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In Steinmeiers Welt

An allem ist nur Russland schuld: Deutschlands Außenminister erklärt seiner Partei den Ukraine-Konflikt

Von Velten Schäfer *

In einem Brief an alle SPD-Mitglieder rechtfertigt der deutsche Außenminister seinen Ukraine-Kurs – und nennt Moskau zumindest indirekt einen »Gegner«.

Dass Frank-Walter Steinmeier Kritik nicht schätzt, weiß die Republik seit Mai. Da brüllte der Außenminister Landeskinder, die wegen der Eskalation in der Ukraine besorgt waren, ihn selbst für beteiligt hielten und dies auch noch kundzugeben wagten, auf dem Berliner Alexanderplatz förmlich nieder.

Mittlerweile hat ihn offenbar die Erkenntnis ereilt, dass besorgte Bürger vielleicht zivilisierte Antworten verdienen. In diesem Sinne – und wohl als Argumentationshilfe für den Parteialltag – hat Steinmeier den SPD-Mitgliedern nun einen Brief geschrieben, in dem er seine Ostpolitik rechtfertigt.

Selbstkritik ist nicht das Genre, das man in einem solchen Brief erwarten darf. Dennoch erstaunt und erschreckt das Schreiben in seiner Unreflektiertheit. Mit der Krisenanalyse ist Steinmeier dabei sehr schnell fertig: Die Schuld trifft allein Russland, das »ausgerechnet 25 Jahre nach dem Mauerfall« die »kooperative Friedensordnung« infrage stelle.

Zu Recht diskutiere daher die NATO, ob »Russland vom Partner wieder zum Gegner geworden ist«. Deutschland aber habe in der Ukraine »von Anfang an« eine Politik verfolgt, die auf »gemeinsame Sicherheit, politische Konfliktlösung, Achtung des Völkerrechts« und »internationale Zusammenarbeit« gezielt habe. Dennoch sei nun aufgrund der »leider veränderten Bedrohungslage« die »Reaktionsfähigkeit« der NATO zu erhöhen, freilich ohne »eine dauerhafte Verlegung von Kampftruppen nach Polen oder ins Baltikum«. Der »Weg«, schreibt Steinmeier, müsse »ein politischer und darf kein militärischer sein«. Das Ziel seiner Politik sei aber weiterhin die »nationale Einheit« der Ukraine und deren »innere Versöhnung«.

Doch ist es nicht längst so, dass es die Ukraine in Grenzen von 2013 nicht mehr geben wird? Dass jeder, der dies ändern möchte, ohne Waffen keinen Erfolg haben kann – und mit Waffen erst recht nicht?

Und: Wie will Steinmeier »innere Versöhnung« erreichen, wenn er den Beschuss von Wohngebieten mit schwerem Gerät unterstützt und keinerlei Kritik an einer Regierung übt, die nicht nur von anti-russischen Rassisten erpresst werden kann, sondern aktiv radikale Milizen mit dem »Säubern« russischsprachiger Ortschaften beauftragt?

Der politische Offenbarungseid – oder die demagogische Klimax – des Schreibens ist freilich der folgende Satz: »Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt«: Ein Minister, der nichts dabei fand, gewalttätige Demonstrationen gegen eine ihm missfallende, aber regulär gewählte Regierung in Europa offen zu unterstützen, dann aber nicht in der Lage war, den erreichten Kompromiss auch durchzusetzen und einen geordneten Übergang zu ermöglichen, macht auf ahnungslos.

Sollte es wirklich so gewesen sein, dass Steinmeier keinen Schimmer hatte von der »Krisendynamik«, die ein westlicher Griff nach der Krim – eine ukrainische NATO-Perspektive wurde erst später unmissverständlich dementiert – beinhalten musste? Dann muss das Amt im Interesse der nationalen Sicherheit sofort neu besetzt werden. Oder ist es doch so, dass Steinmeier im Gegenteil glaubte, in Kiew einen Regime-Change nach inzwischen üblichem Muster folgenlos herbeiführen zu können, weil er Moskaus Kräfte und Entschlossenheit unterschätzte? Dann gilt im Grunde dasselbe.

