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"Es ist Zeit, die Ängste in Angriff zu nehmen"

Von Sara Winter *

In Deutschland reagierten bekannte AutorInnen mit einem Manifest auf Thilo Sarrazins islamophobes Buch «Deutschland schafft sich ab». In der Schweiz wird die Islamdebatte von den Rechten dominiert – auch mit gezielten Angriffen auf die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus.

«Was geht im Kopf eines Menschen vor, der wieder alte, überkommene Rassentheorien auf den Tisch legt in einem Land, wo das noch viel grotesker ist als in anderen Ländern?», fragt mich der Berliner Autor Deniz Utlu und meint den deutschen Skandalautor Thilo Sarrazin. «Und was geht in den Köpfen all derer vor, die ihm zujubeln? Natürlich hat das was mit Ängsten zu tun – und darüber hätte man schon viel früher reden müssen!»

Utlu ist sauer. Der 27-Jährige ist einer von dreissig AutorInnen, die im Sammelband «Manifest der Vielen», der im März erschienen ist, kritisch zur Islamdebatte Stellung beziehen. Herausgeberin ist die Frankfurter Journalistin Hilal Sezgin. Sie stellte eine lesenswerte und vielfältige Mischung von Texten zusammen, die ein breites Spektrum an AutorInnen, Meinungen und Sichtweisen bietet – das Buch heisst denn auch «Manifest der Vielen – Deutschland erfindet sich neu». Die AutorInnen eint, dass sie sich von der herrschenden Debatte um den Islam in Westeuropa betroffen fühlen. Viel mehr haben sie nicht gemeinsam.

Utlu hat drei literarische Miniaturen zum Manifest beigetragen. Damit hebt er sich von den anderen AutorInnen ab, von denen die meisten politische Kommentare zur Debatte geschrieben haben. Utlu ist davon überzeugt, dass die derzeitige Debatte einen Anstieg rassistischer Übergriffe geradezu provoziert. Betroffen sind hiervon vor allem jene, die sich seit dem 11. September 2001 in zunehmendem Masse kollektiv als MuslimInnen stigmatisiert fühlen. «Es geht nicht mehr darum, ob du an Gott glaubst oder nicht», so Utlu, «es geht darum, dass du Wurzeln hast, die in einen Kulturkreis hineinreichen, der mit dem Islam assoziiert wird.»

Desaströse Berichterstattung

Immer wieder höre man vonseiten der PolitikerInnen, man müsse endlich die Ängste der Mehrheitsgesellschaft ernst nehmen. «Bevor sich diese Ängste auch strukturell in der Politik niederschlagen und ich mich als Teil einer Minderheit auch noch vor dem Staat fürchten muss», so Utlu, «ist es Zeit, die Ängste in Angriff zu nehmen.» Die Medien hätten sich bisher allerdings vor allem als Panikmacher betätigt. Als Desaster bezeichnet Utlu die Art und Weise, wie sie die Debatte um Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» aufgegriffen hätten. Zwar seien Massenmedien wie «Bild» und «Spiegel» nicht die Schöpfer des rassistischen Gedankenguts, das prominent immer wieder reproduziert werde – aber sie bedienten geschickt, was bereits vorhanden sei.

Und dies betrifft nicht nur die Sarrazin-Debatte in Deutschland. Die Minarett- und die Ausschaffungsinitiativen sind beste Beispiele dafür, dass auch hierzulande politisch und medial in dieselbe Kerbe gehauen wird. «Kaum ein europäischer Staatsführer hat auch nur mit einem Wort die Ängste jener thematisiert, die in einem europäischen Land soeben zu Bürgern zweiter Klasse gestempelt worden sind», schreibt der Islamwissenschaftler Navid Kermani in seinem «Manifest»-Beitrag. Er wehrt sich gegen die Politik der bürgerlichen Parteien, den RechtspopulistInnen in defensivem, vorauseilendem Gehorsam entgegenzukommen und das «Fremde per Gesetz unsichtbar zu machen».

Immer dieselben Fragen

Manche, die sich als BürgerInnen zweiter Klasse abgestempelt fühlen, meiden heute bewusst die Öffentlichkeit. «Früher haben sich die Leute aus der Türkei mit ihren Freunden gern draussen getroffen», sagt die Basler Frauenrätin Zeynep Yerdelen im Gespräch. Nun beobachtet Yerdelen, dass die Leute dazu tendieren, sich nur noch in privaten Räumen zu treffen. Ihr sei aufgefallen, dass PassantInnen aufhorchten, wenn sich die Leute draussen auf Türkisch unterhielten. Und dass immer dieselben Fragen kamen: warum sie kein Kopftuch tragen und wie sie denn zum Islamismus stehen würden. «Offenbar haben sie die Nase voll, stellvertretend für alle Probleme der Gesellschaft herzuhalten.»

