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Rubel im freien Fall

Russlands Währung erreicht Rekordtief, doch Regierung bleibt gelassen. Steigende Inflation treibt Preise importierter Güter, wie etwa von Lebensmitteln, in die Höhe

Von Reinhard Lauterbach *

Der russische Rubel hat am Dienstag gegenüber den wichtigsten westlichen Währungen den niedrigsten Kurs seit vielen Jahren erreicht. Für einen Euro wurden bis zu 88 Rubel gezahlt, für einen Dollar 70 Rubel. Anfang des Jahres hatten die Kurse noch bei 45 Rubel für den Euro und 33 Rubel für den Dollar gelegen; der Außenwert der russischen Währung hat sich damit faktisch halbiert. Die Zentralbank hatte versucht, den Kurs mit einer Leitzinserhöhung von 10,5 auf 17 Prozent zu stabilisieren. Zu der Zinsentscheidung verweigerte die Regierung einen Kommentar, weil die Zentralbank unabhängig sei. Am Mittwoch vormittag stieg der Rubel-Kurs wieder um zehn Prozent an. Professionelle Marktbeobachter nannten den Kursverfall vom Dienstag eine Überreaktion des in Panik geratenen Marktes. Auch die Moskauer Börse verlor stark; ihr Börsenwert liegt jetzt unter dem des US-amerikanischen Internetkonzerns Google.

Vor ihrer Zinsentscheidung hatte die russische Zentralbank etwa 80 Milliarden US-D

ollar für Interventionen am Devisenmarkt zugunsten des Rubel ausgegeben und damit etwa ein Sechstel der Devisenreserven des Landes verbrannt. Die Entscheidung, nun mit einer drastischen Leitzinserhöhung einzugreifen, soll es für Spekulanten teurer machen, Rubel-Kredite aufzunehmen, das Geld in Devisen umzutauschen und diese in Erwartung eines noch weitergehenden Kursverfalls später zurückzutauschen. Sie erschwert aber auch der Realwirtschaft die Refinanzierung; insofern nannte der Sprecher des Ölkonzerns Rosneft die Zinsentscheidung einen »Gnadenstoß« für die russische Volkswirtschaft. Auf jeden Fall zeigt das Vorgehen der Zentralbank, dass sie weiter auf marktwirtschaftliche Instrumente setzt. Präsident Wladimir Putin hatte in seiner Ansprache zur Lage der Nation vor zwei Wochen noch den Währungsspekulanten gedroht und erklärt, die Regierung wisse, »wer sie sind und wo sie sind«. Einstweilen scheint sie dieses Wissen, wenn sie es denn hat, nicht nutzen zu wollen.

Kurzfristig führt die Rubel-Schwäche dazu, dass diejenigen Russen, die Ersparnisse auf der Bank haben, ihr Geld abheben und in Sachwerte umsetzen. In den Banken standen die Leute Schlange, um an ihr Geld zu kommen; von Auszahlungsschwierigkeiten wurde aber nicht berichtet. Vor den Moskauer IKEA-Märkten bildeten sich Schlangen, so dass die Kunden teilweise mehrere Stunden auf den Eingang warten mussten. Auch Geschäfte für Elektronik und Autos berichteten von großem Andrang trotz saftiger Preiserhöhungen, die die Kursverluste des Rubel ausgleichen sollen. Einige Autohersteller und der US-Elektronikkonzern Apple setzten wegen der Kursschwankungen ihren Verkauf in Russland gar gänzlich aus. Der Immobilienmarkt hat sich inmitten der Währungskrise belebt. Über die Folgen des Kursverfalls für jene Russen, die als wesentlichen Sachwert ins tägliche Brot investieren, wird in der Presse weniger berichtet; die Währungskrise wirkt sich auf »Natascha Normalverbraucherin« vor allem durch eine Inflation aus, die schon vor den Ereignissen des Wochenbeginns auf neun Prozent im Jahresmaßstab gestiegen ist, weil vor allem importierte Güter und dadurch viele Lebensmittel teurer geworden sind.