»Ausgerechnet 25 Jahre« nach dem Fall der Berliner Mauer, den Russland im Vertrauen auf die Deutschen zuließ, entsteht nun eine neue Mauer in Europa. Eine Mauer, die eine jahrzehntelang grüne Grenze militarisieren und Familien zerreißen wird – als Folge einer unüberlegten oder gezielt aggressiven Politik, die nicht zuletzt Frank-Walter Steinmeier zu verantworten hat.

Und nun brülle weiter, Minister.

* Aus: neues deutschland, Freitag 12. September 2014


Dokumentiert: Der Brief Steinmeiers an die SPD-Mitglieder

DR. FRANK-WALTER STEINMEIER

An die Mitglieder der SPD
Berlin, den 08. September 2014

Liebe Genossinnen und Genossen,

In diesen Tagen erreichen mich Briefe von Bürgerinnen und Bürgern, die Angst haben. Ältere Menschen fragen mich: Kehrt der Krieg nach Europa zurück? Junge Menschen fragen mich: Ist es vorbei mit der offenen und friedlichen Welt, in der ich aufwachse?

An den Fernsehschirmen sehen wir immer neue Bilder von rollenden Panzern, ausgebrannten Fahrzeugen und fliehenden Menschen. In den Nachrichten vom NATO-Gipfel ist die Rede von mehr Soldaten in Osteuropa.

Es ist wahr: Mit der Ukraine-Krise ist die Frage von Krieg und Frieden auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Die Sicherheit und Einheit der Ukraine sind in Gefahr. Die Nato diskutiert darüber, ob Russland vom Partner wieder zum Gegner geworden ist.

Vor genau 25 Jahren fiel der Eiserne Vorhang und mit ihm die zynische Konfrontationslogik des Kalten Krieges. Heute leben wir unter dem Schutz einer kooperativen Friedensordnung, an der Generationen von Politikern seit dem Helsinki-Prozess gearbeitet haben. Ausgerechnet 25 Jahre nach dem Mauerfall stellt Russland diese Ordnung in Frage.

Liebe Genossinnen und Genossen,

Es steht viel auf dem Spiel. Mehr denn je kommt es auf eine kluge und besonnene deutsche Außenpolitik an.

Dieser Friedenspolitik sind gerade wir Sozialdemokraten seit Willy Brandt verpflichtet. Wir stehen ein für die Friedensordnung in Europa. Diese Ordnung hat klare Prinzipien: gemeinsame Sicherheit, politische Konfliktlösung, Achtung des Völkerrechts, internationale Zusammenarbeit.

Diesen Prinzipien ist Deutschland in der Ukraine-Krise von Anfang an gefolgt und hat sie gegen manche Kritik verteidigt. Es ist gut, dass sich die NATO in Wales dazu – einschließlich der NATO-Russland-Grundakte– noch einmal ausdrücklich bekennt.

Was heißt das im Einzelnen?

Erstens: Wir stehen zu unserer Bündnisverantwortung. Unsere östlichen Nachbarn sind zu Recht verunsichert und fühlen sich vom russischen Verhalten bedroht. Wir nehmen ihre Ängste ernst. Denn unsere eigene Sicherheit ist untrennbar mit der unserer Nachbarn und Partner verbunden.

Deshalb hat Deutschland frühzeitig Vorschläge eingebracht, wie wir unsere Partner in der leider veränderten Bedrohungslage besser schützen können. Diese Vorschläge haben wir beim NATO-Gipfel in den sogenannten Readiness Action Plan gegossen. Dieser Plan erhöht die Reaktionsfähigkeit unseres Bündnisses an seiner Ostgrenze, ohne eine dauerhafte Verlegung von Kampftruppen nach Polen oder ins Baltikum.

