aktien- und Immobilienmärkten niedergeschlagen haben. Produktion und Beschäftigung hat die extreme Geldvermehrung kaum berührt. Doch keine Zentralbank der Welt ist imstande, durch reine Geldvermehrung das Volumen des Warenhandels (den Motor von Produktion und Beschäftigung) zu steigern. Das hat Prodi begriffen und deutlich gemacht. Die größte Gefahr für EU-Europa geht inzwischen weniger von den komplexen und hochriskanten Kapriolen an den Finanzmärkten aus als von etwas viel Einfacherem: vom schrumpfenden Handel.

Genau in diese Nachdenkphase platzte jetzt eine russische Offerte, die von den eingefleischten Atlantikern in den EU-Hauptstädten als höchst unmoralisches Angebot empfunden und deswegen entweder ignoriert oder als lächerlich zurückgewiesen werden dürfte. Die EU solle auf das auch in der deutschen Bevölkerung heftig angefeindete Freihandelsabkommen TTIP mit den USA verzichten und statt dessen eine Partnerschaft mit der neugeschaffenen Eurasischen Wirtschaftsunion eingehen, warb der russische Botschafter bei der EU, Wladimir Schischow, am Wochenende in einem Interview mit dem EU Observer. »Ist es wirklich weise, soviel politische Energie in eine Freihandelszone mit den USA zu stecken, wenn man natürlichere Partner ganz in der Nähe hat?« fragte Schischow. Dabei berief er sich auf Bundeskanzlerin Angela Merkel, die »vor kurzem auch darüber gesprochen« habe.

»Ich denke, dass der gesunde Menschenverstand uns rät, die Möglichkeit der Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums in der eurasischen Region in Angriff zu nehmen, einschließlich der Schwerpunktländer der Östlichen Partnerschaft (einem EU-Programm zur engeren Einbindung von Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und der Ukraine). Wir könnten uns eine Freihandelszone zwischen allen interessierten Parteien in Eurasien vorstellen«, so der Botschafter weiter. Er fügte mit einem Seitenhieb auf die USA hinzu: »Wir behandeln unsere Hühner jedenfalls nicht mit Chlor.«

Der Vertrag zur Gründung der Eurasischen Union trat am 1. Januar in Kraft. Sie umfasst bisher Armenien, Belarus (Weißrussland), Kasachstan und die Russische Föderation, Kirgisien wird im Mai beitreten. Die formale Struktur der neue Freihandelszone ist ähnlich wie die der ehemaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgebaut. Es gibt eine in Moskau angesiedelte Exekutivkommission (die Eurasische Wirtschaftskommission) und ein politisches Gremium, den Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat. In letzterem werden Entscheidungen der Mitgliedstaaten nur einstimmig getroffen.

Tatsächlich besteht für den EU-Handel mit den aufstrebenden, rohstoffreichen Ländern der Region ein weitaus höheres Wachstumspotential als mit der reifen Volkswirtschaft USA, in der die Massennachfrage wegen der zunehmenden Verarmung immer größerer Bevölkerungsschichten rückläufig ist. Auch die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) würde daran nichts ändern.

Vielmehr besteht die Gefahr, dass durch TTIP nicht nur die niedrigen Sozial- und Umweltstandards der USA in die EU »exportiert« werden, sondern auch Arbeitsplätze in der EU verlorengehen. Zugleich haben die Deutschen Wirtschaftsnachrichten im November auf einen Bericht des Global Delevopment and Environment Institute an der renommierten Tufts-Universität hingewiesen, wonach die EU durch TTIP bis zu 600.000 Jobs verlieren wird. Profiteur von TTIP wären der Studie zufolge vor allem die USA. Das wirklich unmoralische Angebot kommt aus den USA.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 6. Januar 2015


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