Auf den Staatshaushalt hatte der Rubel-Verfall paradoxerweise zunächst keine größeren Auswirkungen, weil durch den Kurssturz die in Rubel verbuchten Devisenerlöse sogar steigen. Das gleicht den Verfall des für die russische Volkswirtschaft zentralen Ölpreises aus; dieser war Anfang der Woche auf 56 US-Dollar pro Fass und damit auf den Stand von 2009 zurückgegangen. Die russische Regierung demonstrierte Gelassenheit und nannte die Entwicklung einen Anreiz, »schneller und effizienter zu arbeiten«, anstatt über »irgendwelche wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu lamentieren«. Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina nannte die Ereignisse ein Argument dafür, den internen russischen Kapitalmarkt zu entwickeln und die heimische Produktion zu stärken. Damit liegt sie auf der wirtschaftspolitischen Linie, die Putin in seiner Jahresrede skizziert hatte (siehe jW vom 10. Dezember). Die Frage ist freilich, wie lange Russland bei abschmelzenden Devisenreserven und hohen Militärausgaben die dort angekündigte keynesianische Industriepolitik wird durchhalten können.

Im Westen wurde die Kursentwicklung von Rubel und Moskauer Börse teils als Wirkung der westlichen Sanktionen begrüßt, teils mit Sorge betrachtet. US-Außenminister John Kerry hielt es für angebracht zu versichern, die russische Bevölkerung sei nicht das Ziel der Sanktionen. Die Frage ist, ob die Russen das ebenso sehen. Die Sorge gilt in erster Linie den Banken aus EU-Ländern, die am russischen Markt stark engagiert sind, vor allem für österreichische Institute: Sollten sie in Schwierigkeiten kommen, könnte dies Rückwirkungen auf die Stabilität des Euro-Finanzsystems haben. Andere bürgerliche Kommentatoren hoben hervor, dass die Lage Russlands 2014 nicht mit der in den späten neunziger Jahren vergleichbar sei: Russland sei weiterhin die achtgrößte Volkswirtschaft der kapitalistischen Welt. Der US-Analysedienst Stratfor meinte, damit sei das Land »too big to fail« (»zu groß, um unterzugehen) – irgendwann werde es zu Hilfsmaßnahmen über den Internationalen Währungsfonds kommen müssen, falls sich Russland nicht von selbst wieder fange.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 18. Dezember 2014


Finger verbrannt

Der "Rubelabsturz" hat wenig mit wirtschaftlichen Fundamentaldaten zu tun. Hier wird vor allem spekuliert, wahrscheinlich nicht besonders glücklich

Von Rainer Rupp **


Der Rubel im freien Fall, Russland vor Staatspleite: Die Schlagzeilen der westlichen Medien überboten sich, die Kommentare trieften von Häme und Missgunst. Tatsächlich hat der Wechselkurs des Rubel zum US-Dollar zuletzt einen dramatischen Achterbahnkurs hingelegt, nachdem er sich seit Anfang Juli kontinuierlich verschlechtert hatte: Von 33,7 auf 50,3 Rubel für einen Dollar Anfang Dezember. Zu Beginn dieser Woche brach dann Chaos an den Devisenmärkten aus. Keiner schien mehr russische Währung haben zu wollen – obwohl diese inzwischen zu gut einem Viertel durch Goldreserven gedeckt ist. Ganz im Gegensatz zur Währung und dem Verschuldungsgrad der USA.

Moskau verfügt über Devisenreserven von knapp 400 Milliarden Euro. Die Russische Föderation ist mit einem Verschuldungsgrad von 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in einer vergleichsweise guten Position, während der Schuldenberg der US-Regierung mit über 17.000 Milliarden Dollar bei 100 Prozent des BIP liegt.

