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Heimkehr in eine ungewisse Zukunft

Rund 17 Millionen ethnische Russen leben noch in ehemaligen Sowjetrepubliken

Von Irina Wolkowa, Moskau *

1991 lebten fast 30 Millionen Russen in den früheren Sowjetrepubliken. Ihr Schicksal blieb beim Zerfall der UdSSR ungeklärt. Daraus erwuchsen, wie derzeit in der Ukraine, verschiedentlich Konflikte.

Sie waren Ingenieure oder Ärzte und gingen Ende der 20er Jahre nach Zentralasien oder Aserbaidshan. Russische Spezialisten wurden in den zurückgebliebenen Regionen des ehemaligen Zarenreiches als Spezialisten und Entwicklungshelfer gebraucht. Mitte der 50er rief Mutter Heimat erneut. Diesmal galt es, die Steppen Nordkasachstans zur Kornkammer der UdSSR zu machen. Viele Umsiedler blieben für immer und gründeten in ihrer neuen Heimat Familien.

Nach dem Ende der Union 1991 begann der Massenauszug ethnischer Russen zurück in das Land der Eltern oder Großeltern, in eine ungewisse Zukunft. Aus Privilegierten waren über Nacht Diskriminierte geworden. Bürger zweiter Klasse, der Staatssprache ihrer Gastländer, die zu Sowjetzeiten weitgehend durch das Russische verdrängt worden war, gar nicht oder nur unzureichend mächtig. Dadurch sanken ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, zumal die Angehörigen der Titularnationen in die Amtsstuben drängten. Dazu kam Diskriminierung im Alltag. Nachbarn, mit denen man zuvor gemeinsam Feste gefeiert hatte, machten plötzlich Stimmung gegen die »Okkupanten«.

Lettland und Estland, erst 1940 und nicht ganz freiwillig Mitglied der Völkerfamilie geworden, verweigerten ethnischen Russen, die bei der Sprachprüfung durchfielen, die Staatsbürgerschaft. Minderheitenrechte wurden beschnitten, obwohl der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung in Estland etwa 25, in Lettland knapp 30 Prozent beträgt. In Lettland wurden russische »Nichtstaatsbürger« gar zur »Naturalisierung« ihrer Familiennamen gezwungen. Die EU erhob zwar den mahnenden Zeigefinger in Richtung ihrer Neumitglieder, sah jedoch keinen weiteren Handlungsbedarf.

1991 lebten noch fast 30 Millionen Russen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, 2010 nur noch knapp 17 Millionen. Fast vier Millionen leben noch in Kasachstan und stellen dort 23,6 Prozent der Bevölkerung, in den nördlichen Regionen des Landes oft mehr als die Hälfte.

In der Ukraine sind 17 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen, in der Republik Moldau sind es 13 Prozent. Dort spaltete sich ein schmaler Landstreifen östlich des Dnjestr, im Westen Transnistrien genannt, mit mehrheitlich russischer und ukrainischer Bevölkerung aus Angst vor einem Anschluss des Landes an Rumänien ab und erklärte sich für unabhängig. Der Konflikt, der 1992 zu militärischen Auseinandersetzungen führte, ist bis heute nicht gelöst.

In Turkmenistan sind rund zehn, in Usbekistan knapp sechs Prozent der Einwohner ethnische Russen. In Armenien liegt ihr Anteil unter einem, in Georgien bei 1,5 Prozent.

Längst nicht alle Russen, die ins »Mutterland« zurückkehrten, sind dort glücklich geworden. Zwar hatte Präsident Wladimir Putin zu Anfang seiner zweiten Amtszeit ein Repatriierungsprogramm mit finanziellen Starthilfen, Bereitstellung von Wohnraum und Arbeitsplätzen aufgelegt. Mehrfach wurde der Geltungszeitraum von Regelungen verlängert, die eine vereinfachte Vergabe der russischen Staatsbürgerschaft ermöglichen. Die Heimkehrer sollten auch das unheilvolle Schrumpfen durch Überalterung der Bevölkerung Russlands, aufhalten. Dass sich die Einwohnerzahl um »nur« zehn Millionen verringert und inzwischen bei 142 Millionen stabilisiert hat, ist vor allem dem Geburtenüberschuss im muslimischen Nordkaukasus zu danken.

Der Erfolg des Förderpakets für Heimkehrer blieb jedoch sehr überschaubar. Kreml und Regierung wollten sie vor allem in Problemregionen ansiedeln: im dünn besiedelten Fernen Osten etwa, in den verfallenden Siedlungen entlang der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) oder im Gebiet Kaliningrad. Die Neusiedler selbst indes zog es in die Großstädte und deren Speckgürtel oder in die fruchtbaren Schwarzerdegebiete Südrusslands.

Zwar traten nur wenige der Enttäuschten die Rückreise an. Auch von größeren Konflikten mit den Alteingesessenen ist nichts bekannt. Wohl aber von kleinen Nadelstichen in der Schule, im Büro, auf der Straße. Auf dem flachen Land brauchen schon Zugezogene aus anderen Teilen Russlands Jahre, um akzeptiert zu werden. Die Heimkehrer aber haben zum Teil Sitten und Gebräuche ihrer Gastländer übernommen. Sie kochen Besbarmak und Plow und sind für die Einheimischen daher Kasachen und Usbeken.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 7. März 2014


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