Zweitens: Die Ukraine-Krise kann nur politisch gelöst werden. Daran arbeiten wir beharrlich weiter. Deutschland hat verschiedene diplomatische Initiativen eingebracht und Foren entwickelt, in denen alle Seiten vertreten sind und miteinander verhandeln können: das Kontaktgruppen-Format, die Treffen von Genf und Berlin, der Nationale Dialog und insbesondere die OSZE-Mission in der Ukraine. Wir werden diese Foren weiter stärken. Und wir unterstützen die Ukraine weiter dabei, ihre nationale Einheit zu bewahren, erfolgreiche freie Wahlen im Herbst abzuhalten und die innere Versöhnung des Landes zu beginnen.

Doch am Ende liegt der Schlüssel bei den beiden Konfliktparteien Ukraine und Russland selbst. Wir haben lange auf direkte Gespräche zwischen Präsident Poroschenko und Präsident Putin hingearbeitet. Das ist gelungen. Nun müssen wir hoffen, dass die am Freitag in Minsk getroffene Übereinkunft dafür sorgt, dass endlich die Waffen schweigen.

Doch eine Glaubenssache ist das nicht! Punkt für Punkt lässt sich überprüfen, ob die Minsker Vereinbarung eingelöst wird. Ob daraus ein dauerhafter Waffenstillstand wird, hängt weiter vom Willen Moskaus und Kiews ab, die großen offenen Fragen politisch zu lösen und aus der militärischen Logik auszubrechen.

Der Weg zu einer Lösung ist schwer, aber allen, die Sorgen haben, sagen wir auch: Der Weg muss ein politischer und darf kein militärischer sein. Deshalb werden wir weder militärisch noch rhetorisch aufrüsten. Und wenn wir schon hundert diplomatische Türen geöffnet haben: Wir werden auch die hundert-und-erste Klinke nicht scheuen.

In diesem Erinnerungsjahr 2014 lehrt die Geschichte uns eben zweierlei: einerseits, wie wichtig der Schutz des gemeinsamen Bündnisses – andererseits, wie katastrophal die Folgen, wenn eine rein militärische Logik die Diplomatie beiseite drängt. Christopher Clark hat auf der Fraktionsklausur in Hamburg noch einmal daran erinnert: Abschottung, Isolation und das Kappen der Gesprächskanäle sind im Zweifel die größere Gefahr.

Drittens: Wir brauchen internationale Kooperation statt Konfrontation. Denn dem Frieden ist mit Kooperation besser gedient als mit Konfrontation.

Eine Vielzahl von Krisenherden und Konflikten lodern auf dieser Welt, und sie alle brauchen den Einsatz der internationalen Gemeinschaft. Durch die Zuspitzung im Ukraine-Konflikt ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen praktisch blockiert. Auch deshalb brauchen wir eine politische Lösung in der Ukraine, und eine Entkrampfung hoffentlich bis zum Beginn der VN-Generalversammlung am Ende des Monats!

Liebe Genossinnen und Genossen,

Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt.

Ja, es sind bedrohliche Zeiten, aber beirren können sie uns nicht! Dazu gibt es auch keinen Grund: Wir haben einen klaren friedenspolitischen Kompass, wir haben Prinzipien von Diplomatie, Sicherheit, Konfliktlösung und Kooperation, und wir haben Partner und Bündnisse, die diese Prinzipien teilen.

Wo unser Handeln gefordert ist, da sind unsere Überzeugungen umso wichtiger! Wir werden beharrlich an Lösungen arbeiten, unbeirrt in unseren Überzeugungen, offen für den Dialog, mit Nerven und mit Augenmaß.

Mit besten Grüßen [Unterschrift: Euer Frank-Walter Steinmeier]

Quelle: Website der SPD; www.spd.de [pdf, externer Link]




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