Russland ist zugleich der mit Abstand größte Energieproduzent der Welt und der bedeutendste Nettoenergieexporteur, die USA könnten selbst laut bestmöglichem Szenario der regierungsoffiziellen Energy Information Agency erst Mitte der 2040er Jahre den Status der angestrebten Energieunabhängigkeit erreichen. Dies zudem nur, wenn sich die Frackingindustrie bis dahin als profitabel und umweltverträglich erweist – was derzeit fragwürdiger ist denn je. Diese Woche hat der US-Bundesstaat New York ein Frackingverbot erlassen, laut US-Medienberichten »ohne Wenn und Aber ein bedeutender Rückschlag für die nordamerikanische Öl- und Gasindustrie«. Zugleich gerät diese durch den Verfall des Ölpreises von 110 US-Dollar pro Fass (159 Liter) im Frühjahr auf derzeit knapp unter 60 US-Dollar in eine Existenzkrise. Ein Großteil der Produzenten arbeitet bereits bei Preisen unter 80 beziehungsweise 75 US-Dollar mit Verlust.

Diese Förderunternehmen verfügen über so gut wie kein Eigenkapitalpolster, sind fast ausschließlich mit fremdem Geld finanziert. Durststrecken können nicht überbrückt werden. Falls sie nicht schleunigst neues Geld bekommen, droht ihnen die Pleite – mit noch nicht absehbaren Konsequenzen.

Laut Schätzungen von US-Finanzmedien stecken Anleihen im Volumen von 550 Milliarden US-Dollar in der Branche, welche die Finanzindustrie gegen wenig Sicherheiten aber zu hohen Zinsen aufgebracht hatte. Sollte auch nur ein Teil dieser Kredite uneinbringlich (»faul«) werden, wird eine Kettenreaktion »à la Lehman« befürchtet. Und diesmal ist im Vergleich zu 2008 (Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers) der Spielraum von US-Regierung und Zentralbank für erneute Hilfe durch die Steuerzahler sehr begrenzt.

Angesichts der miserablen wirtschaftlichen Fundamentaldaten der US-Wirtschaft und ihrer Aussichten kann es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, dass am Montag und Dienstag dieser Woche der Rubel gegenüber dem »starken Dollar« zeitweise fast die Hälfte an Wert verloren hat. Der Kurs stieg von 58 Rubel je US-Dollar kurzzeitig auf über 100 Rubel. Und das sei noch lange nicht das Ende, jubelten die Qualitätsmedien. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass sich bei dieser Aktion auf Grund der radikalen Erhöhung des Leitzinses auf 17 Prozent durch die russische Zentralbank viele Spekulanten die Finger verbrannt haben.

Deren Versuche, mit sogenannten Leerverkäufen den Rubelkurs weiter zu drücken, wurden damit konterkariert. Dabei werden Rubel an westlichen Börsen per Termin verkauft, also ohne dass man sie besitzt, weil man sie erst zu einem späteren Zeitpunkt liefern muss. Bei dieser Transaktion spekuliert der Verkäufer auf sinkende Rubelkurse. Hierbei wird oft mit Devisen im Milliardenvolumen jongliert. Bereits am Dienstag mussten große Währungshändler wie FXCM und FxPro zwangsweise die Positionen der Spekulanten schließen. Sofort erholte sich der Rubelkurs und Freitag morgen stand er wieder bei 60,5 Rubel/US-Dollar. Interessant ist, dass der Rubel gegenüber dem US-Dollar um fast den gleichen Satz gefallen ist wie der Ölpreis (110 auf 58 Dollar) seit Jahresmitte. Das ist besonders wichtig für den russischen Staatshaushalt, denn die Einnahmen pro Fass Öl in Rubel berechnet bleiben damit fast gleich. Der größte Teil der Transaktionen russischer Ölunternehmen und der Ausgaben des Staates werden in Rubel abgewickelt. Der Kursverfall trifft hauptsächlich die Preise für Importware und damit die Konsumenten aus der Mittelschicht und die Superreichen. Vermutlich wird diese spekulative Attacke auf Russlands Währung nicht zum Dauerzustand werden. Im schlimmsten Fall habe man mit zwei harten Jahren zu rechnen , sagte Präsident Wladimir Putin bei seiner Jahrespressekonferenz am Donnerstag. Bis dahin werde man sich umorientiert haben. Die Weltwirtschaft werde weiter wachsen, wenn nicht in Europa, dann in Asien. Und Energie werde immer gebraucht. Davon hat Russland genug.

** Aus: junge Welt, Samstag, 20. Dezember 2014


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