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"Gnadenloser Kampf" gegen den Terrorismus

Russlands Präsident Wladimir Putin reiste nach Wolgograd an den Ort des Schreckens und kündigte scharfe Reaktion an

Von Irina Wolkowa, Moskau *

»Völlige Vernichtung« droht Russlands Präsident Wladimir Putin den Drahtziehern der Attentate in Wolgograd an. Unangekündigt besuchte der Kremchef am Neujahrstag die südrussische Stadt.

Wladimir Putin zeigt Flagge: Das Vorgehen der Terroristen sei »nicht hinnehmbar« und »durch nichts gerechtfertigt«, sagte Russlands Präsident auf einer Krisensitzung in Wolgograd, zu der er führende Mitarbeiter der Geheimdiensten und des Innenministeriums aus allen Regionen Südrusslands in der Neujahrsnacht einbestellt hatte. Bei Anschlägen in der Wolgastadt – Sonntag auf den Hauptbahnhof und Montag auf einen Trolleybus – waren insgesamt 34 Menschen ums Leben gekommen. knapp hundert weitere verletzt worden, die meisten davon schwer.

»Wir neigen unsere Häupter vor den Opfern … und werden den Kampf gegen die Terroristen hart und konsequent fortsetzen, bis sie vernichtet sind«. Russland werde den Terrorismus »gnadenlos bekämpfen«, hatte Putin zuvor schon in seiner Neujahrsbotschaft angekündigt, zugleich aber auch auf Erfolge im abgelaufenen Jahr 2013 verwiesen. Russland sei »etwas besser, reicher und komfortabler« geworden und habe es geschafft, »seine Interessen in den internationalen Angelegenheiten beharrlich zu verteidigen«. Eben deshalb würden sich die Bürger Russlands trotz allem auf das neue Jahr freuen. Vor allem auf die Olympischen und die Paraolympischen Spiele, die auf »höchstem Niveau« durchgeführt werden. »Wir blicken der Zukunft mit Optimismus entgegen und glauben aufrichtig an Glück und Erfolg«, sagte der Kremlchef wörtlich.

In der ersten Variante seiner Neujahrsbotschaft, die für die am weitesten östlich gelegenen Regionen aufgezeichnet worden war, hatte Putin die Anschläge von Wolgograd und die Notwendigkeit, den Terrorismus effizienter zu bekämpfen, mit keiner Silbe erwähnt. Sein Pressesprecher erklärte das mit »technischen Pannen«. Kritische Beobachter dagegen vermuten Unstimmigkeiten in Putins Umgebung. Der konservative Flügel habe für Schweigen plädiert, der liberale für offensive Vorwärtsverteidigung: Schweigen sei gleichbedeutend mit dem Eingeständnis von Angst und Hilflosigkeit.

Als hilflos rügen Regimekritiker auch die unmittelbare Reaktion der Macht auf den Doppelanschlag. So wurden Truppen des Innenministeriums, die eigentlich für die Niederschlagung innerer Unruhen ausgebildet sind, nach Wolgograd beordert. Medien sprechen von bis zu 5000 Mann, darunter Scharfschützen, die in kritischen Situationen ohne Anruf von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen. Die Bevölkerung und die Regionalregierung treibt Angst vor weiteren Anschlägen um. Zumal ein paar »Spaßvögel« Montag der Hotline des Krisenstabs weitere Anschläge meldeten, was sich als frei erfunden herausstellte.

Massiv verstärkt wurden auch die Posten am Damm der nahen Wolga-Staustufe. Bricht er, werden die Millionenstadt und weite Teile des Umlandes in Sekunden überflutet. Kritische Beobachter fürchten, Putin könnte die Anschläge in Wolgograd zum Anlass nehmen, die innenpolitischen Daumenschrauben gleich nach den Spielen in Sotschi erneut anzuziehen. 2004, nach dem Geiseldrama in der Schule von Beslan, bei dem über 300 Menschen starben – die meisten waren Kinder – hatte Putin umfangreiche Verfassungsänderungen zwecks Straffung der Machtvertikale durchgesetzt. Die bis dato direkt gewählten Verwaltungschefs der Regionen wurden fortan vom Kreml ernannt, Opposition und Zivilgesellschaft durch Verschärfung von Parteien- und Vereinsgesetzgebung marginalisiert. Gleichzeitig wuchs der Druck auf kritische Medien. Wirtschaftsstreitigkeiten zwischen deren Eigentümern und Staatskonzernen entschied die Justiz meist zu Gunsten letzterer. So brachte Gasprom den unabhängigen TV-Sender Ntw durch feindliche Übernahme wieder auf Linie. Regimekritiker halten sogar einen neuen Waffengang im Nordkaukasus für möglich. 1999 hatte der gerade zum Ministerpräsidenten ermannte Geheimdienstchef Putin Anschläge auf Wohnhochhäuser in Moskau und anderen Großstädten mit insgesamt mehreren hundert Toten als Anlass für einen Waffengang gegen die Rebellenrepublik Tschetschenien genutzt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Januar 2014


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