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Latente Schuldenkrise

Russische Föderation kann solide Finanzdaten vorweisen – offenbar auf Kosten der Regionen. Deren Haushaltsdefizite wachsen seit 2010 rasant

Von Reinhard Lauterbach *

In Nowosibirsk, der größten Stadt des asiatischen Teils Rußlands, kommt es seit einiger Zeit regelmäßig zu Demonstrationen. »Schluß mit dem Mästen Moskaus« steht unter anderem auf den Transparenten. Die Protestierenden bleiben von der Staatsmacht unbehelligt, was darauf schließen läßt, daß zumindest deren regionale Vertreter mit dieser Forderung kein Problem haben.

Tatsache ist, daß die Regionen ein Problem mit der Zentrale haben, und zwar ein finanzielles. Sie werfen Moskau vor, sich auf ihre Kosten zu sanieren. Die Finanzdaten der Russischen Föderation sehen auf dem Papier sehr ordentlich aus: Staatsschulden von umgerechnet 240 Milliarden Euro oder 14 Prozent des Bruttosozialprodukts – das sind Werte, mit denen ein Bundesfinanzminister sehr zufrieden wäre. Dem steht aber die prekäre Lage der 83 »Föderationssubjekte« gegenüber. Ihre Haushaltsdefizite haben sich seit 2010 – kumuliert gerechnet – auf umgerechnet knapp 60 Milliarden Euro verdoppelt. Die US-amerikanische Ratingagentur Standard & Poors erwartet, daß die Verschuldung der Regionen in diesem Jahr um weitere 25 Prozent auf 75 Milliarden Euro steigen wird. Besorgniserregend ist weniger die absolute Höhe der Defizite als vielmehr die Dynamik, mit der sie sich vergrößern. Der Schuldenstand der einzelnen Regionen ist dabei sehr unterschiedlich. Nur ein Viertel von ihnen hält Einnahmen und Ausgaben annähernd im Gleichgewicht. Das gilt vor allem für die rohstoffreichen und vergleichsweise wenig bevölkerten Gebiete Sibiriens und des Urals. Bei den übrigen ist die Verschuldung dagegen auf bis zu 200 Prozent der regionalen Steuereinnahmen gestiegen, so daß für die politische Führung in Moskau Handlungsbedarf heranreift: Hilfspakete in Milliardenhöhe oder ein Bankrott von Regionen sind die Alternative.

Abhängigkeit von Moskau

Die Verwaltungseinheiten haben in Rußland keine eigene Budgethoheit wie etwa die Bundesländer in Deutschland. Sie finanzieren sich aus einem festen Anteil an den auf ihrem Gebiet anfallenden Steuereinnahmen und aus Zuweisungen des zentralen Haushalts. Diese Rückflüsse betragen aber nur etwa die Hälfte dessen, was nach Moskau abgeführt wird. Das zeigt, daß die Föderation ihren Haushalt tatsächlich auf Kosten der Regionen saniert. Gleichzeitig sollen aber die Regionen kostspielige Sozialprogramme der Zentrale wie Wohnungsbau und Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Dienst finanzieren. Proteste der Gouverneure haben inzwischen Wirkung gezeigt: Die Frist für die Erfüllung der den Regionen von Präsident Wladimir Putin öffentlichkeitswirksam gestellten Aufgabe, alle heruntergekommenen Wohnhäuser zu sanieren, ist in aller Stille von 2015 auf 2020 verlängert worden.

Die Abhängigkeit der Regionen von finanziellen Zuwendungen aus dem Föderationshaushalt ist gewollt. Denn sie gilt aus Sicht der Zentrale als Hebel gegen möglichen Separatismus. Die Finanzbeziehungen zwischen Zentrum und Regionen sind in Rußland seit mindestens 20 Jahren ein heißes Eisen. Das Gefühl, den Moloch Moskau zu subventionieren, ist in den Republiken, Kreisen und Bezirken verbreitet. Dies umso mehr, je reicher an Rohstoffen und industriellem Potential sie sind. Das Ungleichgewicht ist mit Händen zu greifen: Die Stadt Moskau ist wohlhabender als die zehn nächstreichen Föderationssubjekte zusammen. Sie beherbergt neun Prozent der Bevölkerung Rußlands und erwirtschaftet etwa 20 Prozent des russischen Sozialprodukts.

Kredite außer Kontrolle

In den 90er Jahren, als die politische Zentrale zusammenbrach, nahmen sich viele Regionen gemäß dem berühmten Jelzin-Wort »soviel Macht, wie sie greifen konnten« – auch Steuerhoheit und Verfügung über Rohstoffe. Als in der Rubel-Krise des Spätsommers 1998 Moskauer Banken zahlungsunfähig wurden, zogen viele Gouverneure eigene Banken auf, die die regionale Wirtschaft und Politik mit Krediten versorgten.

Dieses Darlehensvolumen ist nun vielfach außer Kontrolle geraten. Vom rein makroökonomischen Standpunkt ist es daher verständlich, daß die russische Zentralbank jetzt einige hundert Regionalbanken abwickeln will. Sie greift damit allerdings auch ein Stück ökonomische Souveränität der Föderationssubjekte an, und hier hört der Spaß für die regionalen Eliten in Wirtschaft und Politik auf. Bezeichnend diesbezüglich ist eine Äußerung des Aluminiummagnaten Oleg Deripaska dieser Tage auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Deripaska, dessen Kombinat RUSAL vor allem im zentralsibirischen Bezirk Krasnojarsk beheimatet ist, plädierte dafür, die Hauptstadt von Moskau nach Sibirien zu verlegen – nach Krasnojarsk oder Irkutsk. Das wäre ein Schlag gegen die Moskauer Bürokratie und Korruption. Es entspreche dem wachsenden wirtschaftlichen Gewicht Sibiriens und der zunehmenden Bedeutung der asiatischen Märkte für die Entwicklung des Landes, so Deripaska. Sein Vorschlag stieß aber in der Bevölkerung Sibiriens durchaus nicht auf einhellige Begeisterung: Zweifler wiesen darauf hin, daß die Bürokratie nicht dadurch reduziert oder weniger korrupt würde, daß sie aus Moskau an den Jenissej oder die Angara verpflanzt würde.

* Aus: junge welt, Montag, 27. Januar 2014


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