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Stoppzeichen auf NATO-Schleichweg

Schwedische Bürgerinitiative gegen die "Tyrannei der kleinen Schritte"

Von Gregor Putensen *

Anfang Dezember meldete sich in Schweden eine Gruppe von 44 Persönlichkeiten mit einer ungewöhnlichen Initiative zu Wort. Sie wandten sich gegen den »schleichenden Anschluss« ihres Landes an die NATO.

Namhafte Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und ehemalige Reichstagsabgeordnete -- auch aus bürgerlichen Parteien -- wollten ihre Beunruhigung nicht länger für sich behalten. Ihrer Auffassung nach vollzieht sich ein »schleichender Anschluss« Schwedens an die NATO. Hinter dem Rücken des Volkes werde von verantwortlichen Politikern eine »Tyrannei der kleinen Schritte« betrieben, die den Verlust der staatlichen Souveränität Schwedens befürchten lasse. Schon jetzt forderten NATO-Befürworter ohne Scheu unter Verweis auf die ihrer Meinung nach ohnehin bestehende »90-prozentige informelle Mitgliedschaft« einen formellen Beitritt zum Militärpakt.

Die NATO-Eiferer sehen sich allerdings mit einer nach wie vor deutlichen Mehrheit von Gegnern einer schwedischen Mitgliedschaft konfrontiert. Das Göteborger Institut für Gesellschafts-, Meinungs- und Medienforschung ermittelte Mitte November 44 Prozent Gegner und 19 Prozent Befürworter. Demnach ist der Anteil von Unentschlossenen allerdings groß.

Die Initiative der 44 Persönlichkeiten begnügt sich nicht mit einer Unterschriftensammlung unter den NATO-Gegnern. Sie lädt auch die Befürworter zu einer Teilnahme an ihrem Projekt ein. Ihre Idee besteht darin, eine nichtstaatliche Bürgerkommission einzurichten. Deren Aufgabe wäre es, den Prozess des »schleichenden NATO-Anschlusses und dessen Konsequenzen für Schwedens Sicherheit und Demokratie offen zu legen«. Im festen Glauben an »die Klugheit des Volkes« soll die Kommission offen sein für alle Interessenten, die ihr mit Rat und Recherche wie auch mit organisatorischer und wissenschaftlicher Hilfe zur Seite stehen wollen.

Die Aufgabe dürfte nicht leicht sein. Andererseits verfügt eine solche Kommission über beachtliches personelles und wissenschaftsorganisatorisches Hinterland. Zu ihren Initiatoren gehören immerhin die ehemalige Abrüstungsministerin Schwedens, die Sozialdemokratin Maj-Britt Theorin, und der erfahrene Friedensforscher Professor Håkan Wiberg. Mit institutioneller Unterstützung durch die Transnationale Stiftung für Friedens- und Zukunftsforschung in Lund (Prof. Jan Öberg) und das Nordische Nachrichtennetzwerk kritischer Journalisten, vertreten durch Al Burke, kann die Kommission ebenfalls rechnen.

Unter Verweis auf das Versagen gewählter Politiker und etablierter Medien wie auch auf die Pflichtvergessenheit der meisten ihrer Journalisten legt die Initiative in ihrem Internet-Debattenforum (www.natosmyg.se) einen umfangreichen Katalog der zu untersuchenden Fragen vor. Wer hat die bisherigen so genannten kleinen und eventuell größeren Schritte mit welchen Motiven, vor allem aber mit welcher Berechtigung vollzogen? Auf welche direkte oder indirekte Weise übt die NATO Einfluss auf Schwedens Militär und die Öffentlichkeit aus? Wie stellt sich Schweden zum Kernwaffenpotenzial der NATO und zur Erstanwendungsoption? Das sind nur drei der aufgeführten Fragen.

Ein erfolgreicher Versuch, die Außen- und Sicherheitspolitik diskreter Regierungsentscheidungen zu überwinden, könnte zweifellos auch außerhalb Schwedens Schule machen.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Dezember 2008


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