Ihr siebzehnjähriger Sohn definiere sich seit etwa zwei Jahren als Türke, erzählt Yerdelen nachdenklich. «Er sagte zu mir: Anne – das heisst «Mama» auf Türkisch –, ich bin und bleibe immer der Türke.» Die 53-Jährige ist sich nicht sicher, ob diese Identität frei gewählt oder durch Zuschreibungen von aussen entstanden ist. Ersteres wäre in Ordnung, das Zweite allerdings schade und gefährlich. Starre Kategorien in Bezug auf nationale Herkunft findet sie überholt und absurd: Er sei das Kind eines deutschen Vaters und einer Mutter mit türkischer Herkunft. Die Realität sei eben komplex, sagt Yerdelen.

«Ich will mich nicht nackt machen und mit hiesigen Federn schmücken», sagt Yerdelen, die seit 22 Jahren in der Schweiz lebt, und vermutet, das sei das weitverbreitete Verständnis von Integration in der Schweiz. «Für mich ist Integration, dass ich an einem Ort leben und arbeiten kann, meine Meinung frei sagen kann und meine Privatsphäre mir überlassen wird», hält sie dagegen. Das Beherrschen der hiesigen Sprache sowie das Wahl- und Stimmrecht seien hierbei eine essenzielle Voraussetzung dafür, dass alle Teile der Gesellschaft sich gleichermassen für das Miteinander interessieren und daran beteiligten.

Stichwort Begegnung

«Integration ist sich gegenseitig riechen, schmecken, anfassen, umarmen!», sagt Kadir Özkan, Rapper der Basler Hip-Hop-Gruppe Makale. Er ist mit seiner Band seit gut zehn Jahren in der ganzen Schweiz unterwegs und wird häufig auf Integrationsveranstaltungen eingeladen. Denn Makale rappen auf Türkisch. Viele ihrer Fans seien Schweizer Kids. «Uns hat noch nie jemand gesagt: Ey, die rappen ja auf Türkisch, wie blöd.» Aber nach dem Islam fragten ihn immer mehr Leute. Dabei sei Religion doch Privatsache.

Der 27-Jährige fühlt sich, wie die AutorInnen des Manifests, zu Unrecht mit allen MuslimInnen über einen Kamm geschoren. Die Medien bedienten seiner Meinung nach lediglich die Stereotypen: «Ich fühle mich von diesem deutschen Konvertiten Pierre Vogel nicht repräsentiert, der kann doch nicht einfach für uns alle sprechen!» Tariq Ramadan, Europas wohl einflussreichster islamischer Reformer, hingegen gefällt Özkan. Denn Ramadan differenziere. «Der hat wenigstens was im Kopf – nicht wie diese Politiker, die sich seit zwei Jahren mit dem Islam beschäftigen und meinen, sie hätten den Durchblick!»

Rechtsruck der Bürgerlichen

Auch der Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), Georg Kreis, sieht in den Stereotypisierungen eine grosse Gefahr. In einem Beitrag zur letztjährigen Juni-Ausgabe des «Tangram», des Bulletins der EKR, zum Thema «Muslimfeindlichkeit», vergleicht Kreis den Antisemitismus der dreissiger Jahre mit der Islamophobie von heute. Es liessen sich zahlreiche Parallelen finden. So würden beide Religionen als Gefahr dargestellt, die die westliche Gesellschaft durch Infiltration und eine höhere Reproduktionsrate zu zersetzen drohten. Kreis merkt ebenfalls an, dass viele SchweizerInnen heute überhaupt nicht mehr wüssten, «in welchem Masse der Antisemitismus in der Schweiz der 1930er-Jahre grassiert hat». SVP-Kreise würden die Erinnerung an diesen Teil der Schweizer Geschichte sogar als Beleidigung empfinden. Ende 2009 forderte die SVP unter anderem deshalb Kreis’ Amtsenthebung als EKR-Präsident.

Wie Islamwissenschaftler Navid Kermani stellt auch Kreis ein Entgegenkommen der bürgerlichen Parteien gegenüber rechtspopulistischen Forderungen fest. Mit derselben Politik habe man damals bereits den radikalen Antisemitismus der Rechten eindämmen wollen – mit bescheidenen Ergebnissen. Heute wie damals falle in diesem Zusammenhang stetig der Satz: «Man wird doch wohl noch was sagen dürfen!» Beispielhaft für das Entgegenkommen der bürgerlichen Parteien gegenüber der Rechten kann eine Motion des FDP-Nationalrats Christian Wasserfallen gesehen werden. Dieser forderte 2009 die Revision und Reorganisation der EKR. «Neu müssen auch Erscheinungen wie Links- und Rechtsextremismus sowie religiöser Extremismus gleichzeitig und gleichwertig betrachtet werden», heisst es in dem Vorstoss. Wer mit dem Hinweis auf religiösen Extremismus gemeint ist, kann sich im Rahmen der aktuellen Debatte jeder denken. Der Bundesrat lehnte den Vorstoss Wasserfallens im Februar letzten Jahres ab. Die Ängste derjenigen, die sich in zunehmendem Masse ausgeschlossen und diskreditiert fühlen, bleiben bestehen.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 21. April 2011


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